Montag, 13. Januar 2020

Schattentanz



Glauben Sie mir, wenn Sie monatelang nach oben auf eine weiße Fläche schauen, fangen Sie an Dinge zu sehen, die unmöglich existieren können.



Am angenehmsten waren noch die Träume, in denen ich an der Zimmerdecke des Krankenzimmers auf der Intensivstation Fresken aus eigenen Bildern gesehen habe. Landschaftsaquarelle, Comicfiguren, Menschen, Formen, Farben, Phantasiegestalten, abstrakte Strukturen und Muster. Alles war in Bewegung, floss ineinander, Asterix und Obelix spazierten durch ein Kornfeld Vincent Van Goghs, ein wellenartiges Fließen durchströmte das riesige Gemälde, neue Figuren und Gesichter entstanden, Fabelwesen, Fluggeräte, Saurier, Menschen aus dem wirklichen Leben. Indianer und Cowboys auf Pferden, Clowns, Harlekins und lebendige Masken.


Es waren schöne Bilder und Szenen, besser als jeder Film. Besonders stolz war ich darauf, das alles erschaffen zu haben, obwohl ich komplett gelähmt in einem Bett lag. Es waren letztlich nichts anderes als oneiroide Träume. Das sind Träume, die so realistisch sind, dass man sie von der Wirklichkeit nicht trennen kann. Selbst Monate und Jahre nach Ausbruch des Guillain-Barré-Syndroms berichten Patienten noch davon. Wenn man sie fragt, was ihre intensivsten Erinnerungen an die Intensivstation sind, sagen sie: Die Träume.

Ich finde es faszinierend, was der menschliche Geist alles hervorbringen kann. Die größte und schrecklichste Angst von allen ist sicher der Horror Vacui, die Angst vor dem leeren Raum. Das vollkommen unbekannte, unfassbare und nicht einmal erahnbare. Also füllen wir diesen reißenden Strudel aus absolutem Nichts mit unseren Bildern, Klängen und Gefühlen. Die menschliche Existenz ist eine Abfolge ununterbrochenen Erschaffens. Genau genommen tut der Mensch nichts anderes. Er erschafft. Er schöpft. Mit jedem Blick, jedem Wort, jeder Bewegung und jedem Gedanken erweitern wir das große Mosaik des Universums mit neuen bunten Steinchen.

Dass dabei auch Schreckensbilder entstehen gehört wohl zur menschlichen Natur. Das ist vielleicht gut so, denn nur so kann der Mensch das Schöne schätzen. Zumindest bis zur vollkommenen Harmonie von Ying und Yang sind wir in diesem dualistischen Universum gefangen. Aber nur scheinbar. Der Geist des Menschen existiert außerhalb davon. Davon wäre ich zumindest gerne überzeugt. Die tagtägliche Wirklichkeit bestand aber lange Zeit aus weniger schöngeistigen Elementen. Lähmung. Organversagen. Bauchoperation. Ängste. Thrombose. Hoffnungslosigkeit. Rollstuhl. Krücken. Albträume.

Da wir gerade beim Thema Albträume sind...

Habe ich schon einmal über die riesigen skelettähnlichen Wesen geschrieben, die sich in meinem Zimmer in den Schatten und hinter den Türen versteckten? Sie waren immer da, bizarre Kreaturen aus dürren Knochen, die sich wie in Zeitlupe durch die Dunkelheit auf mich zu bewegten und die ich nur aus den Augenwinkeln erahnen konnte. Jedesmal, wenn ich meinen Kopf in ihre Richtung drehte, waren sie verschwunden, noch bevor ich meinen Blick auf sie richten konnte. Wenn ich wieder wegschaute, waren sie wieder da. Langsam kamen sie im trüben Licht der Nacht auf mich zu, streckten ihre spindeldürren kalkweißen Krallen nach mir aus und grinsten mich an. Sie grinsten, weil sie sich schon auf das freuten, was sie mit meinem Körper und meinem Fleisch machen würden, wenn sie mich erst erreicht hatten.

Langsam, mit irgendwie anmutigen Bewegungen, kamen sie auf mich zu, während ich zitterte wie ein Erfrierender und schreien wollte, aber nicht konnte, weil ich eine Sauerstoffmaske im Gesicht hatte.

Diese Wesen schälten sich aus den Schatten, lächelten mich an, streckten sich nach mir und ergötzten sich an meiner Angst. Und sie warteten. Langsam kamen sie auf mich zu. Es sah aus, als würden sie einen Totentanz in Zeitlupe vollführen. Manchmal verneigten sie sich vor mir. Riesige Insektenskelette, die sich in Geduld übten, bevor sie ihre Beute machten.

Woher diese Wesen kamen, wusste ich nicht, aber mir war klar, dass sie vorhatten, mich in ihre Welt mitzunehmen. 

Jetzt haben Sie eine ungefähre Ahnung davon, wie es sich anfühlt, von Kopf bis Fuß gelähmt zu sein. Aber ich hoffe für Sie, dass Sie niemals wissen werden, wie es ist, sich nicht sicher darüber zu sein, ob sie das wirklich erleben oder ob es nur ein Traum ist. Heute, fast geheilt, mit optimistischem Blick in eine Zukunft voller neuer Möglichkeiten, sehe ich keine Knochen mehr in den Schatten.

Aber ich weiß, dass sie da sind. Irgendwo hinter meinen Augenwinkeln. Und hinter den Ihren. Manchmal, wenn es ganz still ist und das Blut aufgehört hat im Kopf zu summen, kann man sie hören. Versuchen Sie es. Probieren Sie es aus. Konzentrieren Sie sich auf das, was sich hinter Ihren Augenwinkeln auf Sie zubewegt.

Sie zischen. Shhhh...Zsssss. Ich weiß nicht, warum sie das tun. Vielleicht haben sie Hunger. Nein, nicht vielleicht. Sie haben definitiv Hunger. Glauben Sie mir.

Und jetzt nehmen Sie Ihre Krücken und wuchten Sie sich hoch. Aber fallen Sie ja nicht hin. Das ist keine gute Idee. Wissen Sie, warum?

Shhhh...

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Hier ist Ihr Platz! Ich freue mich über Kommentare, Anregungen und Kontakte!