Samstag, 27. Juni 2015

Krankheit und Heilung - Meine GBS-Chronik

Heute gebe ich wieder einmal einen Überblick über meinen Gesundheitszustand und meine Fortschritte, seit ich im Juni 2013 am Guillain-Barré-Syndrom erkrankte. Dieser Beitrag soll dazu dienen, allen Betroffenen, die selber unter GBS leiden, zu zeigen, was sich nach der sogenannten Plateau-Phase, also dem akuten Anfangsstadium der Krankheit,innerhalb von zwei Jahren alles tun kann.
Ich werde keine medizinischen Befunde zitieren und auch nicht zu sehr ins Detail gehen oder mich in Kleinigkeiten verzetteln, sondern einen grobe Schilderung der wichtigsten Momente geben.
Ich habe schon einmal einen Blogartikel mit einer Zusammenfassung der Ereignisse von Juni 2013 bis November 2014 veröffentlicht. Das Wichtigste daraus gebe ich hier noch einmal wieder, danach dann meinen Weg seit Januar 2015.
Was erwartet einen Menschen, der die Diagnose Guillain-Barré-Syndrom gestellt bekommt? Was steht Ihnen bevor, wenn Sie aufwachen und vom Kopf bis in die Zehenspitzen komplett gelähmt sind?
Es muss nicht jedem Menschen mit GBS genau so ergehen wie mir, aber meine Geschichte ist durchaus exemplarisch. Es besteht also für jeden, der an GBS leidet, dieselbe Hoffnung und Wahrscheinlichkeit, wieder geheilt zu werden.
Ganz geheilt bin ich jetzt, 24 Monate nach dem Ausbruch meines Krieges, noch immer nicht, aber auf dem besten Weg dorthin.
Der Weg ist ja da, wie Sie vielleicht aus meinen anderen Blogartikeln wissen. Man muss ihn nur sehen, bevor man ihn beschreiten kann. Meine Verzweiflung hat sich zuerst in Hoffnung verwandelt, dann in Fortschritte und Zuversicht, in Kraft, in Kampfgeist und in wiedererwachende Lebensfreude.
Und in eigene Schritte.
Eigene Schritte, Leute!
Hier sind sie:

Juni - August 2013: 

• Zusammenbruch zu Hause. Ich falle vor dem Bett hin und kann nicht mehr aufstehen.
• Einige Tage bleibe ich zu Hause. Ich weigere mich, ins Krankenhaus eingeliefert zu werden. Angst.
• Einlieferung ins Krankenhaus Vöcklabruck/Oberösterreich (www.lkh-voecklabruck.at).
• Bin bewusstlos. Keine Erinnerung.
• Herzstillstand
• Wiederbelebung
• Intensivstation.
• Intensivstation (Stroke Unit). Bewusstlos.
• Nierenversagen.
• Künstliche Beatmung.
• Dialyse.
• Massive Darmblutungen.
• Darmsepsis.
• Notoperation. 2 Meter Dünndarm werden entfernt.
• Transversaler Stoma wird angelegt.
• Diagnose Guillain-Barré-Syndrom. 
• Vom Hals abwärts bis zu den Zehenspitzen vollkommen gelähmt. 
• Immunglobuline (intravenös).
• Ich werde von Krankenschwestern gefüttert.
• Ich glaube, ich bin kein Mensch mehr.
• Schöne Gespräche mit Seelsorgerin. Schöpfe wieder Hoffnung.
• Ergo- und Physiotherapie.
• Minimale Bewegungen der Arme und Schultern.
• Aufrecht stehen im Stryker.
• Immer durstig. Darf fast nichts trinken. Träume vom Wassertrinken.
• Angst. Oneiroide Albträume der schlimmsten Sorte.
• Tränen, Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit.
• Muskelzucken, besonders vor dem Einschlafen.


August - Dezember 2013:

• Verlegung auf Station für Neurologie.
• Ein Arzt sagt mir, dass ich vielleicht den Rest meines Lebens gelähmt bleibe.
• Weiterhin Therapien, Tabletten, Infusionen.
• Hüftschmerzen bei der Physiotherapie und beim Sitzen im Bett.
• Ängste. Psychotherapie.  
• Immunglobuline (intravenös).
• Katheterwechsel. Panik. Antibiotika gegen Harnwegsinfekt.
• Noch immer komplett gelähmt mit der Fähigkeit, die Schultern ein bisschen zu bewegen. • Ich werde von Krankenschwestern gefüttert.
• Physiotherapie in einem Pflegesessel.
• Katheterspülungen.
• Motomed-Training, um die Arme zu stärken.
• Elektrische Beinschienen, um die Muskeln und Gelenke durchzubewegen.
• Aufbauende Gespräche mit Seelsorgerin.
• Weitere langsame Fortschritte.
• Kann linken Zeigefinger minimal bewegen. 
• Spritzen zur Thrombosevorbeugung. 
• Therapien schlagen an, kann meine Arme bewegen und mich im Bett ein wenig zurechtpositionieren.
• Mit den Ellenbogen betätige ich die Steuerung des Krankenbettes. Manchmal verkeile ich mich so, dass ich mich nicht mehr aufsetzen kann. Kollege im Zimmer ruft Krankenschwester.
• Kann auf dem iPad tippen. Drei Sätze, dann wird es zu anstrengend.
• Mehr Fortschritte.
• Entlassung aus dem Krankenhaus.


Dezember 2013 - April 2014:

• Verlegung ins Neurologische Therapiezentrum Gmundnerberg (www.ntgb.at).
• Herrlicher Ausblick auf den Traunstein. Kann es schon am zweiten Tag nicht mehr hören.
• Sehr viel Therapie (bis zu viermal täglich je eine Stunde). Das Training ist oft anstrengend, aber selbst ein Pessimist wie ich sieht die Fortschritte.
• Besserung.
• Hüftschmerzen bei den Therapien. Fühlt sich an, als würde man mir einen Meissel in die Knochen schlagen.
• Katheterspülungen.
• Physiotherapie. Querbettsitzen zum Training der Rumpfstabilität. Seitliches Hinlegen und wieder hochstemmen. Sehr anstrengend, geht aber. Nach Plastikhütchen greifen und aufeinanderstapeln. Therapeutin Christine hält sie hoch und weit weg.
• Langsame Fortschritte
• Querbettsitzen auf Therapieliege. Übungen wie gehabt.
• Zunehmende Kraft. 
• 2-Euromünze in Cola-Automat geworfen. I Am The Greatest!
• Aktivierende Pflege in der Früh. Ich werde gewaschen und somit aktiviert. Allerdings fühle ich mich danach genauso inaktiv wie vorher. 
• ADL (Aufgaben des Lebens). Selber Oberkörper waschen im Bett. 
• Ergotherapie im Bett. Frühstücken. Nach kleinen Brotstückchen greifen.
• Kann nicht greifen, lerne aber wieder selber zu essen und die Zähne zu putzen.
• Mittag- und Abendessen werden mir eingegeben. Füttern sagt man nicht. Dann selber essen mit Gabel und einem Sicherheitsring am Teller. Putenfleisch. Kartoffeln. Spinat.
• Anpassung Rollstuhl. Werde vermessen. Mein rollender Sarg, denke ich. Maßgeschneidert.
• Sitzen im Aufenthaltsraum. Essen zuerst noch mühsam. Herrlicher Ausblick! Herrlich! Ehrlich!
• Elektrotherapie der Arme und Beine, kann Arme gut bewegen, Hände noch fast gar nicht.
• Katheterwechsel.
• Motomed für die Arme. 
• Übungen für die Rumpfstabilität,  
• Ergotherapie im Bett. Zwei Therapeutinnen kommen und bewegen meine Beine durch. Schmerzen. Extrem unangenehm, aber ebenso extrem hilfreich.
• Tippen auf iPad und iPhone mit linkem Zeigefinger. 
• Spritzen zur Thrombosevorbeugung. 
• Angst, aber nicht mehr so große. Kaum Zuversicht. Immer Traurig.
• Weihnachten. Silvester. Interessiert mich nicht.
• Aufstehübungen mit Gurt an einem Stehtisch. Funktioniert gut. Hüfte tut weh, aber ich freue mich über die ungewohnte Perspektive. Zum ersten Mal sehe ich meine Therapeutinnen in Augenhöhe.
• Zirkumzision in Vöcklabruck. Schwitze Blut und Wasser. Extremer Stress, trotz sieben Anästhesiespritzen. Schnipp-schnapp, Vorhaut ab! Endlich bin ich ein richtiger Mann! Yeaaah!
• Back on Gmundnerberg. Was ein Wunderwerk!
• Wieder Physiotherapie. Am Seilzug. Gewichte hochziehen. Gefällt mir. Fühle mich stark.
• Sekundärnaht zur Zirkumzision. Bei Therapie aufgeplatzt. Zehn Tage Krankenhaus.
• Keine Spritzen zur Thrombosevorbeugung mehr. 
• Dickes rechtes Bein. 
• Tiefenvenenthrombose im Becken.
• Gefahr einer Lungenembolie.
• Wenn das Blutgerinnsel meine Lunge erreicht, heißt es "Adios, muchachas!"
• Extreme Todesangst. Damit meine ich nicht "Zu Hüüülfe! Ich stööörbe!", sondern das Gefühl, der grimme Schnitter steht mit hoch erobener Sense hinter mir. Ich hatte in meinem Leben noch nie eine solche Angst und will sie auch nie wieder haben. 
• Don' t Fear The Reaper. 
• Hohes Fieber, Bettruhe eine Woche lang.
• Zurück in den Rollstuhl.
• Wieder Anti-Thrombosespritzen. 
• Katheterspülungen.
• Wenig Lebensfreude.
• Starkes Blutverdünnungsmedikament.
• Teilexzision rechte Zehe (Zehennagel wird gezogen).
• Antrag auf Reha-Verlängerung abgelehnt.
• Entlassung. Mount Gmunden is überwunden.


April - Dezember 2014:

• Verlegung nach Altenhof am Hausruck (www.assista.org).
• Angst gehabt, aber gleich wohl gefühlt. 
• Viele liebe und lebensfrohe Menschen.  
• Katheterangst. Zwickt, staut, drückt. Ich hasse ihn. ICH HASSE IHN!
• Mineralwasserflasche anzuheben versucht. Geht mit zwei Händen, aber nur kurz und nur wenige Zentimeter über den Tisch.
• Ergotherapie mit Erbsen. Nicht zählen, sondern Münzen aus Eimer rausfischen. 
• Keilkissen gegen Hüftschmerzen, schmerzfrei innerhalb einer Woche.
• Ausflug im E-Rolli mit Pfleger Christoph und Mitbewohner Rainer in den Wald bei Altenhof. Super Tag, trotz Katheter.
• Cola-Flasche aufgeschraubt. Fühle mich stärker als Popeye. Ohne Spinat.
• Selber gegessen. Suppe problemlos. Hauptgericht wird mir geschnitten.
• Physiotherapie: Cola-Flaschen heben.
• Aufstehübung im Stehlifter.
• Aufstehen am Barren.
• Handschienen zum Training des Abduktors. Daumenmuskel.
• Neuro Move. Elektrische Impulse für die Muskelaktivierung der Hände.
• Daumenballen wird beweglicher.
• Beinmuskulatur wird stärker.
• Angstanfälle.
• Katheterspülungen.
• Elektrischer Rollstuhl. Fahre durch die Gegend. Über die unendlichen Highways von Altenhof. Ich spüre den Fahrtwind in meinem Gesicht und rieche den Duft der Freiheit. Nein, Moment...Der Stoma ist aufgegangen.
• Harnwegsinfekt.  
• Latente Gefahr einer Nierenbeckenentzündung mit anschließendem Begräbnis. Aber ich bin cooler geworden und mache mir wenig draus. Irgendwann stirbt man sowieso.
• Aufstehen aus dem Rollstuhl.
• Motorik der Hände wird besser. Bekomme die Daumenspitzen aber noch nicht zu den Fingerspitzen.
• Aufstehen am Barren.
• Tippen mit beiden Zeigefingern.
• Bloggen.
• Freihändiges Stehen am Rollator, allerdings sehr wacklig. Ich balanciere mit den Armen und sehe dabei echt cool aus. Wie ein Surfer. Rede ich mir ein. 
• Drei eigene Schritte vorwärts. In diesem Moment ändert sich alles. Ich kann wieder gehen. 
• I' m walking. Yes, indeed! 


Januar - Juni 2015:

• Aufstehen aus dem Rollstuhl an zwei Stützen im Bad.
• Körperlich große Fortschritte. Mehr Kraft. Mehr Sicherheit. 
• Glaube an Heilung wird trotzdem immer schwächer.
• Immer deprimierter. Glaube nicht mehr, jemals wieder gesund zu werden.
• Angst.
• Wöchentliche Gesprächstherapie. Neue Hoffnung.

• Weitere Aufstehübungen im Badezimmer mit zwei langen Querstützen an der Wand.
Transferübungen auf die Toilette. Ich stütze mich an den beiden Stangen ab, stehe aus dem E-Rolli auf drehe mich mit kleinen Schritten um 180 Grad und setze mich auf die Toilette. Nur zur Übung. Alles andere erledigen Stoma und Katheter. Anfangs fällt es mir sehr schwer, aber mit jedem Mal wird es leichter.

• Gehraining mit Laufkatze. Ein Holzbarren, der sich mit mir mitbewegt. Es fällt mir nicht schwer, eine Distanz von etwa fünf Metern dreimal hintereinander zurückzulegen. Ich bin glücklich. Ich kann zwar noch nicht freihändig gehen, aber ich kann wieder gehen!

• Gößtes Problem: Meine Füße. Ich kann die Vorfüße (Fußrücken) nicht anheben und habe dadurch keinen Halt. Ich kippe nach hinten weg. Das macht das freihändige Stehen zum Balanceakt und das freihändige Gehen unmöglich. Noch! Ich bin wesentlich zuversichtlicher geworden. 
• Here I Go Again On My Own.

• Ich mache noch immer wöchentlich die klientenzentrierte Gesprächstherapie nach Carl Rogers. Dabei kann ich mir bei meiner Therapeutin alles von der Seele reden und bin überrascht über meine seelischen Fortschritte und was ich alles von mir preisgebe.

• Aufstehversuche am Schreibtisch in meinem Zimmer. Ohne Stützstangen an der Wand. Meine Idee. Mein Physiotherapeut Wolfgang unterstützt mich. Ich versuche, mich aus dem E-Rolli hochzustemmen, die Handflächen auf die Tischplatte gelegt Vergeblich. Zu schwach und zu schwer. Mein Therapeut schiebt ein bisschen an (raten Sie mal, wo. Ja, genau dort) und stabilisiert meine Füße mit den seinen. Es klappt!
Ich stehe doch tatsächlich ohne Hilfsgeräte aus dem Rollstuhl auf!

• Eine Woche später: Wolfgang sagt, ich solle die Sitzfläche meines E-Rolli ein Stück schräg stellen. Aber nur ein bisschen. Ich mache es, und stehe unter großer Anstrengung, schwitzend und keuchend, aber problemlos aus dem Rollstuhl auf. Alleine. ohne Hilfe. Ganz ohne Hilfe.

• Ergotherapie: Die Motorik meiner Finger wird besser. ich staple kleine Holzwürfel mit Daumen und Zeigefinger im "Pinzettengriff" aufeinander. Ich wickle Gummiringe um die Zinken einer Gabel. Mit einer Grillzange nehme ich Hirsebällchen und lege sie in eine kleine Plastikdose. Mit meinem Therapeuten Johannes mache ich eine Salamipizza mit Mozzarella. Ich kann es selbst nicht glauben, was ich schon alles kann. Na ja, essen konnte ich schon immer gut.

• Meine Ängste und Depressionen sind fast vollständig weg. Ich bin motivierter und empfinde wieder mehr Lebensfreude. Ich schmiede Pläne und schreibe viel. Leider esse ich auch viel und trinke viel Cola. Seit April 2014 habe ich 15 Kilo zugenommen. Keiner hier in Altenhof nennt mich fett, aber das bin ich. Das erschwert natürlich mein Training. Ich esse aber keine Milchbrötchen mehr. Ich arbeite an meinem Gewicht. Ergebnis ungewiss.

• Mein Humor war nie tot, aber jetzt wacht er wieder richtig auf. Allmählich. Ist noch ein bisschen müde und hat schlecht geträumt. Aber er ist mittlerweile stärker als meine Ängste. Ich erziele große persönliche Fortschritte bei der Gesprächstherapie. Carl Rogers Rules! Und meine Therapeutin Betina!

Also, liebe Leidenskollegen mit Guillain-Barré-Syndrom. So kann es gehen. Aus dem Zustand der Tetraparese, der Lähmung aller vier Gliedmaßen und der vollständigen Unbeweglichkeit meines Körpers vom Hals bis zu den Zehenspitzen, bis hin zum Pizzabäcker und Laufkatzengeher.
Von der Tetraparese zur Pizza Caprese...
Vom Angstsklaven zum Mutmenschen.
Das schaffen Sie auch!
Und da Sie dies hier lesen oder vorgelesen bekommen, vergessen Sie eines nicht: Sie haben den schlimmsten Teil des Guillain-Barré-Syndroms überstanden.
Sie leben!
Das ist doch was.
Also verzweifeln Sie nicht und geben Sie niemals auf.


GBS IS OVER!
IF YOU WANT IT!


Samstag, 20. Juni 2015

Männliche Gefühle

Heute möchte ich wieder einmal allen Menschen, die auch am Guillain-Barré-Syndrom leiden, ein paar Tipps geben, wie sie sich ihren Alltag erträglicher machen und das Leben erleichtern können. Das ist nicht leicht, und in diesem Blogartikel geht es hauptsächlich um das Thema Überwindung.
Selbstüberwindung, um genau zu sein. Ich habe lange gebraucht, gewisse Formen der Scham und des Zweifels abzulegen, aber letztlich habe ich es dann doch getan. Wenn der Leidensdruck groß genug ist, bittet man um Dinge, die man davor nie im Leben in Erwägung gezogen hätte.
Ich fange am besten gleich mit der schwierigsten Form der Selbstüberwindung an. Nein, es sind nicht der innere Schweinehund, das Engelchen und das Teufelchen oder Jimmy, die Grille, die mir oft ins Ohr geflüstert haben, ich solle doch lieber den Mund halten und die Sache durchstehen, bis sie vorbei ist.
Nein, es war die vielleicht urälteste Angst meines Volkes. Ich spreche vom Volk der Herren der Schöpfung, das sich selbst gerne als Männer bezeichnet:
Die Angst, Gefühle zu zeigen.
Damit meine ich nicht, einer feschen Krankenschwester nachzupfeifen. Das kann ich sowieso nicht. Nicht, weil ich nicht pfeifen könnte, sondern, weil es keine feschen Krankenschwestern gibt.
Sie haben richtig gelesen. In den zwei Jahren meiner Krankheit ist mir nicht eine einzige fesche Krankenschwester begegnet. Nicht eine, die mir gefallen hätte. Weder in Vöcklabruck, noch am Gmundnerberg und schon gar nicht hier in Altenhof. Einerseits ist das gut, weil es verhindert, dass einem die Krankenschwestern den Kopf verdrehen. Es reicht, wenn sie das mit dem Katheter machen. Das allerdings vorzüglich.
Warum es keine feschen Krankenschwestern gibt, ist eine andere Geschichte und soll an einem anderen Tag erzählt werden. Na ja, vielleicht sage ich Ihnen am Ende dieses Artikels, warum.
Doch zurück zu der männlichen Angst vor Gefühlen. Besonders männlich war mein Verhalten in den ersten eineinhalb Jahren der Krankheit nicht. Kaum hatte es irgendwo gezwickt oder gezwackt habe ich einen halben Nervenzusammenbruch bekommen und geglaubt, mein letztes Stündlein hätte geschlagen. Meistens hat es ja gleichzeitig gezwickt und gezwackt. Sein wir doch ehrlich...Wenn' s zwickt, dann zwackt' s auch. Da fährt die Eisenbahn drüber. Aber auch das ist eine andere Geschichte für einen anderen Tag, genau wie die mit den Krankenschwestern.
Aber warum fällt es meinem Volk so schwer, Gefühle zu zeigen? Es liegt wohl an der Sozialisierung in der Kindheit. Buben weinen nicht, ein Indianer kennt keinen Schmerz, und sei keine Heulsuse und kein Waschlappen. Glücklicherweise haben meine Eltern so etwas nie zu mir gesagt. Darum habe ich zumindest keine Probleme damit, Gefühle zu empfinden. Ich bin keiner von diesen verstockten "Ich-kann-nicht-weinen"-Typen. Wir kennen doch alle so einen, oder? So einen Helden, der nicht zum Lachen in den Keller geht, sondern zum Heulen.
Es ist in unserer Gesellschaft einfach nicht üblich, dass Männer weinen. Wir haben immer alles im Griff, stehen über den Dingen und können uns beherrschen. Wir sind Vorbilder und bieten eine Schulter zum Anlehnen.
Leider stimmt das nicht. Nein, das nehme ich zurück. Gott sei Dank, stimmt das nicht. Wenn es wirklich so wäre, dann wären wir keine Menschen, sondern Zombies. Vielleicht sogar etwas noch Schlimmeres. Selbst die Zombiefrau in George A. Romeros Film "Land of the Dead", blickt in den Nachthimmel, sieht ein Feuerwerk und sagt: "Schööön!"
Was ich Ihnen, lieber GBS-Kollege, und auch allen anderen Angehörigen meines Volkes, sowie allen Frauen sagen möchte:
Scheuen Sie sich nicht, Ihre Gefühle zu zeigen! Wenn Sie Angst haben, sagen Sie es jemandem. Suchen Sie sich eine Vertrauensperson. Auch, wenn die nicht rund um die Uhr für Sie da sein kann, so haben Sie doch jemanden, mit dem Sie über Ihre Sorgen, Ängste und Zweifel reden können. Am besten sind eine Krankenschwester oder ein Krankenpfleger dafür geeignet, weil die am öftesten da sind. In dem Fall gibt es natürlich das Problem des Zeitmangels. Aber für den Anfang und als Nothelfer sind sie ideal, gerade auch, weil sie das medizinische Fachwissen haben. Dabei ist es völlig egal, wie die Krankenschwestern aussehen.
Fragen Sie unbedingt nach einer Psychotherapie. Psychotherapeuten haben die richtige Ausbildung für den Umgang mit Angstmenschen. Am besten eignet sich eine Gesprächstherapie mit einem wöchentlichen Termin. Ich empfehle Ihnen die klientenzentrierte Gesprächstherapie nach Carl Rogers. Seit einem halben Jahr mache ich sie selbst, und meine Therapeutin gibt mir dabei immer ausgezeichnete Denkanstöße. Außerdem tut es gut, den ganzen Seelenschrott, den man schon seit der Kindheit mit sich herumschleppt, endlich loszuwerden. Ich war dazu erst nach eineinhalb Jahren bereit. Ich hatte davor im Krankenhaus zwar Psychotherapie in Form von Entspannungs- und Visualisierungsübungen, aber keine Gesprächstherapie. Ich habe mich nicht getraut.
Machen Sie nicht denselben Fehler wie ich! Bitten Sie um eine Gesprächstherapie, und Sie werden sehen, dass Sie davon profitieren werden. Meine Gesprächstherapie machte ich früher mit meiner Mutter, aber Mama ist letztes Jahr im August gestorben. Das alleine schon ist für mich Grund genug für eine Psychotherapie, obwohl ich über Mama und ihren Tod noch nicht so recht reden kann.
Ich habe Angst vor meinen Tränen.
Haben Sie das nicht! Weinen Sie, wenn Sie das Bedürfnis danach haben. Auch, wenn viele andere Menschen dabei sind. Lassen Sie Ihre Gefühle raus.
Schämen Sie sich nicht für Ihre Tränen. Manchmal passiert es mir schon, dass mir bei Gesprächen das Wasser in den Augen steht (gegen das Wasser in den Beinen bekomme ich Lymphdrainagen), aber ich unterdrücke sie dann. So gut ich kann. In dem Moment, wo sie am ganzen Körper gelähmt auf der Intensivstation aufwachen, ist es an der Zeit, jedes Schamgefühl abzulegen. Sonst werden Sie wahnsinnig. Ich kann es gar nicht zählen, wie viele 20jährige Krankenschwestern bei mir Intimwäsche und Katheterpflege durchgeführt haben. Geschämt habe ich mich nie. Aber zum Glück kamen dabei auch nie andere Gefühle auf. Sie wissen sicher, was ich meine. Wenn nicht, auch egal. Ich habe diese Form der Pflege jedenfalls nie genossen, ich war einfach nur dankbar dafür und froh, wenn es wieder vorbei war. Außerdem...Na, vielleicht zum Schluss.
Am meisten Rückhalt und Trost werden Sie natürlich aus Ihrer Familie bekommen. Familienmitglieder als Kummerkasten sind einem natürlich vertrauter als die Menschen im Krankenhaus, haben aber den Nachteil, dass sie wahrscheinlich nicht vom Fach sind und wenn doch, mit den medizinischen und pflegerischen Details Ihres Falles nicht vertraut.
Darum noch einmal mein Rat: Suchen Sie sich eine Vertrauensperson aus dem medizinischen Bereich, seien es Ärzte, die wahrscheinlich sehr wenig Zeit haben werden, Schwestern und Pfleger oder Therapeuten.
Letzlich geht es darum, sich zu trauen, um Hilfe zu bitten. Das ist nicht leicht, sowohl aus seelischen, als auch aus körperlichen Gründen. Als ich noch auf der Intensivstation lag, konnte ich aufgrund meiner Lähmung den Notrufknopf nicht drücken. Wenn ich Hilfe brauchte, musste ich schreien. Das hat natürlich genervt. Nicht nur mich. Eine Krankenschwester kam dann auf die Idee, mir ein Babyphone auf den Nachttisch zu stellen. Ich war begeistert. Erleichtert und glücklich. Diese Idee war fantastisch.
Leider nur die Idee. Das Ding hat nicht funktioniert. Wahrscheinlich, weil ich kein Baby mehr bin. Also schrie ich weiter. Manchmal erfolgreich, manchmal nicht. So eine Tetraparese (klingt wie eine italienische Pizzasorte) hat aber auch etwas Gutes: Ich habe gelernt, dass es nicht unbedingt notwendig ist, sich zu kratzen, wenn es irgendwo wirklich extrem lästig juckt.
Das Jucken hört nach vier Stunden von selber auf. Nur schlafen kann man dann leider nicht. Das ist aber auch nicht so schlimm, weil gerade in der Anfangsphase des Guillain-Barré-Syndroms bekommt man oneiroide Träume. Wenn Sie jemals dachten, Sie hätten einen Alptraum gehabt, warten Sie, bis Sie Ihren ersten oneiroiden Traum haben. Realistischer und bizarrer geht es nicht. Noch eine Geschichte für einen anderen Tag. Dieser fette Typ mit der Machete...
Wenn Sie völlig hilflos sind ist es sinnlos, den Helden zu spielen und sich durchzubeissen und über den Dingen zu stehen und all so ein Unsinn. Mit einer Tetraparese können Sie sowieso nicht stehen, außer im Stryker, einer aufstellbaren Liege mit Gurten. Soll gut für den Kreislauf sein. Mein Kreislauf war anderer Ansicht. Er beantwortete diese Form der Physiotherapie, indem er vor meinen Augen Millionen kleiner schwarzer Mücken herumsausen ließ. Kein Wunder, dass man mutlos wird, wenn man nur noch einen Wunsch im Leben hat: wieder gelähmt im Bett zu liegen, anstatt eine halbe Stunde gelähmt im Stryker zu stehen.
Also: Trauen Sie sich, um Hilfe zu schreien! Brüllen Sie das ganze Haus zusammen, wenn es sein muss. Weinen Sie, aber vergessen Sie das Lachen nicht.
So, das war' s. Ich habe alles gesagt und nichts vergessen.
Oder? Da war doch noch was...Irgendwas, das Sie neugierig gemacht hat und das ich nur in diesen Artikel reingeschrieben habe, damit Sie den restlichen Schmarrn lesen. Was war denn das noch? Fällt mir nicht mehr ein. Egal. Eine andere Geschichte für einen anderen Tag.
Stimmt! Das war' s. Ich wollte Ihnen noch sagen, warum es keine feschen Krankenschwestern gibt.
Das ist ganz einfach: Fesch ist ein blödsinniges Wort, das man sogar zu einem faulen Fettsack im E-Rolli sagt. Dieses Wort trifft auf Krankenschwestern einfach nicht zu.
Krankenschwestern sind nicht fesch.
Alle Krankenschwestern sind umwerfende Schönheiten! Sie sind bezaubernde, liebreizende und liebevolle Wesen, immer für einen da, wenn man sie braucht. Krankenschwestern lesen einem jeden Wunsch vom Harnsackerl ab. Ich mache keine Scherze. Ich meine das wirklich so, wie ich es schreibe.
Alle Krankenschwestern sind wunderschön!
Und alle Männer sind Lügner.

Samstag, 13. Juni 2015

Was vom Leben übrig blieb

Heute hat mich mein Bruder besucht und mein früheres Leben durch die Tür hereingeschoben. Was vom Leben übrig blieb, befindet sich in zwei großen grauen Plastikkisten. Es sind die wichtigsten Erinnerungen, die er aus meiner früheren Wohnung in Seewalchen am Attersee retten konnte. 
Ich sage retten, weil die Landeswohngenossenschaft LAWOG sich dazu entschlossen hat, mir die Wohnung, in der ich 41 Jahre meines Lebens verbracht habe, wegzunehmen, weil ich seit dem Tod meiner Mutter ein Jahr lang nicht dort war. Meine E-Mail, in der ich erklärt habe, warum nicht, blieb unbeantwortet. Das von mir vorgebrachte Argument, dass ich die Wohnung nicht bewohnt habe, weil ich das aus gesundheitlichen Gründen nicht konnte, beeindruckte dort niemanden.
So werde ich die Wohnung, in der ich aufgewachsen bin, in der ich viel gelacht, geweint und mich gefürchtet habe, nie wieder betreten. Egal. Mama ist tot. Das ist das Schlimmste, was mir je passiert ist. Im Vergleich zu diesem Verlust ist mir das Guillain-Barré-Syndrom mit all seinen Begleiterscheinungen nur ein müdes Gähnen wert. Auch, der Verlust unserer alten Wohnung, die die einzige Heimat war, die ich jemals hatte, ist dagegen bedeutungslos. Und alt ist die Wohnung wirklich. Das Haus wurde, glaube ich, irgendwann in den 60er-Jahren erbaut, die Wasserleitungen waren schon ziemlich desolat, die Türen, samt Klinken, wacklig. Alles hat schon ziemlich altersschwach ausgesehen, und jeder vernünftige Mensch hätte sich gedacht, ich will da so schnell wie möglich weg. Selbst meine Mutter wollte das. Ihr Umzug auf einen Urnenfriedhof war dabei allerdings nicht vorgesehen. Außerdem wurden in Seewalchen nach und nach riesige neue Wohnblöcke aus dem Boden gestampft, und der Ausblick auf das bisschen Grün eines Hügels mit der Autobahn, ist inzwischen wohl auch schon weg. Es würde mich nicht einmal wundern, wenn man nicht einmal den Himmel mehr sehen kann.
Aber auch das ist egal. Wenn ich sehen will, wo Mama jetzt ist, kann ich auch hier in Altenhof in den Himmel schauen.
Doch selbst der Himmel hat sich seit dem Ausbruch meiner Krankheit verändert. Früher habe ich gerne die Wölkchen am blauen Himmel gesehen, aber jetzt sind sie mir unheimlich. Ich kann nicht erklären, warum, aber jedes Mal, wenn ich in den Himmel blicke und die Wolken sehe, schaue ich lieber schnell wieder weg. Wie sie an mir vorbeiziehen, genauso, wie das Leben an mir vorbeigezogen ist und jetzt in zwei grauen Särgen liegt. In der Zimmerecke. Weil anderswo kein Platz ist.
Kein Platz für das Leben.
Unheimlich. Der Himmel hat Zähne.
Ich frage mich, wann ich den Mut haben werde, die Kisten zu öffnen und hineinzusehen. Um einen Blick in mein ungelebtes Leben zu werfen. Wieder mal so ein Abgrund. Und wieder einmal blickt der Abgrund in mich zurück. Dieser Blick in die grauen Kisten wird für mich kein Stöbern in alten Erinnerungen sein. Keine Reise in die Vergangenheit Kein Wiederauflebenlassen der guten alten Zeiten. Keine Träne im Knopfloch oder ein Jaja-wie-die-Zeit-vergeht-Schmunzeln im wehmütig dreinblickenden Gesicht eines Junggebliebenen, der jedes Jahr seinen zweiten Geburtstag feiert. Oder irgendein anderer kitschiger Bullshit dieser Art. Es wird das sein, was die Auseinandersetzung mit meinen Erinnerungen immer ist.
Ein Blick in den Spiegel.
Ein Blick in zwei graue...
...Spiegelsärge.
Heute bin ich wieder mal ein bisschen depri drauf. Ich weiß nicht, ob Sie das schon bemerkt haben. Ich hoffe nur, dass Sie meinen heutigen Blogeintrag nicht mit guter Laune zu lesen begonnen haben und ihnen die jetzt vergangen ist. Ich würde ja lieber etwas Lustiges schreiben. Ich frage mich gerade, was das Lustigste ist, das ich jemals erlebt habe und stelle fest, dass ich auf diese Art das erreichen kann, wofür Buddhisten ihr ganzes Leben lang meditieren. Oder sogar viele Leben hintereinander.
Die absolute Leere.
Ich weiß, das klingt nicht komisch, hat aber doch einen gewissen Schmunzelwert. Wenn ich an das Lustigste Ereignis meines Lebens denke, fällt mir nichts ein. 
Im Laufe der letzten zwei Jahre habe ich oft die Erfahrung gemacht, dass ich auf gewisse Dinge anders reagiere als früher. Wenn ich mich eigentlich freuen sollte, werde ich traurig, gute Nachrichten machen mir Angst, Fortschritte werfen mich zurück, und anstatt endlich gesund werden zu wollen, warte ich lieber ab, weil mir alles zu schnell geht und ich sehr oft glaube, dass mir alles zuviel wird.
Insbesondere das Wollen müssen. Vielleicht sollte ich das in einem Wort zusammenschreiben. Wollenmüssen.
Das Wollenmüssen ist entmutigend.
Manchmal glaube ich, ich kann mich gar nicht mehr retten vor lauter Fortschritten und Erfolgserlebnissen. Die Krankheit Guillain-Barré-Syndrom scheint nach dem Mehrwertprinzip zu funktionieren. Alles wird besser, schneller und gesünder. Dass ich mich als Patient manchmal so fühlte, als würde ich auf dem Fortschrittsweg auf der Strecke bleiben, passt nicht in das Bild des Kämpfen-Wollen-Müssers und Gesund-Werden-Wollen-Müssers.
Schon bei der Reha, als ich nicht glaubte, dass ich es schaffe, stundenlang im Rollstuhl zu sitzen, hat mich eine Krankenschwester gefragt, ob ich eigentlich gesund werden wolle. Damals war ich noch so gut wie vollständig gelähmt und konnte nur die Arme ein bisschen bewegen. Ich sagte ja, ich wolle gesund werden, aber ich dachte mir, ich will nicht gesund werden wollen müssen.
Aber was tut das Ego gegen den Hoffnungszwang und die Hilfstyrannei?
Ich habe den Kampf gegen den Kampf irgendwann aufgegeben. Ich habe mich einfach der Diktatur des Gesund-Werden-Wollen-Müssens gebeugt und bin weiter meinem Ziel entgegengetaumelt, während mir das Schicksal einen Meilenstein nach dem anderen in den Weg gestellt hat.
Irgendwann wollte ich nicht mehr der Kämpfer sein, zu dem mit einem Ton herrischer Hilfsbereitschaft gesagt wird: "Sie wollen doch gesund werden, oder?" Ja, natürlich wollte ich gesund werden.
Aber ich will nicht gesund werden müssen.
Ich weiß, das klingt undankbar, denn letztlich war ich ja freiwillig in all den Therapien und bei all den Untersuchungen. Ich weiß auch, dass alle, die mir auf dem Weg bisher beigestanden haben und noch heute beistehen, nicht nur ihr Bestes getan, sondern auch ihr Bestes gemeint haben. Ich bin dankbar, sehr sogar. Unendlich dankbar. Das meine ich ernst, das ist kein Zynismus.
Ich will mit diesen Worten nur sagen, dass es oft unglaublich mühsam ist, das eigene Ich abzuschalten und das Wollen von Anderen definiert zu bekommen. Schließlich gibt es keine Argumente gegen Sätze wie: "Aber wir meinen es doch nur gut", "Sie sind doch freiwillig hier. Niemand zwingt Sie" und "Sie wollen doch gesund werden, oder?"
Aber ist nicht die Unterbreitung eines vermuteten Wunsches und das Voraussetzen des Geheilt-Werden-Wollens nicht doch ein Zwang? Ich bin oft gefragt worden, ob ich gesund werden will, aber niemand hat mich je gefragt, ob ich vielleicht gelähmt, hoffnungslos und mutlos bleiben will.
Natürlich will ich das nicht, aber ich hätte dann zumindest die Wahl gehabt. Klar, ich wäre dann überall rausgeflogen, und ich werde nie den enttäuschten Blick der Ergotherapeutin vergessen, als ich nicht querbett sitzend essen wollte, weil mir davon schwindlig wurde und der Katheter auf die Blase gedrückt hat wie ein Stacheldraht. Sie hat es gut gemeint, keine Frage. Und sie hat es auch gut gemacht, schließlich war sie es, die meine gelähmten Arme wieder mobilisiert hat. Danke, Christine.
Vielleicht denke und handle ich so, weil das Guillain-Barré-Syndrom mich verändert hat. Nicht der Himmel ist anders geworden, sondern ich. Und unheimlich sind auch nicht die Wolken und auch nicht die Spiegelsärge, sondern die Verwandlung, die mit mir geschehen ist.
Und jetzt ein Bekenntnis, das wohl keiner von mir erwartet, der diesen Blog liest oder mich persönlich kennt:
Ich glaube, es ist eine gute Verwandlung.
Eine sehr gute sogar.
Vielleicht noch nicht ganz so gut wie die von der bösen Frau Marzahn in den goldenen Drachen der Weisheit, aber schon ein gewaltiger Unterschied zu meinem früheren Ich. Noch wird aus dem gewissen Schmunzelwert kein Lachkrampf, aber ein Schmunzelkrampf ist doch auch ein Anfang.
Letztlich liegt doch ein Trost in den schönen Erinnerungen. Die Vergangenheit ist tot und die Zukunft ungeboren. Die Gegenwart heilt langsam, Schritt für Schritt. Aber die Erinnerung lebt. Man darf sie nur nicht durch die Trauer über den Verlust beflecken lassen. Schließlich ist die lebendige Erinnerung an vergangene Glückstage das einzige, was die Zeit überdauert.
Was vom Leben übrig blieb.

Samstag, 6. Juni 2015

Empört euch!

Empört euch! Budgetkürzungen in der Behindertenhilfe!

Warum spart ihr an der Menschlichkeit? Das frage ich die Politiker, die eine Budgetkürzung im Bereich Behindertenhilfe beschlossen haben. 

Jeden Tag beeindrucken mich der Lebensmut der Bewohner und die aufopfernde Hilfsbereitschaft der MitarbeiterInnen hier in dem kleinen Behindertendorf Assista Altenhof. Ich selbst lege den gemeinsamen oberösterreichischen Weg im Rollstuhl zurück. Ich habe meine Gesundheit, meine Wohnung und meine Hoffnung verloren. Die Hoffnung haben mir die Pflegekräfte, Therapeuten und Verwalter in Altenhof wieder zurückgegeben. Dieser Lebensmut und diese Hilfe sollen jetzt 25 Mio. Euro weggenommen werden. 

Die Politiker nennen es Sozialkürzungen und Personalabbau. Ich nenne es Raubzug der ReGIERung. Sollen die Menschen, die unermüdlich für unsere Betreuung arbeiten jetzt durch Gehaltskürzungen und Entlassungen bestraft werden?
Dazu sage ich Nein! Ich unterstütze den Streik der MitarbeiterInnen und der Gewerkschaft und empöre mich über die Herzlosigkeit unserer Politiker. Und Sie?
Empört euch!
Die MitarbeiterInnen in Altenhof und anderen Sozialeinrichtungen sorgen fleißig und liebevoll für uns Menschen mit Beeinträchtigungen. Dafür danke ich ihnen allen von ganzem Herzen!

Es darf keine Einsparungen im Sozialbereich geben! Es darf niemand vernachlässigt oder auf die Straße gesetzt werden!

Hier sind meine Vorschläge zu Wahrung der Menschlichkeit im Behindertenbereich:

- In der Sozialabteilung der Regierung Einsparungsmöglichkeiten finden und umsetzen.
- Strukturänderungen in der Sozialabteilung durchführen.
- Mehr Angebote in der mobilen, Kurzzeit- und Tagesbetreuung. 
- Verwaltungsabläufe optimieren.
- Überschüsse im Behindertenbereich nicht zugunsten des Landes abschöpfen.
- Mehraufwendungen der Sozialeinrichtungen abgelten. 
- Sozialeinrichtungen mehr Spielraum in der Betreuungsplanung überlassen.
- Mehr Investitionen in Sozialeinrichtungen und Dienstleistungen. 
- Budgeterhöhung statt Kürzung im Behindertenbereich und in der psychologischen Betreuung.

Meine Forderung an die Damen- und Herrenmenschen der ReGIERung: Keine Entlastungen durch Entlassungen! Und meine Bitte: Sparen Sie nicht bei der Behindertenhilfe, sonst bleiben wir auf dem gemeinsamen oberösterreichischen Weg alle auf der Strecke!

Markus G. Pärm
Altenhof am Hausruck