Samstag, 27. Dezember 2014

Gezeichnet fürs Leben

Ich kann mir noch immer nicht vorstellen, aus dem Rollstuhl jemals wieder rauszukommen. Schließlich ist es ein Rollstuhl und kein Skateboard, von dem man einfach absteigt. Dabei bin ich doch schon draußen. Ich kann problemlos aufstehen, wenn ich mich dabei an einem Rollator oder Stangen an der Wand festhalte und hochstemme. Ich weiß, wie verrückt das klingt, aber ich glaube trotzdem nicht daran. Ich kann meine Beine hoch genug anheben, um wieder gehen zu können. Da habe ich einfach eine totale psychische Blockade.
Aus einem Rollstuhl kommt man nie wieder raus. Diese Überzeugung ist in meinem Denken so fest verankert, dass sie mich buchstäblich an den E-Rolli fesselt. Ich kann mir auch nicht vorstellen, wie einfach es ist. Ich kann gar nicht glauben, was ich in den letzten vier Wochen alles geschafft habe. Erstes, zögerliches Aufstehen mit hochgestelltem Sitz. Brauche ich nicht mehr. Der erste, angstvolle Versuch, mich ein Stück nach vorne fallen zu lassen, um überhaupt in den Richtigen Aufstehwinkel zu kommen. Mein Stratosphärensprung. Das ist allerdings schon etwas länger her. Heute frage ich mich, warum ich solche Angst hatte. Ich mache mir beim Aufstehen gar keine großen Gedanken mehr. Ich zögere nicht, und ich fürchte mich auch nicht. Ich glaube, das erste Mal habe ich das im September geschafft.
Jetzt ist Ende Dezember 2014. im Juni 2013 wurde ich krank, war lange Zeit vom Hals abwärts gelähmt. Länger als ein halbes Jahr. Ich habe zwei Monate auf der Intensivstation verbracht. Auf dem Rücken liegend. Danach vier Monate Neuro. Auf dem Rücken liegend. Nur zu den Therapien wurde ich mit einem Hebelifter aus dem Bett gehoben. Danach vier Monate Reha, den ersten davon größtenteils auf dem Rücken liegend. Ich konnte mich nicht kratzen, wenn es gejuckt hat, mir meine Haare nicht aus den Augen wischen, mich nicht schneutzen, nicht selber essen und trinken. Ich konnte mich nicht waschen und musste praktisch rund um die Uhr gepflegt werden.
Dann wurde es allmählich besser, und ich muss sagen, die Therapien waren nie besonders hart. Ich kann nicht behaupten, dass ich mich jemals geschunden habe. Darum glaubte ich auch lange nicht an die Wirksamkeit der Physio- und Ergotherapie. Ich dachte mir, es sei doch völliger Schwachsinn, ein Papiertuch auf einem Tablett millimeterweise herumzuschieben. Selbst, als ich dann am Gmundnerberg schon Kegeln übereinanderstapeln konnte, glaubte ich nicht, dass das einen Sinn hat.
Jetzt kann ich essen, trinken, schreiben, meinen ganzen Körper fast normal bewegen, jede Menge Schritte im Stand machen.
Und glaube es immer noch nicht.
Ich glaube noch immer nicht, dass ich aus dem Rollstuhl wieder rauskommen und normal gehen können werde. Obwohl ich am Rollator ja auch schon die ersten drei Fortbewegungsschritte gemacht habe. Ich bin einfach schon so lange krank und war so lange gelähmt, dass ich es nicht glauben kann.
Ich kann auch nicht glauben, dass ich inzwischen wieder ein halbwegs selbstständiger Mensch bin. Ich kann mit dem E-Rolli herumfahren, ich habe mit meinem iPad Zugang zum Internet, ich kann mit den beiden Zeigefingern lange Zeit flüssig und ziemlich schnell schreiben und so weiter.
Aber leider bin ich ein Pessimist und ein ziemlich ängstlicher Mensch. Zumindest bin ich das durch das Guillain-Barré-Syndrom geworden. Ich war zwar früher auch kein großer Held, aber die Krankheit hat meine Zaghaftigkeit und meine Skepsis noch verschlimmert. So sehr verschlimmert, dass ich mich nicht traue, die einfachen und nicht einmal besonders anstrengenden Aufstehübungen an den Stützstangen im Bad zu machen, aus Angst, sie könnten in meinem Dauerkatheter etwas auslösen, das dann nicht mehr aufhört. Lieber bleibe ich im Rollstuhl hocken und habe die Scherereien mit dem Katheter trotzdem.
Das ist doch verrückt. Das ist doch total verrückt.
Aber so bin ich. Es ist beschissen, dass ich so bin, aber so ist es eben. Ich bin Grafiker. Gezeichnet fürs Leben. Ich hoffe nur, dass ich nicht als unvollendetes Meisterwerk enden werde. Oder, dass die besten Farbschichten von mir abbröckeln.
Nur hoffen allein wird nicht reichen.

Samstag, 20. Dezember 2014

Kriegsfeind Körper

Mein Körper führt einen Krieg gegen mich.
Das war eine meiner ersten Erkenntnisse nach der Diagnose Guillain-Barré-Syndrom. Mein eigenes Immunsystem richtet sich gegen mich und zerstört meine Nerven. Es reagiert so stark auf einen unsichtbaren Angreifer, dass es den Kollateralschaden, den es anrichtet, nicht sieht.
Um den Feind zu töten, zerstört die Armee das eigene Heimatland. Genau das ist es, was das Guillain-Barré-Syndrom einem Menschen antut. Es hetzt das Immunsystem gegen den eigenen Körper auf. Die Leitfähigkeit der Nerven wird beeinträchtigt, und der Körper verfällt in Lähmung. Es ist eine Art Blitzkrieg, den das Immunsystem führt, und die gesamte Heimat verfällt in eine Schockstarre.
Beinahe auch meine Lunge. Nur durch künstliche Beatmung konnte ich am Leben gehalten werden. Durch eine Darmsepsis wäre ich fast verblutet. Monate später hatte ich eine Tiefenvenenthrombose, die eine Lungenembolie hätte auslösen können. Das ist sogar eine der häufigsten Todesursachen bei GBS-Patienten.
Monatelang habe ich an die Decke des Krankenhauszimmers gestarrt, eingesperrt in einem Kopfleben. Ich konnte sprechen, wurde aber sprachlos. Zum Teil bin ich es heute noch. Es handelt sich dabei zwar um keinen organischen Schaden, aber die Krankheit hat mir die Sprache verschlagen. Ich rede nicht gern. Ich schreibe lieber.
Ich liege im Bett in meinem Zimmer im Behindertendorf Altenhof und frage mich, was die Zukunft mir bringen wird. Tagsüber lese ich E-Books, liege im elektrischen Rollstuhl mit einem Kissen unter dem Kopf. Ich fahre mit dem E-Rolli in den kleinen Speisesaal. Zum Frühstück, zum Mittagessen, zum Abendessen. Auch dort rede ich nur, wenn ich etwas gefragt werde.
Ich bin oft sehr traurig, weil ich an meine tote Mutter denken muss. Sie ist im August gestorben. Ich bin hier von wunderbaren, hilsbereiten Menschen umgeben, und bin trotzdem allein. Das kann ich. Das ist ein spezielles Talent, dass ich schon seit Kindertagen habe. Ich kann unter vielen Menschen völlig allein sein.
In meinem Kopfleben.
Der Krieg nähert sich dem Ende. Die Einschläge sitzen tief in meiner Seele. Der Donnerhall der Bomben, die das Immunsystem auf mich abgefeuert hat, klingt noch nach. Er weird zwar leiser, aber der Pulverdampf liegt noch in der Luft. Ich werde wohl wieder gesund werden. Wieder gehen können. Wieder zeichnen. Wieder normal leben. Als hätte ich das jemals getan. Trotzdem gibt es noch keinen Waffenstillstand mit meinem Körper.
Meine Hände, mit denen ich mein ganzes Leben lang so viel gezeichnet, gemalt und geschrieben habe, haben mich verraten. Sie sind einfach desertiert. Im Krankenhaus habe ich mit ihnen geredet. Ich habe sie gefragt, ob sie nicht gerne gezeichnet haben. Ob das nicht wunderschöne Stunden waren, als die Zeit stillstand und nichts existierte außer uns, einem Blatt Papier und einem Bleistift. Sie haben nicht geantwortet.
Aber jetzt tun sie es. Sie sprechen zwar nicht, aber sie schreiben wieder.
Und sie zeichnen. Zwar noch wacklig und kritzlig, aber sie zeichnen.
Auch meine Beine bewegen sich wieder. Vorgestern konnte ich im Stand 160 Schritte machen. Ich hielt mich dabei an zwei an der Wand befestigten Stützstangen fest. Vor einem Jahr, als ich auf Reha am Gmundnerberg war, konnte ich meine Beine noch nicht einmal so weit anheben, dass ich sie auf den Fußplatten des Rollstuhls richtig platzieren konnte. Ich konnte auch noch lange nicht stehen.
Viele Stunden haben mich diese Beine früher durch das Meer getragen. Durch die Adria in Istrien und durch den Attersee. Ich habe meine Beine gefragt, ob sie nicht wieder schnorcheln möchten. Jetzt, wo es mit den Bewegungen und der Muskelaktivität so gut klappt, bin ich mir sicher, dass sie wollen. Sie sprechen halt nicht. Na ja, sind ja auch meine Beine. Ich bin ja auch kein großer Redner.
Und da auch in traurigen Geschichten oft ein Funken Humor glimmt, möchte ich noch erwähnen, dass der besondere Schweregrad meiner Erkrankung mit dem Guillain-Barré-Syndrom nicht daran liegt, dass mein Immunsystem so schwach war. Die vollständige Lähmung meines gesamten Körpers vom Hals bis zu den Zehenspitzen über einen Zeitraum von einem guten halben Jahr ist auf die Stärke meines Immunsystems zurückzuführen.
Je stärker das Immunsystem, desto schwerer die Auswirkungen des Guillain-Barré-Syndroms.
Das ist doch ein Witz, oder?
Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, wenn sie das lesen, aber mir bleibt das Lachen im Hals stecken. Mein Humor ist aber trotzdem noch da. Und die Funktionen meiner Arme und Beine ebenfalls, wenn auch noch nicht vollständig.
Also, wieder einmal mein Rat an alle GBS-Patienten:
Gebt nicht auf! Gebt niemals, niemals, niemals auf!
War is over, if you want it!

Samstag, 13. Dezember 2014

Zufriedenheit tötet!

"Man muss zufrieden sein."
Diesen dummen Spruch haben Sie sicher auch schon oft gehört, oder? Ich werde Ihnen jetzt erzählen, warum die Zufriedenheit Sie umbringen kann. Körperlich, aber insbesondere seelisch. Dabei beziehe ich mich nicht nur auf Patienten mit dem Guillain-Barré-Syndrom. Sicher gilt das auch für so manche gesunde Menschen.
Wenn man sich einmal auf das reine Überleben beschränkt, ist das Resultat die totale Resignation. So schreibt der Autor und GBS-Patient David Dakroub in seinem E-Book "Don’t Settle for Surviving - You can Overcome CIDP and GBS too!", dass GBS-Patienten oft kurz vor dem Durchbruch aufgeben. Wenn sich ihr Nervensystem wieder erholt und die Myelinschicht fast wieder aufgebaut hat, legen sie die Hände in den Schoß und brechen die Therapien ab. Sie versinken in einem routinierten Tagesablauf, der ihrem gegenwärtigen Gesundheitszustand angemessen ist.
Der Grund dafür ist laut Dakroub der langsame Genesungsverlauf. Die Fortschritte sind zwar da, lassen aber lange auf sich warten, und dazwischen gibt es lange Phasen des Stillstands. Ich kenne diese Phasen nur allzu gut. Es lagen gute drei Monate zwischen der ersten millimeterkleinen Bewegung meines linken Zeigefingers und der Fähigkeit mit Müh und Not und einem Plastikring als Tellerschutz einigermaßen eine Gabel halten und selbst essen zu können. Ich erinnere ich mich, als ich nach einem halben Jahr Krankenhausaufenthalt am letzten Therapietag eine Dreiviertelstunde brauchte, um ein paar Stückchen Lachsfilet und einige kleine Kartoffeln zu essen. Querbettsitzend, an einen Schaumgummiwürfel gelehnt und unterstützt von der geduldigen Motivation meiner wunderbaren Ergotherapeutin Julia.
Es geht also voran. Warum aber scheitern so viele GBS-Patienten?
Nach meiner Erfahrung sind die drei Hauptgründe für die Resignation vieler GBS-Patienten:

• Der langsame Genesungsverlauf mit langen Phasen des Stillstands.
• Die scheinbar unbewältigbaren Hürden, die es zu überwinden gilt.
• Die Angst vor dem Scheitern.

Gerade der Stillstand, wenn wochen- und monatelang nichts weitergeht, ist so deprimierend. In diesen Phasen fing ich an, an allem zu zweifeln, was mir geholfen hat: Ich zweifelte an der Kompetenz der Ärzte, der Therapeuten, der Menschen, die versucht haben, mich aufzumuntern und zu motivieren, aber am meisten zweifelte ich an mir selbst.
Ich fragte mich, ob ich es überhaupt verdient habe, gesund zu werden und ob ich es wert bin, alle Hürden zu überwinden und als neuer, gesunder Mensch meinen Lebensweg weiterzugehen. Ich war in meinem Leben vor GBS nie ein besonders fleissiger oder umgänglicher Mensch gewesen. Ich konnte nie Freundschaften halten, weil ich sie nicht gepflegt habe, ich habe den größten Teil meiner Jugend mit fernsehen verbracht, ich war ein Nichtsnutz mit großen Erwartungen. Gut, als Grafiker und Autor war ich immer ziemlich talentiert, aber nie fleissig und kommunikativ genug, um aus meinen Begabungen etwas zu machen.
Und so wuchsen meine Selbstzweifel und Versagensängste. Immer mehr wurde ich zum Einzelgänger, fast schon Einsiedler. Diese Selbstzweifel, gepaart mit einem sehr niedrigen Selbstwertgefühl, habe ich noch immer.
Aber inzwischen weiß ich, dass Selbstzweifel und mangelndes Selbstwertgefühl mich in die totale Resignation und Depression führen können, und so kämpfe ich dagegen an. Mit Affirmationen und den ständigen Blick auf meine Erfolge und Fortschritte. Ich weiß, dass es immer besser und besser wird. Aber oft kann ich nicht mehr daran glauben und verliere jede Hoffnung.
Immer noch. Nach eineinhalb Jahren Guillain-Barré-Syndrom. Ich glaube, dass es vielen Menschen mit dieser Krankheit so geht. Der Weg ist einfach so lang und scheint immer länger zu werden. Je weiter man kommt, desto mehr entfernt sich das Ziel.
Aber nur scheinbar. Die Hürden sind nicht unüberwindbar.
Liebe GBS-Leidensgenossen, denkt immer daran. Der Weg zurück ins Leben wird nicht länger, sondern kürzer und das Ziel entfernt sich nicht, sondern rückt immer näher heran. Das eigentliche Problem, das man bei der Krankheit Guillain-Barré-Syndrom hat, ist, dass man den Ausweg aus den Augen verliert.
Das Ziel verschwimmt, wenn man Tränen in den Augen hat.
Was, wenn es nicht klappt? Was, wenn ich nie wieder gesund werde?
Fragen, die ich mir oft gestellt habe und immer noch stelle. Was ist, wenn die Fortschritte so deutlich sind, die Nerven- und Muskelaktivität immer besser wird, alle sagen, dass "es wieder wird" und man eigentlich nichts mehr zu befürchten hat, sich aber trotzdem nichts zu ändern scheint und man glaubt, am Ende des Weges in den Abgrund zu stürzen?
Je mehr Fortschritte ich im Laufe der letzten eineinhalb Jahre gemacht habe, je besser ich mich bewegen konnte, je einfacher es für mich geworden ist, nach Gegenständen zu greifen und je leichter es mir im Moment, im Dezember 2014, fällt, aus dem Rollstuhl aufzustehen, desto größer wird meine Angst, dass doch noch etwas schiefgehen könnte. Aus diesem Grund, und weil sich zwischendurch alles so in die Länge zieht, geben viele Menschen mit Guillain-Barré-Syndrom kurz vor dem Ziel auf und resignieren. Sie verfallen in eine Lethargie und arrangieren sich mit ihrem Zustand.
Nach dem Motto "Besser ewig hoffen als schnell scheitern" geben sie sich damit zufrieden, im Rollstuhl zu sitzen und in Selbsthilfegruppen über ihre Krankheit zu reden, anstatt weiter dagegen anzukämpfen. So wollte und so will ich nicht enden.
Ich will wieder vollständig auf die Beine kommen. Ich will gehen und laufen und springen und schwimmen und stehen und mich hinsetzen und wieder aufstehen können.
Wieder aufstehen.
Oft plagen mich Ängste und Depressionen. Oft vermeide ich das Training außerhalb der Therapiezeiten, weil ich befürchte, ich könnte damit irgendetwas auslösen, insbesondere Probleme mit meinem Katheter. Dann aber wird mir sofort wieder bewusst, dass ich nicht in ein gesundes Leben zurückkehren kann, wenn ich so viele Umwege mache. Das gibt mir zwar nicht den nötigen Motivationsschub, um mich zu schinden, aber es hält mich wenigstens so weit aufrecht, dass die Fortschritte weitergehen.
Aufstehen und weitergehen. Das wünsche ich mir für mich selbst und allen Menschen mit Guillain-Barré-Syndrom.

Samstag, 6. Dezember 2014

Der Geisterarm

In meiner Zeit auf der Intensivstation hatte ich eine Menge unheimlicher Träume und möglicherweise sogar Halluzinationen. Das ist für Patienten mit Guillain-Barré-Syndrom typisch. Was die Albträume und Halluzinationen verursacht ist unbekannt. Es könnten die Medikamente sein oder einfach nur eine Begleiterscheinung der Krankheit.
Interessanterweise hörten diese Träume und Vorstellungen an dem Tag auf, als ich von der Intensivstation auf die Neuro verlegt wurde. Auch während meiner Reha am Gmundnerberg, sowie hier in Altenhof am Hausruck gab es keine Albträume und Halluzinationen mehr. Ich schlafe sehr gut, nur meistens viel zu kurz. Inzwischen habe ich mich aber an fünf Stunden Schlaf pro Nacht gewöhnt.
Den folgenden wiederkehrenden Traum schildere ich, weil er für GBS-Patienten typisch zu sein scheint. Der am Guillain-Barré-Syndrom erkrankte Autor Italo Giovanni Savella schreibt in seinem E-Book "Up from the Abyss  - A journey of personal redemption from the ravages of Guillain-Barre syndrome" über ähnliche Träume und Einbildungen wie ich sie hatte. Dazu gehört auch die im vollen Wachzustand gefühlte Empfindung, die eigenen Beine seien am Bettrand abgewinkelt und hingen auf den Boden. Ich war lange Zeit davon überzeugt, dass das die Wirklichkeit war. Als ich schließlich erfuhr und zur Kenntnis nahm, dass meine Beine ausgestreckt unter der Decke lagen, fühlte es sich für mich trotzdem noch immer so an. Vor meiner Erkrankung hatte ich diesen Traum nie. Zumindest erinnere ich mich nicht daran, glaube es aber nicht.
Das menschliche Bewusstsein und das Unterbewusstsein sind zwei merkwürdige Gesellen. Aber besonders faszinierend ist für mich, dass ich offenbar nicht der einzige Mensch mit Guillain-Barré-Syndrom bin, der solche Träume und Eindrücke hatte. Gerade, weil sie so spezifisch sind. Ich frage mich, ob auch andere GBS-Patienten davon träumten, mit einem zähflüssigen schwarzen Klebstoff mit bestimmten Dingen wie Kugelschreiber oder Handys verbunden zu sein. Auch diese Träume hatte ich oft, genauso wie diejenigen, in denen ich zu Notoperationen in irgendwelche Privatwohnungen gebracht wurde, wo dann an meinen Gedärmen herumgeschnitten wurde. Ich bekam dabei die Schmerzen mit und wurde jedesmal ohne Narkose operiert, weil ich entweder allergisch dagegen war oder sie einfach nicht wirkte. Da ich mich nicht bewegen konnte, war ich völlig hilflos.
Doch nun zum Geisterarm.
Ich glaubte, an meiner rechten Körperseite zwei Arme zu haben. Meinen richtigen, gelähmten und direkt darüber noch einen zweiten, den ich ein bisschen anheben konnte. Ich nannte ihn meinen "Geisterarm". Die Finger konnte ich ebenfalls bewegen. Ich war glücklich darüber, und mein richtiger Arm, den ich nicht einen einzigen Zentimeter anzuheben vermochte, geriet bald in Vergessenheit. Ich freute mich so sehr darüber, dass es mir besser ging und ich auf dem Weg zur Heilung war.
Heute weiß ich nicht mit Sicherheit, ob das nur Träume waren, oder ob ich Halluzinationen hatte. Ich konnte meine Muskeln spüren, die Bewegungen, die ich machte, die Gegenstände, nach denen ich griff. Ich sagte zu einer Krankenschwester, dass ich meinen Arm heben konnte und demonstrierte es ihr. Sie sagte: "Gar nichts können Sie. Sehen Sie doch hin, Ihr Arm liegt tot neben Ihnen."
Ich blickte nach rechts und sah meinen nackten Arm, wie er schlaff und leblos auf der Matratze lag. Der Geisterarm war verschwunden. Ich erschrak, und Traurigkeit überkam mich. Ich glaube, dass das Gespräch mit der Krankenschwester ein Traum war, aber ganz sicher bin ich mir nicht.
Der Geisterarm verschwand. Ich sah ihn niemals wieder. Auch die Lähmung in meinen Armen ist mittlerweile verschwunden.
Was bleibt ist die Erinnerung an eine Zeit des totalen körperlichen und seelischen Stillstands. Eine Statue aus Fleisch, Blut und toten Nerven zu sein.
Aber das Wichtigste, von dem ich mit Sicherheit weiß, dass es keine Halluzination ist, ist der Traum, wieder normal gehen zu können.
Der Traum vom Gesundwerden.

Donnerstag, 4. Dezember 2014

ICH KANN WIEDER GEHEN!

ICH KANN WIEDER GEHEN!

Der folgende Text ist ein Auszug aus meinem Tagebuch, heute, am 4. Dezember 2014, geschrieben. Es ist ein wichtiger Tag für mich, vielleicht sogar der wichtigste seit dem Ausbruch meiner Krankheit im Juni 2013.
     Ich veröffentliche diesen Text, um allen Menschen, die ebenfalls am Guillain-Barré-Syndrom erkrankt sind, Mut zu machen.

     Es gibt einen Weg aus dem Krankenbett und aus dem Rollstuhl!
     Glaubt daran! Arbeitet daran!
     Und das Wichtigste: Gebt niemals, niemals, niemals auf!

ICH KANN WIEDER GEHEN!
     Ich kann es gar nicht glauben, dass ich diese Worte schreiben kann. Heute in der Physiotherapie ist es mir gelungen, am Rollator stehend, den rechten Fuß anzuheben, ein Stück nach vor zu stellen, und dann den linken Fuß ein kleines Stück noch weiter nach vor.
     Nach den Schritten im Stand, die ich schon letzte Woche gemacht habe, waren das heute meine ersten zwei Schritte, die mich ein Stück voran gebracht haben. Sogar den Rollator konnte ich nach vor schieben.
Mein Therapeut Wolfgang hat applaudiert. Später sagte er, jetzt sei es nur noch Trainingssache.
     Heute ist also der große Tag gekommen, an dem ich nach eineinhalb Jahren zum ersten Mal wieder gegangen bin. Der letzt Schritt vor der Krankheit war der Sturz vor dem Bett im Juni 2013.
     Natürlich habe ich auch jetzt wieder meine Zweifel. Wird es mir wieder gelingen? Wird es noch besser werden? Werde ich wieder normal gehen können? Eine innere Stimme antwortet auf alle diese Fragen mit einem klaren Ja!
     Die Füße voreinanderzustellen war heute gar nicht so schwer, nur war ich sehr unsicher und hatte Angst zusammenzubrechen. Darum habe ich mich nicht getraut, noch weiter zu gehen. Aber ich bin mir ganz sicher, dass das noch kommt.
     Allerdings kann ich beide Vorfüße nicht anheben, wenn ich stehe. Ich weiß nicht, ob mir dazu die Kraft fehlt, oder, ob die Nerven noch gelähmt sind. Darum kann ich nicht mit der Ferse zuerst auftreten. Wenn ich im Bett oder im E-Rolli liege, kann ich die Fußrücken allerdings anheben.
     Seit heute ist für mich die Zeit vorbei, in der ich mich gefragt habe: "Werde ich jemals wieder gehen können?" Ab jetzt lautet die Frage für mich: "Wie gut werde ich wieder gehen können, und wie lange wird es dauern?"

Samstag, 29. November 2014

Traum und Wirklichkeit

Eine der schmerzhaftesten Erfahrungen, die ich im Laufe meiner Krankengeschichte mit dem Guillain-Barré-Syndrom machte, war der plötzliche Einbruch der Realität in den Traum. Damit meine ich nicht körperliche Schmerzen, sondern seelische. Abgesehen vom Ausbruch der Krankheit selbst, waren es die ständigen, immer wiederkehrenden Tritte, die mir das Schicksal verpasste.
Ich weiß nicht, wie oft ich es in diesen eineinhalb Jahren erlebt habe, dass es mir besser ging und ich Hoffnung schöpfte, nur um kurz darauf wieder getreten zu werden. Getroffen von den Pfeilen und Schleudern des wütenden Geschicks.
Noch am Vormittag hatte ich einen kleinen Erfolg, weil ein paar Tasten auf der Computertastatur drücken konnte oder weil ich im Querbett stabil aufrecht sitzen konnte, und am Abend war der Dauerkatheter so verstopft, dass er sich nicht spülen ließ. Urologe war keiner mehr da, dabei hätte das jeder Diplomkrankenpfleger machen können.
Liebe Ärzte und Pfleger, seid mir bitte nicht böse, wenn ich das sage, aber jeder verdammte Schimpanse kann einen Schlauch aus einer Röhre ziehen. Stattdessen wurden mir krampflösende Mittel gegeben, eine Tablette und eine Infusion, damit die Blasenkrämpfe aufhören. Aber sie hörten nicht auf. Die ganze Nacht hatte ich Krämpfe. Am nächsten Tag und die ganze Woche darauf war ich dementsprechend fertig.
Als ich auf Reha war, hatte ich kleine Erfolge in der Ergo- und Physiotherapie, und am Abend, als ich mit dem Hebelifter ins Bett gelegt wurde, sagte eine Krankenschwester: "Ihr rechtes Bein ist aber dick." Ein Arzt kam und untersuchte mich. Nur entzündet und geschwollen, meinte er. Am nächsten Morgen wachte ich auf als Schwester Andrea in mein Zimmer kam und sagte: "Du fährst jetzt ins Krankenhaus nach Gmunden. Du hast eine Thrombose. Ich darf dich nicht waschen." Ich wusste zwar, was eine Thrombose ist, war aber trotzdem geschockt, als sie auf meine Frage, was denn passieren könnte sagte: "Im schlimmsten Fall kann die tödlich sein." Die. Folgende Woche war die vielleicht schlimmste in der ganzen Zeit der Krankheit. Alle anderen Momente, in denen ich in akuter Lebensgefahr war, habe ich nicht bewusst mitbekommen, aber diese eine Woche lang und auch noch einige Zeit danach habe ichp erfahren, was wirkliche Todesangst ist. Ich konnte an nichts anderes denken. Zusätzlich hatte ich noch einen grippalen Infekt und 42 Grad Fieber.
Lungenebolie bekam ich keine, aber dafür nehme ich noch jetzt, neun Monate später, ein so starkes blutverdünnendes Mittel, dass ich auf der Stirn zu bluten beginne, wenn ich mir in der Früh beim waschen mit einem nassen Waschlappen zu fest darüber fahre. Wie schrieb noch Clive Barker? "Blutbücher sind wir Leiber alle. Wo man uns aufschlägt, lesbar rot."
Es waren und sind auch viele Kleinigkeiten unter diesen Rückschlägen. Katheterprobleme, ausbleibende Fortschritte in der Therapie, schlechte Nachrichten über die Prognosen meiner Genesung, besonders, was die Beweglichkeit meiner Finger betrifft und solche Dinge. Aber auch Harnwegsinfekte und kleinere Operationen an eingewachsenen entzündeten Zehennägeln. Des weiteren Hüftschmerzen, Gleichgewichtsstörungen, Ängste, Depressionen. Nicht zu vergessen Hautlaisionen, Dekubitusgefahr und eine aufgeplatzte Zirkumzisionsnaht mit Nachoperation und zehn Tagen Krankenhausaufenthalt.
Kleine und mittelgroße Quälereien, vom Schicksal fein dosiert und kurz nach den Glücksmomenten verabreicht, um mein Leben zu würzen. So wird der Traum vom Gesundwerden immer wieder niedergetrampelt. Und das mit Ausdauer. Ich habe solche Phasen erlebt, die wochenlang dauerten. Das wütende Geschick hat einen langen Atem.
Ich auch. Meiner ist länger. Ich motiviere meine trostsuchende Seele mit Gedanken, wie: "Das gehört zum Gesundwerden dazu" oder "Ich bin eine starke Persönlichkeit". In Stress- und Angsmomenten sage ich mir das innerlich vor und auch nachts vor dem Einschlafen. Solche Affirmationen, im Geiste gedacht oder leise geflüstert, 30 bis 100 Mal wiederholt, setzen sich irgendwann im Unterbewusstsein ab und entfalten von da aus ihre positive und stärkende Wirkung. Auf mein Handy habe ich sie auch gesprochen. Ich werde in einem späteren Blog-Beitrag eine Liste der Affirmationen veröffentlichen, die ich regelmäßig anwende und ohne die ich wahrscheinlich schon wahnsinnig geworden wäre.
Das Guillain-Barré-Syndrom befällt zwar meist nur das periphäre Nervensystem, also nicht das Rückenmark oder das Hirn, aber die psychischen, seelischen Nebenwirkungen können einen Menschen brechen. Bis zu totalen Resignation und Selbstaufgabe. Solche Fälle sind bekannt.
Aber mich nicht.
Selbst die größten Hammerschläge, wie der Tod meiner Mutter können mich nicht kleinkriegen. Ich zünde eine Kerze an, wenn ich traurig bin. So hat es Mama in einem ihrer Gedichte geschrieben. Ich tue das auch, wenn ich Angst habe. Aber. Diese Kerze ist nicht echt, sie ist nicht aus Wachs, sondern besteht aus reiner geistiger Hoffnungskraft. Sie erhellt die Dunkelheit. Jede Dunkelheit. Diese Kerze brennt immer in mir, und wenn sie zu verlöschen droht, entzünde ich sie neu. Immer.
Jetzt.
Sie ist mein Fixpunkt. Mein Nordstern. Mein Leuchtturm.
Ich sage auf diesem Weg allen GBS-Betroffenen, den Kranken selbst, aber auch deren Angehörigen und Freunden:
Gib nicht auf! Es gibt einen Ausweg. Er liegt direkt vor Dir. Du musst Dich nur aufrichten, um Deinen Weg zu finden!

Samstag, 22. November 2014

Die Welt von oben: Der Stryker

Im folgenden Text schildere ich meine Erinnerungen an die ersten Physiotherapiestunden auf der Intensivstation. Zu dieser Zeit (Juli 2013) war ich noch vollständig gelähmt und konnte nur meinen Kopf bewegen und sprechen. Viele Erinnerungen sind lückenhaft, aber so in etwa hat es sich abgespielt:

Die Physiotherapeuten sind da. Sie betreten den kleinen Raum der Intensivstation. Der eine ist groß, sportlich etwa in meinem Alter und hat ein sympathisches, sehr bodenständiges Gesicht. Er sieht aus, als könne er Bäcker sein, vielleicht sogar ein Bauer oder ein KFZ-Mechaniker. So etwas ähnliches sind Physiotherapeuten ja auch. Sie bringen eingerostete, schrottreife Karosserien wieder in Gang. Hoffe ich zumindest.
        »Guten Morgen«, sagt der Therapeut. »Ich heiße Alfred. Wir machen jetzt Physiotherapie«. In seiner Stimme klingt ein humorvoller Unterton durch. Um seine Augen liegt ein Lächeln. »Heute arbeiten wir mit dem Stryker«, sagt er. Seine Stimme hat einen leichten oberösterreichischen Akzent, aber er spricht nicht in der breiten Mundart, die in diesem Bundesland üblich ist.
Mit dem Rutschbrett ziehen sie mich auf den Stryker. Genaugenommen zieht der Eine, und der Andere schiebt. Es tut mir nicht weh, aber ich fühle mich unsicher, habe ein bißchen Angst. Ich weiß nicht, was jetzt genau mit mir geschehen wird und ob ich es aushalten werde. Ich habe auch meine Zweifel, ob es etwas nützt. Ich kann mir bicht vorstellen, dass ich meine Lähmung besiegen kann, indem man mich auf eine Liege schnallt.
  »Brauchen Sie einen Polster?« fragt mich Alfred.
        Ich nicke. »Ja, bitte«, sage ich. Ich weiß zwar nicht, ob ich den Polster brauche, aber ich fühle mich bei dem Gedanken, ein Kissen unter dem Kopf zu haben, wohler. Vielleicht kippe ich ja nach hinten um und lande wenigstens weich.
    Das wird nie etwas, denke ich und versuche, nicht zu weinen. Ich reisse mich wirklich zusammen. Es ist für mich unvorstellbar, jemals wieder gehen zu können. Das alles hier bringt nichts. Ich werde für den Rest meines Lebens vom Kopf abwärts gelähmt bleiben. Für immer. Ich werde nie wieder schreiben, zeichnen oder schwimmen können. Ein Gefühl der Angst erfasst mich. Es zentriert sich in meiner Brust und sendet kalte Vibrationen durch meinen Körper. Ich spüre die Angst an der Kopfhaut und in der Kehle. Sie schnürt mir den Hals zu. Ich atme durch den Mund. Später einmal wird mir eine Ergotherapeutin sagen, dass das die Fluchtatmung ist. Ein Überbleibsel aus der Urzeit. Schnell durch den Mund atmet man nur, wenn der Tiger schon zum Sprung ansetzt, damit man rechtzeitig die Flucht ergreifen kann.
    Alfred legt mir ein weißes Kissen unter den Hinterkopf. Auf diesem Kissen habe ich gerade noch geschlafen und von einem Wohnwagen in der Wüste geträumt. Durch den Polster fühle ich mich auch nicht wohler. Die Krankenschwester Hedita steht neben mir und lächelt mich an. Sie hat schöne große Augen und ist immer gut gelaunt, aber nicht gekünstelt. Ich glaube, sie ist verheiratet. Ich denke mir, ich bin ein Trottel, dass ich mir in meiner Situation über so etwas Gedanken mache. Schließlich bin ich hier ja nicht auf Brautschau. Aber Hedita ist zweifelsohne ein Lichtblick in meinem schwarzen Abgrund der Angst.
    »Was müssen wir jetzt noch machen?« fragt sie mich. Sie ist in der Hocke, um etwas vom Boden aufzuheben.
    »Mich anschnallen«, sage ich.
    Hedita lacht. Sie lacht immer, wenn ich das sage. »Ja. Die Gurte befestigen.« Das scheint so eine Art Fachausdruck zu sein. Man schnallt sich ja eigentlich im Auto an. Sie befestigt die Gurte an mir. Eines der breiten Bänder kommt über die Knie und das andere über die Brust. Alfred kontrolliert das Ganze und zieht die Gurte zu, aber nicht zu fest. Meine Füße stehen auf einer Platte, die mit der roten Liege verbunden ist.
    »Wir starten ganz langsam«, sagt Alfred. »Wenn Sie schwindlig werden oder Probeme mit dem Kreislauf bekommen, sagen sie es. Okay?«
    Ich nicke. »Ja«, sage ich knapp. Eigentlich presse ich das Wort eher aus mir heraus, als dass ich es ausspreche. Ich bin sehr angespannt. Obwohl ich gelähmt bin, verspanne ich mich. Keine Ahnung, wie mir das gelingt. Mir kommt alles wie ein Traum vor. Vielleicht ist es ja einer. Seit ich in diesem Horrorfilm aufgewacht bin, kann ich Traum und Wirklichkeit nicht mehr gut unterscheiden. Besonders in meinen Träumen denke ich mir oft, dass alles wirklich geschieht. Wenn ich nach einer Darmoperation, die im Wohnzimmer einer unfreundlichen alten Dame im Nachbarhaus durchgeführt wird, aufwache, bin ich ganz überrascht, wieder im Krankenhaus zu sein. Ich habe doch genau gespürt, wie die riesigen chirurgischen Instrumente in mir arbeiten und das Blut aus meinem Körper strömt. Jetzt allerdings geschieht nichts Grauenhaftes, also ist es wohl doch kein Traum.
     Alfred nimmt die Fernbedienung mit dem Kabel in die Hand. »Auf geht’ s«, sagt er.
  Ich höre ein Summen unter mir. Dann spüre ich eine leichte Vibration, als der Motor des Stryker zu arbeiten beginnt. Ein leichter Ruck, und ich beginne mich aufzustellen. Genaugenommen stellt mich der Stryker auf, ich selbst bewege mich nicht einen Zentimeter. Meine Perspektive ändert sich, ich werde groß. Ich bin nicht mehr flach und sehe die Welt von unten. Auch bin ich nicht mehr umringt von Menschen, die zu mir heruntersehen und mir versichern, dass es wieder wird. Es wird schon wieder, aber es dauert.
    Erinnerungen steigen in mir auf. Ich fühle mich, als würde ich selbst aufstehen, ein Erlebnis, das erst wenige Wochen her ist. Ich weiß gar nicht, wie lange ich schon hier bin, in China, oder doch in Vöcklabruck. Oder ist es ein Krankenhaus in Mariazell in der Steiermark? Bin ich in London? Nein, das ist nur in meinen Träumen so. Ich bin auf der Stroke Unit der Intensivstation des Landeskrankenhauses Vöcklabruck in Oberösterreich. Und ich liege auf einer Art rotem Ledersofa, angeschnalt, und werde aufgestellt.
    Auf einmal sehe ich die Welt wieder von oben. Die Welt ist ein weiß gestrichenes Zimmer mit einem breiten Kasten mit Regalbrettern, in dem sich verschiedene medizinische Gegenstände befinden: Plastikschachteln mit Gummihandschuhen für die Schwestern und Pfleger in den Größen S, M und L. Schläuche mit Plastiksäckchen für den Katheter, Verbände, Mullbinden und so weiter. Außerdem ein großer Apparat mit Schläuchen, durch die bei der Dialyse mein Blut fließt. Ich fühle mich nicht gut. Es ist ein Gefühl der Beklemmung, ich kann nicht richtig denken, alles erscheint mir so fremd, so ungewohnt und bedrohlich. Mein ganzes Leben ist aus den Fugen geraten. Eigentlich sollte ich zu Hause am Wohnzimmersessel sitzen und Bier saufen, wie ich es mein halbes Leben getan habe. Ich sollte eigentlich Bücher schreiben, die den literarischen Wert eines Stücks Klopapiers haben. Sogar einen Abgabetermin für einen Western habe ich. Den muss ich bis Herbst schreiben, aber ich fürchte, diesen Termin müssen wir verschieben. Ich kann gerade nicht tippen. Verdammt nochmal, ich kann mich nicht einmal am Arsch kratzen.
Trotz aller Strapazen mit dem Kreislauf, ist es ein schönes Gefühl, im Stryker zu stehen, zumindest die ersten paar Minuten. Meine Lage erscheint mir dann nicht so aussichtslos und ich habe wieder die Hoffnung auf ein normales, nicht gelähmtes Leben. Diese Hoffnung ist zwar nur sehr klein, aber sie ist da und gibt mir die Kraft, nicht vollkommen zu verzweifeln und mich auzugeben. Und ich weiß, spätestens, wenn ich wiederflach im Bett liege, geht es mir wiederbesser und ich kann ein bisschen optimistisch sein und mich zumindest in meinen Gedanken mit anderen Dingen beschäftigen.
Heute ist meine Erinnerung an die Zeit auf der Intensivstation nur sehr verschwommen. Ich habewohl viel verdrängt. Zwar hätte ich gerne mehr Material für meinen Blog, aber die Erinnerung ist schmerzhaft. Ich bin wohl noch immer zu krank, um die traumatischte Zeit meiner Krankengeschichte wieder aufleben zu lassen. Dann müsste ich ja alles noch einmal durchleben, und dazu fehlt mir momentan die Kraft.
Natürlich werde ich weiterbloggen und alles, so gut ich kann, festhalten. Das kann ich inzwischen ja auch körperlich schon wieder recht gut. Mich festhalten. Das reduziert meine Angst hinzufallen, wenn ich aus dem Rollstuhl aufstehe.
Sicher liegt viel Wahres in dem Spruch "Man muss auch loslassen können", aber sagen Sie das mal einem Patienten mit Guillain-Barré-Syndrom. Wir sind froh, wenn wir uns festhalten können.
Heute blicke ich mit viel Dankbarkeit auf die wunderbare Arbeit meiner Therapeuten Wolfgang, Alfred und den anderen zurück und kann es kaum glauben, dass sie es geschafft haben, mich aus dem Zustand der totalen Lähmung dazu zu bringen, dass ich diese Zeilen schreiben kann.

Dienstag, 18. November 2014

An alle Verzweifelten: Ein Mutmacher

Sie  werden wieder gesund!
Glauben Sie mir. Verzweifeln Sie nicht, und geben Sie nicht auf. Auch, wenn Sie gerade noch in einer Phase der Krankheit sind, in der Sie nicht glauben können, jemals wieder Ihre Arme bewegen oder sogar gehen zu können, wenn Sie gerade an Unmengen von Schläuchen hängen, die Sie mit Medikamenten versorgen, wenn Sie die Dialyse über sich ergehen lassen müssen und ständig durstig sind, wenn man Sie andauernd mit Nadeln sticht oder Sie sogar einen künstlichen Darmausgang haben, denken Sie immer daran und vergessen Sie es nie:
Sie werden wieder gesund!
Ich schreibe diese Zeilen mit meinem linken Zeigefinger auf meinem iPad. Ich kann mittlerweile, 17 Monate nach dem Ausbruch meiner Krankheit, zwar schon mit beiden Zeigefingern tippen, aber momentan ist meine Lage dafür nicht geeignet. Ich liege mit leicht angewinkeltem Rückenteil im Bett meines Zimmers des Behindertendorfs Altenhof in Oberösterreich. Tagsüber sitze ich in einem elektrischen Rollstuhl, lese E-Books oder gehe zu meinen Therapien. Meinen Oberkörper kann ich gut bewegen, nur die Finger wollen noch nicht so recht. Meine Rumpfstabilität ist sehr gut, ich kann problemlos querbett sitzen und aus dem Rollstuhl ohne große Mühe aufstehen, wenn ich mich dabei an den Griffen eines Rollators festhalte. Ich stehe noch sehr wacklig, schaffe es aber zwei Minuten freihändig mit Ausbalancieren. Dabei sehe ich ziemlich cool aus. Wie ein Surfer.
Vor 17 Monaten war ich noch vom Hals abwärts vollständig gelähmt. Vor zehn Monaten auch noch fast, konnte aber schon tippen. So ging es Schritt für Schritt bergauf. Immer wieder gab es neue Erfolge, immer nur kleine, und ich vergesse sie schnell wieder und auch, wie schlecht es mir im Juni 2013 noch ging. Im Vergleich dazu bin ich heute ein neuer Mensch.
Sie lesen gerade eine kurze Schilderung der Ereignisse, die auch Ihnen bevorstehen. Wenn Sie noch in einem sehr schweren Stadium der Krankheit sind und sich gar nicht bewegen können, macht Ihnen meine Geschichte vielleicht Mut. Das ist übrigens der Grund, warum ich diese Zeilen schreibe. Als die Krankheit bei mir ausbrach und ich auf der Intensivstation aufwachte, wusste niemand etwas über das Guillain-Barré-Syndrom. Selbst die Ärzte konnten keine genauen Prognosen geben. Sie wussten nicht, ob ich nicht vielleicht den Rest meines Lebens gelähmt bleibe.
Ich blieb es nicht. Zwar kann ich noch nicht gehen, weil ich zu wenig Kraft und kein Vertrauen in meine Beine habe, aber mein Physiotherapeut ist zuversichtlich. Ich auch.
Aber damals, als ich erwachte und mir nicht einmal den Namen meiner Krankheit merken konnte, habe ich mir gewünscht, ich hätte mehr Informationen über das Guillain-Barré-Syndrom. Ich glaube, nur wenigen Patienten geht es so, dass sie von den Krankenschwestern- und Pflegern gefragt werden, was das eigentlich für eine Krankheit sei. Die medizinischen Informationen, die mir die Ärzte gaben reichten mir. Vielleicht liegt das daran, dass ich der Sohn eines Arztes und einer Diplomkrankenschwester bin. Ich hatte zumindest keine Probleme mit den Fachbegriffen. Aber im Grunde reicht es aus zu wissen, dass beim Guillain-Barré-Syndrom das eigene Immunsystem den Körper angreift und die Isolierschicht der Nerven zerstört. Diese Isolierschicht heilt wieder. Etwa einen Millimeter pro Tag. Ich bin 1,  80 groß. Sie können sich also vorstellen, wie lange das dauert.
Betroffen ist beim Guillain-Barré-Syndrom nur das periphäre Nervensystem, das heißt, das Hirn und das Rückenmark werden nicht in Mitleidenschaft gezogen.
Die Gespräche mit den Ärzten waren für mich also immer sehr informativ. Aber ich kannte keine Erfahrungsberichte von Betroffenen. Damals konnte ich mich nicht bewegen, also hatte ich keine Möglichkeit, mich durch das Internet schlau zu machen. Inzwischen habe ich einige E-Books zu dem Thema gelesen. Um zu demonstrieren, wie selten und unbekannt diese Krankheit ist, sage ich Ihnen, dass es auf der Kindle-Seite von Amazon nur vier Seiten mit Büchern zum Guillain-Barré-Syndrom gibt. Die meisten davon sind medizinische Fachliteratur über Neurologie und Anästhesie.
Wie viel hätte ich damals dafür gegeben, mehr über diese Krankheit zu wissen? Wie viel Angst, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit wären mir erspart geblieben? Und Tränen, die ich mir nicht abwischen und eine Nase, die ich mir nicht putzen konnte. Hätte ich doch nur mehr über den Krankheitsverlauf und die Schicksale anderer Patienten gewusst.
Natürlich gibt es auch Menschen, die nicht geheilt werden. Es kann passieren, dass schwere Behinderungen und starke Schmerzen zurückbleiben, aber das ist nur sehr selten der Fall. Im Frühstadium kann man auch am Guillain-Barré-Syndrom sterben. Wenn die Lunge gelähmt ist und man nicht künstlich beatmet wird. Ich wurde rechtzeitig beatmet, sonst wäre ich erstickt. Außerdem hatte ich eine schwere Darmsepsis mit massiven Blutungen und ein Nierenversagen. Das alles hätte mich fast umgebracht Acht Monate später kam noch eine Tiefenvenenthrombose dazu, allerdings ohne Lungenembolie.
Todesfälle durch das Guillain-Barré-Syndrom sind allerdings sehr selten und treten im Anfangsstadium der Akutphase auf. Da Sie diese Zeilen gerade lesen oder vorgelesen bekommen, sind Sie über die unmittelbare Lebensgefahr schon hinaus.
Vielleicht geht es Ihnen so wie mir, dass Sie es nicht mehr hören können, wenn jemand sagt: "Das wird wieder, aber es dauert". Vielleicht können Sie es nicht glauben, weil die Erfolge so klein sind, so selten und zeitlich so weit auseinanderliegen. Sicher haben Sie es schon erlebt, dass Sie einen Finger ein winziges Bisschen bewegen konnten und dachten: "Jetzt werde ich gesund." Sicher haben Sie sich, genauso wie ich, wahnsinnig darüber gefreut, haben alle Sorgen über Bord geworfen und sind zum ersten Mal seit langer Zeit mit einem Lächeln eingeschlafen. Vielleicht war es nur ein inneres Lächeln, weil Sie eine Gesichtslähmung hatten, was mir, Gott sei Dank, erspart geblieben ist.
Und dann geschah wochenlang gar nichts. Diese Phasen sind extrem zermürbend und demoralisierend. Aber die Phasen des Stillstands gehen vorbei und neue Erfolge stellen sich ein. Die Fortschritte werden Sie nicht mit Siebenmeilenstiefeln machen, sondern im Schneckentempo. In Superzeitlupe mit Standbildfunktion. Ich war oft am Rande der Verzweiflung, habe geweint und gezittert. Aufgegeben habe ich nie. Der Funke der Hoffnung war immer da. Ich hatte das Glück, dass mir beim Aufwachen auf der Intensivstation der Arzt sagte, dass meine Krankheit heilbar sei. Noch bevor er mir sagte, dass ich am ganzen Körper gelähmt bin. Dadurch war der Schock nicht so groß.
Denken Sie bei allen Widrigkeiten, die diese Krankheit mit sich bringt: "Das gehört zum Gesundwerden dazu." Denken Sie es bei der nächsten Nadel, die in Ihren Körper gestochen wird. Bei Nerven- und Muskelschmerzen. Bei Scherereien mit dem Blasenkatheter. Bei Harnwegsinfekten. Vor Operationen und danach.
Wenn Sie die Anfangsphase überlebt haben, geht es nur noch bergauf.  Es kann Monate und Jahre dauern, ganz sicher wird die Krankheit viele Veränderungen in Ihr leben bringen. Die Fortschritte kommen: Der erste Finger, den sie wieder bewegen können. Das erste Mal, wenn es Ihnen gelingt, den Notfallknopf zu drücken, um eine Krankenschwester zu rufen. Das erste Querbettsitzen. Das erste Aufstemmen mit den eigenen Armen. Die ersten Bewegungen der Beine. Das erste Aufstehen am Stehtisch. Die wiedergewonnene Mobilität durch einen Rollstuhl. Selber essen können. Sich selber waschen. Das erste selbstständige Aufstehen aus dem Rollstuhl. Freihändiges Stehen. Gehen. Gehen. Gehen.
Heute weiß ich, dass die Heilungschancen ausgezeichnet sind. Die überwältigende Mehrheit der Menschen mit dem Guillain-Barré-Syndrom erholt sich wieder. Die Aussicht, wieder auf die Beine zu kommen und das Leben anzupacken ist wolkenlos und sonnig.
Wenn Ihre Angst, Ihre Traurigkeit und Ihre Hoffnungslosigkeit am größten sind: Verzweifeln Sie nicht, fürchten Sie sich nicht, und geben Sie nicht auf.
Sie werden wieder gesund!

Samstag, 15. November 2014

Im Behindertendorf

Es sieht aus wie eine Ferienhaussiedlung. Hier könnte man einen wunderschönen Urlaub verbringen. Nur das Meer fehlt. Und die ausgelassene Stimmung. Man hört kein Kindergeschrei, riecht nicht den Duft von Pizza und Cevapcici. Auf den kleinen Straßen, die von Nussbäumen und Pappeln gesäumt werden, kommen einem keine Menschen mit Luftmatratzen und Sonnenhüten entgegen.
Die Menschen, die man hier in Altenhof am Hausruck auf den Straßen antrifft, fahren in elektrischen oder konventionellen Rollstühlen, manche davon liegen flach ausgestreckt auf ihren Sitzen, andere gehen mit Rollatoren oder Krücken herum. Einige können nicht sprechen oder nur schwer verständliche Laute von sich geben. Diejenigen, die auf ihren eigenen Beinen die Wege beschreiten, sind meist Therapeuten oder Krankenschwestern- und Pfleger.
Aber bei all den Schicksalen, die den Bewohnern des Dorfes ins Gesicht geschrieben stehen, liegt noch etwas anderes in der Luft, das sich nur schwer beschreiben lässt.
Ich würde es am ehesten einen Klang der Fröhlichkeit nennen. Vielleicht interpretiere ich das falsch oder sehe es durch eine Brille des Mitleids, aber ich glaube nicht. Wenn ich darüber nachdenke, muss ich sagen, dass ich nirgendwo sonst so vielen gut gelaunten Menschen begegnet bin. Ich weiß, dass die meisten von ihnen schwer krank sind, aber diese Athmosphäre der heiteren Freundlichkeit scheint mir hier allgegenwärtig zu sein.
Bei einigen Bewohnern habe ich mich schon oft gefragt, wie sie es machen, oft in einer sehr heiteren Stimmung zu sein. Ich komme mir dann klein und wehleidig vor, wenn ich mit meinen vergleichsweise geringen Problemen fast verzweifle und keine Hoffnung auf Besserung mehr habe. Viele arbeiten auch. Es gibt eine Werkstatt, in der Lederwaren wie Taschen und Geldbörsen hergestellt werden. Es sind sehr schöne Arbeiten. Außerdem gibt es ein Kunstatelier, ein Kaffeehaus und eine Gärtnerei.
Ich höre die Menschen auch oft lachen. Eine Stimmung der Verzweiflung und Trostlosigkeit sucht man hier vergebens. Natürlich weiß ich nicht, wie es in den Köpfen und Herzen der Menschen von Altenhof aussieht, und ich frage mich, ob die Traurigkeit und die Schwermut sie überfallen, wenn sie allein in ihren Zimmern sind. Mir geht es oft so. Besonders, seit meine Mutter gestorben ist.
Draußen auf den schmalen Wegen und den kleinen Plätzen ist es jedenfalls nicht so. Besonders auffällig ist die Aura der Geschäftigkeit. Jeder hat etwas zu tun. Niemand sitzt nur traurig herum. Ich habe auch nie das Gefühl, verzweifelten oder gebrochenen Menschen zu begegnen. Das Symbol des Behindertendorfes Assista Altenhof ist eine Sonne. Ich habe immer den Eindruck, diese Sonne strahlt mir von den Menschen hier entgegen. Nicht nur von den Bewohnern, sondern auch von den Mitarbeitern. Alle sind freundlich, grüßen und viele lächeln dabei. Und das ist alles echt. Nichts davon wirkt aufgesetzt oder gespielt.
Altenhof ist ein schöner Ort. Ein Ort, der Mut macht.

Mittwoch, 12. November 2014

Vom Leben und Überleben

Ich kann es mir schon gar nicht mehr vorstellen, wie es ist, gesund zu sein und einfach gehen zu können. All die schönen Wege, die ich einst beschritten habe, sind nur noch Pfade der Erinnerung, auf denen meine Spuren verblassen. Die Spaziergänge am Attersee und an der Adria in Kroatien, den Rosenwind oder die Bora auf meinem Gesicht zu spüren. Das knirschende Geräusch von Schnee unter den Sohlen meiner Stiefel zu hören.
Und dabei atmen um zu leben, nicht nur um zu überleben.
All diese Selbstverständlichkeiten von früher erscheinen mir jetzt wie unwiederbringliche Schätze. Erlebnisse, die ich nicht einfach noch einmal haben kann. Auf einem Sessel zu sitzen, mich nach vorne zu beugen, die Hände auf die Oberschenkel zu legen und einfach aufzustehen. Einfach so. Als wäre es etwas Alltägliches und Bedeutungsloses. Nun, etwas Alltägliches ist es wohl, aber als etwas Bedeutungsloses werde ich diese Fähigkeit wohl nie wieder betrachten können. Und ganz bestimmt nicht als eine Selbstverständlichkeit.
Der Gedanke, dass ich zu Fuß ins Hauptgebäude zu den Therapien gehe oder ins Kaffeehaus, ist für mich zwar vorstellbar, und ich kann mich leicht vor dem inneren Auge sehen, wie ich das tue, aber ich glaube nicht, dass das jemals möglich sein wird. Es ist einfach zu lange her, dass ich normal gehen konnte. Man stellt es mir zwar in Aussicht, aber mir kommt es leichter vor, zum Mars zu fliegen, als auch nur einen einzigen Schritt zurück ins Leben zu machen.
Mein ganzes Leben lang war es für mich eine Selbstverständlichkeit, zu gehen und zu stehen. Nie hätte ich gedacht, dass ich, falls ich durch einen Unfall oder eine Krankheit gelähmt sein sollte, davor Angst haben würde, das Gehen wieder zu lernen.
So unerträglich das Leben im Rollstuhl und mit einem Dauerkatheter auch ist, so sehr fürchte ich, den Schritt in die Selbstständigkeit zu machen. Ich habe bisher mit niemanden darüber geredet, und es hat mich auch nie jemand darauf angesprochen. In all den Monaten nicht. Kein Arzt, keine Krankenschwester, kein Pfleger, keine Therapeutin und kein Therapeut ist jemals auf die Idee gekommen, dass ich Angst davor haben könnte, wieder gesund zu werden und auf die Beine zu kommen. Alle gehen davon aus, dass es eine Selbstverständlichkeit ist, wieder gesund werden zu wollen. Ich frage mich, ob es anderen Patienten auch so geht. Ob andere Menschen mit dem Guillain-Barré-Syndrom oder einer ähnlichen Erkrankung die Freude am Gesundwerden und Gehen können anzweifeln?
Stellen sich andere Menschen auch die Frage, ob es einen Sinn hat, wieder gehen zu können, wenn man seinen Weg doch nicht findet?
Kein Mensch mit zwei gesunden Beinen würde mit mir tauschen wollen. Niemand würde ein freies Leben einem Dasein in Gefangenschaft im eigenen Körper vorziehen. Auch ich hätte das früher nicht getan und jeden für verrückt gehalten, der mir gesagt hätte, dass ich genau das einmal tun würde.
Und dennoch mache ich das. Wenn ich in der Früh verängstigt aufwache und mich vor dem fürchte, was mir der Tag bringen wird, wenn ich daran denke, dass ich wieder Stunden der Freudlosigkeit und Angst vor mir habe und wieder den ganzen Tag im Rollstuhl an meinem Schreibtisch sitzen und darauf warten werde, dass der Tag vorbei geht und ich wieder ins Bett kann, wo ich mich zumindest einigermaßen sicher fühle, ziehe ich dieses Überleben, das ich schon lange nicht mehr als Leben betrachten kann, doch einer ubgewissen Zukunft auf eigenen Beinen vor. Die Angst vor dem Bekannten ist leichter zu ertragen als die Angst vor dem Unbekannten.
Ich lebe nicht, ich überlebe. Trotzdem werde ich nicht aufgeben, meinen Weg zu finden.
Ich will nicht auf der Suche nach meinem Weg auf der Strecke bleiben.

Sonntag, 26. Oktober 2014

Der Tod, der Schatten und der Schnee

Hier ein Auszug aus meinem Tagebuch. Über solche Dinge macht sich ein Mensch mit dem Guillain-Barré-Syndrom Gedanken. Ich zumindest.

18:34
Bett

Wieder im Bett, wieder froh, dass der Tag vorbei ist. Ich bin traurig darüber, dass ich mich darüber freue. Lieber wäre es mir, wenn ich mich darüber freuen könnte, dass ein neuer Tag beginnt. So wie früher, vor langer Zeit, als ich noch ein Kind war. Damals habe ich es , wenn ich schlafen gegangen bin, gar nicht erwarten können, wieder aufzuwachen. Jeder Tag war für mich der Beginn eines neuen Lebens. Das Leben war neu, und der Tod in weiter Ferne. Eigentlich gab es den Tod damals gar nicht. Höchstens in Wildwestfilmen. Aber nicht als reale Bedrohung und Wegbegleiter. Er war höchstens ein vager Gedanke an irgendetwas, das irgendwann passieren wird, wenn man sehr alt ist. Bis dahin ist noch viel Zeit, eine Ewigkeit, ein ganzes Leben.
   Jetzt ist der Tod kein weit entfernter, fast nicht wahrnehmbarer Schatten mehr. Er ist für mich vielleicht nicht allgegenwärtig, aber seine Präsenz ist spürbar. Der Tod macht sich im Leben zuerst als jemand bemerkbar, der einem das wegnimmt, was man am meisten liebt.
   Mama und Papa sind tot. Mein Vater ist vor dreizehn Jahren gestorben, meine Mutter dieses Jahr im August. Die Unbeschwertheit meiner Kindheit ist tot, das innere Kind in mir. Ich hoffe zwar, dass es noch lebt, aber ich bin mir nicht sicher. Höre ich seine heitere, hoffnungsfrohe Stimme noch, oder ist das nur das Echo eines Gespenstes? Meine jetzige Stimme ist es jedenfalls nicht. Wenn ich heute lache, dann nicht mehr aus Heiterkeit, sondern als Versuch, den Schatten zu verjagen.
   Die Angst lähmt mich inzwischen mehr, als es das Guillain-Barré-Syndrom jemals geschafft hat. Als ich auf der Intensivstation lag, wollte ich wieder gehen können. Jetzt könnte ich, traue mich aber nicht. Das hätte ich damals nicht gedacht.
   Wenn die Angst weggeht, verschwinden alle Probleme. Dann kann ich mich wieder meinem Leben zuwenden. Heute habe ich gelesen, dass es nur zwei angeborene Ängste gibt: Die Angst vor dem Fallen und die Angst vor plötzlichen lauten Geräuschen. Alle anderen Ängste sind angelernt, und können daher auch wieder verlernt werden. Dieser Gedanke gibt mir Hoffnung. Ich kann meine Angst verlernen. Jetzt muss ich nur noch herausfinden, wie.
   Ich verabscheue den Spruch "Lebe jeden Tag, als wäre er dein letzter". Es gibt Menschen, leider auch viele junge, die ihn zu ihrem Lebensmotto gemacht haben. Ich finde, man sollte jeden Tag leben, als wäre er der erste im Leben. Ist es nicht viel schöner, jeden neuen Tag als den Beginn eines neuen Lebens zu betrachten? Als Weckruf in ein großes Abenteuer? Jeder Tag steckt voller neuer Chancen und Wege. Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne. So sagte es Hermann Hesse.
Leider habe ich diese Einstellung verloren. Das innere Kind ist verwaist. Aber vielleicht schläft es nur.
   Vielleicht wacht es wieder auf, kniet sich ans Fußende seines Bettes, sieht zum Fenster hinaus und freut sich über den ersten Schnee.

Samstag, 18. Oktober 2014

Absolutes Glück

Das Glück ist vollkommen.
Da das menschliche Hirn nicht multitaskingfähig ist und in einem Augenblick nur eine Wahrnehmung haben kann, bedeutet das, dass jedes Glück absolut ist. Jede Glücksempfindung und jede Freude sind ungetrübt und einhundertprozentig. Das Hirn kann sehr schnell umschalten, in Sekundenbruchteilen. Dann stellen sich oft negative Gedanken ein, die das Glück scheinbar trüben. Aber eben nur scheinbar.
Im Augenblick des Glücks ist jedes Glück vollkommen.
Das ist doch ein Gedanke, den festzuhalten es sich lohnt. Ich war oft in der Situation, in der ich nicht mehr weiterwusste und mir gewünscht habe, am nächsten Tag nicht mehr aufzuwachen. Aber selbst auf den dunelsten Irrwegen meiner Reise durch die Nacht, war immer wieder ein Gedanke da, der mir Kraft gegeben hat.
Das Leben kann schön sein. Es gibt sie, die schönen, von Glück und Lebensfreude erfüllten Momente. Sie sind da, genau wie der Weg. Man muss ihn nur gehen, selbst, wenn er tief in die dunkle Nacht der Seele führt.
Und Glücksmomente muss man abwarten. Aussitzen im Rollstuhl. Ausliegen auf der Intensivstation mit einer Atemmaske im Gesicht und tausend Schläuchen in den Venen. Austräumen, in den Folterkellern und Wüstenlandschaften des Guillain-Barré-Syndrom. Man muss einfach darauf vertrauen, dass die schönen Erlebnisse bereits auf einen warten, dass sie da sind und geduldig darauf vertrauen, dass man an sie glaubt.
Wer den Glauben an das Glück verliert, stirbt.
Wenn auch nicht unbedingt körperlich, dann bedingungslos seelisch. Die menschliche Seele ist empfindlicher als die dünnste Myelinschicht. Die Seele hat keine Knochen, die sie selbst während der Lähmung einer Tetraparese stützen und auch keine Muskeln, die sich von der Atrophie wieder erholen können. Sie hat keine Lunge, die man künstlich beatmen kann und sie kann auch nicht in ihrem eigenen Blut schwimmen, wenn ihr Darm fast zerplatzt.
Mein Körper kann das alles. Er war an diesen finsteren Orten, aber er hat sie wieder verlassen. Die Lähmung und das Blut hat er abgeschüttelt. Aber meine Seele hinkt. Noch immer. Ein Teil von ihr liegt immer noch auf der Intensivstation. Ein anderer Teil ist gestorben und zu Asche verbrannt und liegt bei meiner Mutter unter einer Hainbuche in Graz.
Aber der Weg lebt weiter. Er ist da. Immer noch. Der Weg, der mich auf meiner Reise durch die Nacht führt, ist ein atmender lebender Organismus.
Er ist der Weg des Lebens.
Klingt wie eine Predigt, finden Sie nicht? Vielleicht ist es sogar eine. Willkommen in der Kirche der akuten inflammatorische demyelinisierenden Polyneuropathie Guillain-Barré-Syndrom. Ziemlich umständlicher Name für eine Glaubensgemeinschaft. Ich will auch gar keine Predigt halten, sondern Sie einfach nur daran erinnern, dass die Straße des Glücks mit glühenden Kohlen gepflastert ist. Egal, ob Sie selbst an GBS leiden oder nicht, denken Sie immer an eines:
Wer den Glauben an das Glück verliert, stirbt.
Unser Hirn verliert diesen Glauben nicht. Ich habe Menschen mit schwersten Körperlichen Behinderungen kennengelernt, die trotzdem noch in der Lage waren, Freude und Glück zu empfinden. Vielleicht sogar gerade deswegen. Ich glaube, wenn die Welt sich um einen herum weiterdreht und weiterlebt, während man selbst zu einem bewegungsunfähigen Körper reduziert wird, sind es gerade diese scheinbar bedeutungslosen und alltäglichen Erlebnisse, die einen nicht verzweifeln lassen.
Da ist zum Beispiel die Putzfrau auf der Intensivstation, die zu mir sagt: "Mit ein bisschen Wünsch geht alles!" Ich schreibe bewusst, dass sie es zu mir sagt und nicht, dass sie es zu mir sagte. Denn ihre Worte höre ich noch immer. Oft, wenn ich wieder zu verzagen drohe, höre ich sie. Danke.
Oder der Primar der Neuro, der auf meine Frage, ob wir eine schmerzhafte Muskeluntersuchung mit langen Nadeln, die tief ins Fleisch gestochen werden, auch bleiben lassen können, zu mir sagt: "Ja, sicher!" und mich dabei anlächelt.
Der Patient mit der Gesichtslähmung, mit dem ich mich über meine Krankheit unterhalte und erzähle, dass ich am Anfang am ganzen Körper gelähmt war, meint: "So ein Blödsinn, was es so alles gibt." Ich fand das sehr erfrischend, weil dieser sympathische und witzige 70jährige Mann eine Krankheit nicht als Schciksalsschlag oder Katastrophe bezeichnet, sondern schlicht als Blödsinn. Und er hat ja auch recht.
Stopf dir das in den Rachen und friss es, Guillain-Barré-Syndrom: Du bist nichts weiter als einfach nur Blödsinn.
Vielleicht hilft es Ihnen, so zu denken, mir hat es jedenfalls geholfen.
Diese Erlebnisse, die Fähigkeit meines Hirns jedes Glück als absolut vollkommen zu erleben, das Wissen, dass der Weg da ist und die Worte der Putzfrau:
"Mit ein bisschen Wünsch geht alles."
Dieses bisschen Wünsch wünsche ich Ihnen auch, mein lieber Leidenskollege.
Und verlieren Sie Ihren Glauben an das Glück nicht, sonst verlieren Sie Ihr Leben.

Samstag, 11. Oktober 2014

GBS - Mein Stratosphärensprung

Oft fällt es mir schwer, meine Erfolge und Fortschritte zu sehen. Im Laufe der letzten zehn Monate habe ich so viele Dinge erlebt, die mich beunruhigt, erschrocken, verängstigt und entsetzt haben, dass die Erinnerung daran oft die Sonnenseiten meines Krankheitsverlaufs überschatten. Ich will die Ängste, Schmerzen und die große Trauer nach dem Tod meiner Mutter jetzt gar nicht schildern, vielleicht mache ich das ein anderes Mal. Einiges davon kann man in meinen anderen Blogartikeln ja bereits lesen, und auch einen biographischen Text über mein Leben vor dem Guillain-Barré-Syndrom werde ich demnächst hier posten.
   Aber in meinem heutigen Beitrag möchte ich mich auf die positiven Entwicklungen meiner Krankengeschichte beschränken und von den kleinen Freuden, großen Hoffnungen und enormen Wundern berichten, die ich erfahren und erlebt habe.
   Eines vorweg: Die größten Wunder heißen Mama, Bruder, Verwandte, Ärzte, Krankenschwestern- und Pfleger, Therapeutinnen- und Therapeuten. Viele andere wären noch zu nennen, wie die Rettungssanitäter, die Leute von den Transportdiensten, die Zivis und FSJler und diejenigen aus der Technik und der Verwaltung.
   Aber dann gibt es noch die Fortschritte, die mir als Wunder der Heilung erscheinen. Bei all der Angst und Verzweiflung vergesse ich dann, dass ich mittlerweile Dinge tun kann, wie diesen Text mit beiden Zeigefingern in die Bildschirmtastatur meines Tablets zu tippen. Ich kann meine Arme, Hände und Beine bewegen, ich kann aufrecht sitzen ohne Angst haben zu müssen umzukippen, und ich kann selbstständig aus meinem E-Rolli aufstehen, indem ich mich an den Griffen eines Rollators festhalte und mit den Armen und Beinen hochstemme. Sicher, der Rollatur ist mit drei Zehn-Kilo-Hantelscheiben beschwert und mein Therapeut Wolfgang sitzt auch noch dahinter, um mich zu stützen, falls ich hinfalle.
   Aber ich kann aufstehen. Ich kann eine halbe Minute oder so stehen, ohne dabei das Gefühl zu haben hinzufallen oder schwindlig zu werden. Nur das freihändige Stehen klappt noch nicht. Dafür bin ich mir zu unsicher, und meine Beine sind zu wacklig. Zu schwach sind sie offenbar nicht.
   Wolfgang meint, mein Problem seien nicht so sehr die Muskeln, sondern die Angst. Damit hat er recht. Aber diese Angst zu überwinden ist sehr schwer. Oft glaube ich, dass ich es nicht schaffen kann, aber was mich dann doch motiviert, sind der phantastische Physiotherapeut und Jäger aus Gaspoltshofen Wolfgang, sowie der Gedanke, dass ich nicht mein Leben lang in diesem elektrischen Rollstuhl sitzen und Scherereien mit dem Katheter haben will. So cool der Rolli auch ist, aber letztlich will ich da wieder raus.
   Ein Beispiel für die Notwendigkeit der Angstüberwindung: Um aus dem Rollstuhl aufstehen und mich am Rollator abstützen zu können, muss ich den Schwerpunkt über die Unterstützungsfläche bringen. Das klingt nach physiotherapeutischem Fachchinesisch. Ist es auch. Übersetzt heißt das so viel, wie: nach vorne beugen. Um das zu tun und mich aus den Knien heraus aufzurichten, muss ich mich ein Stück nach vor fallen lassen. Ansonsten habe ich nicht genug Kraft, um auf die Beine zu kommen.
   Was harmlos klingt, ist für mich wie ein Stratosphärensprung. Als Kind konnte ich mich leicht auf die Knie fallen lassen und wieder aufstehen. Ich konnte sogar Purzelbäume schlagen. Ein Gedanke, der mir jetzt geradezu lächerlich absurd erscheint. Wobei...jucken würde es mich schon.
   Ich lasse mich also ein Stück nach vorne fallen und stemme mich dann hoch. Dabei fühle ich mich wie Phönix, der aus der Asche aufsteigt. Es ist ein unbeschreibliches Gefühl. Nie in meinem Leben hätte ich mir gedacht, dass es so phantastisch sein könnte, einfach nur aufzustehen. Wie oft habe ich das in meinem Leben gemacht und mir dabei gedacht, nein, nicht jetzt, ich möchte viel lieber sitzen bleiben. Jetzt sitze ich für meinen Geschmack schon zu lange und möchte aufstehen und gehen. Gehen kann ich zwar noch nicht, aber ich werde nicht aufgeben, weil die Aussichten wirklich gut sind.
   Ich wünsche mir gerade, dass Guillain-Barré-Syndrom-Patienten diesen Text lesen und vielleicht ein bißchen Hoffnung schöpfen. Oder noch besser: viel Hoffnung. Denn die gibt es, ich würde sie sogar als konkrete Hoffnung bezeichnen. Bei GBS gibt es einen Ausweg aus der Lähmung, aber der führt über den Kopf. Auch wenn man im Anfangsstadium nicht mehr als den Kopf bewegen kann, ist es letztlich entscheidend, was sich in diesem Kopf abspielt. Nützlich ist es, sich an das Gehen zu erinnern, oder besser gesagt, es zu visualisieren.
   Erinnern Sie sich an einen Augenblick in Ihrem Leben, in dem Sie gegangen sind.
   Am besten, Sie suchen sich ein besonders schönes Erlebnis. In meinem Fall ist es ein Spaziergang über Kieselsteine hin zu einer kleinen Halbinsel an der Adria in Kroatien. Sonnenzeit, unbeschwert und leicht. Oder ein Spaziergang in einem kleinen Waldstück in der Nähe von Seewalchen am Attersee. Wenn Sie an solche Erlebnisse denken, rufen Sie sich so viele Details wie möglich in Erinnerung, insbesondere das Gefühl unter ihren Fußsohlen oder Schuhen. Spüren Sie in Gedanken die Bewegungen Ihrer Beine, der Muskeln, des ganzen Körpers. Tun Sie das immer wieder, und seien Sie dabei so präzise wie möglich.
   So können Sie wieder zu einem Geher werden, einem Läufer, einem Wanderer. Wenn vorerst auch nur in der Erinnerung, aber Sie bekommen wieder ein Gefühl für das, was Sie verloren haben.
   Ich war vollständig gelähmt. Körperlich und seelisch. Nicht geistig. Mein Hirn hat die Krankheit verschont. Ich hatte auch keine Gesichtslähmung, wie viele GBS-Patienten. Ich konnte, denken, sprechen, hatte keine Schluckbeschwerden, konnte mit meinen Augen in alle Richtungen schauen und den Kopf ein bißchen nach links und rechts bewegen.
   Vom Hals bis zu den Zehen war ich tot. Zumindest kam ich mir so vor. Im Laufe der folgenden Monate habe ich immer wieder zu mir gesagt: »Ich bin kein Mensch mehr. Ich bin tot«. Nicht gerade motivierend, aber diese Gedanken konnte ich nicht verhindern. Zu groß war oft die Verzweiflung. Wenn ich auf der Intensivstation wegen der Dialyse nichts trinken durfte. Meine Nieren haben versagt, und alleine daran wäre ich fast gestorben.
   Wenn meine Hände auf der Brust lagen und ich wollte sie ausstrecken, hatte ich keine Chance. Zuerst konnte ich sie gar nicht bewegen, und als das Gefühl und die Kraft in den Schultern allmählich zurückkamen, war ich noch immer nicht stark genug, meine Arme seitlich vom Körper auszustrecken. Manchmal gelang es mir mit ruckartigen Bewegungen, meine Arme ein paar Zentimeter über die Brust und den Bauch zu bewegen, aber der Stoma an meiner rechten Bauchseite war ein unüberwindbares Hindernis. Für alle, die nicht wissen, was ein Stoma ist: ein künstlicher Darmausgang, also ein Loch in der Bauchdecke, an dem der Darm mit Klammern festgetackert ist. An der Haut klebt eine Plastikfolie mit einem Loch und einem Plastikring, und daran wird ein kleiner Plastiksack befestigt, der den Darminhalt auffängt. Meistens. Wenn nicht, ist Krankenschwester- oder Pfleger eine ziemliche Scheißarbeit. Aber wenigstens tut der Stoma nicht weh. Ich spüre ihn gar nicht. Er soll wieder rückoperiert werden, aber dafür muss ich noch mobiler werden. Oder, mit anderen Worten gesagt: den Thron selbst besteigen können. Doch lassen wir das. Es ist kein sehr appetitliches Thema. Allerdings ist mir der Appetit nie vergangen. Das hat diese Krankheit nicht geschafft.
   So lag ich also Tag und Nacht auf dem Rücken und wurde ab und zu zur Seite gedreht, damit ich mich nicht wundliege. Bei jeder Lagerung hatte ich das Gefühl, als würde mir jemand mit einem Vorschlaghammer einen Meissel in die rechte Hüfte schlagen. Das einzige, was noch schlimmer für mich war, als auf diesen Schmerz vorbereitet zu sein und ihn dann zu erleben, war, nicht darauf vorbereitet zu sein und davon aufzuwachen. Wenigstens war dieser Schmerz immer nur kurz, wirkte nicht nach und wurde auch nicht chronisch. Aber geplagt hat mich die Hüfte noch, bis ich zehn Monate später hier in Altenhof ein Keilkissen bekam, auf dem ich jeden Abend vier Stunden lang lag.
   Das Keilkissen ist jetzt weg, die Hüftschmerzen sind es auch. Danke, Wolfgang.
   Schmerzen, Verzweiflung, Durst, Ungewissheit, was die Zukunft bringen wird, Blutwäsche, Träume von der Wüste und vom Wassertrinken, und das alles bei vollkommener Reglosigkeit. Bewegungsunfähig. Angst. Der Ausblick durch ein riesiges Fenster auf den Parkplatz eines Supermarktes. Autos. Bewegung. Wegfahren. Nach Hause fahren. Tränen. Albträume, nur unterbrochen vom Meissel.
   Meine Mutter besucht mich. Ich sehe ihr liebevolles, freundliches Gesicht. Alles ist gut. Mama ist da. Sie streichelt meinen Kopf, tröstet mich. Ich bin glücklich.
   Jetzt bin ich es nicht mehr. Mama ist tot. Ihr Gesicht sehe ich nicht mehr, außer auf Fotos, die ich mich aber nicht anzuschauen traue, weil es zu schmerzhaft ist. Wenn ich sterbe, sehe ich sie wieder. So hat der große Tyrann der Menschheit, der Tod, für mich seinen Schrecken verloren.
   Danke, Mama.
   Die erste Bewegung, die ich mit meinen Händen machen konnte, war, den linken Zeigefinger minimal nach links und rechts zu bewegen. Ich konnte den Finger nicht einziehen, durch die Lähmung war er immer ausgestreckt. Aber, als ich das zum ersten Mal konnte und mit eigenen Augen gesehen habe, wusste ich: Jetzt werde ich wieder gesund. Ich konnte zwar meine Arme schon etwas anheben, aber die habe ich nie als vollständig gelähmt erlebt, weil ich die Schultern schon etwas bewegen konnte, nachdem ich auf der Intensivstation aufgewacht war. Wobei ich mir jetzt gar nicht mehr so sicher bin, ob das wirklich so war, aber, als ich den Zeigefinger bewegen konnte, schöpfte ich zum ersten Mal richtig Hoffnung. Das muss nach etwa drei Monaten Krankenhausaufenthalt gewesen sein. Auf der Neuro-Abteilung des Landeskrankenhauses Vöcklabruck in Oberösterreich.
   Inzwischen kann ich tippen, notdürftig mit der Hand schreiben, vier 1,5-Liter-Flaschen Coca-Cola Zero auf einmal vom Boden auf den Tisch heben, Suppe problemlos mit einem Löffel essen, mich waschen und in der Nase bohren. An meinem letzten Ergotherapietag im Krankenhaus, nach einem halben Jahr, brauchte ich noch eine dreiviertel Stunde, um ein paar Stückchen Lachsfilet mit Kartoffeln zu essen. Das war für mich Schwerstarbeit, noch dazu querbettsitzend, an einen riesigen Schaumgummiwürfel gelehnt und mit tatkräftiger Unterstützung meiner wunderbaren jungen Therapeutin Julia. Ich glaube, es gibt nur wenige Menschen, die man beim Lachsessen anfeuern muss. Danke, Julia.
   Essen ist inzwischen kein Problem mehr, nur schneiden kann ich noch nicht. Bei der Physiotherapie im Krankenhaus musste man mir die Hände noch mit Kletthandschuhen an den Handpedalen eines Trainingsgerätes befestigen, damit ich meine ersten Übungen machen kann. Inzwischen habe ich schon einen ziemlich festen Griff, der mir sogar schon fast normal erscheint, allerdings klappt es mit der Fingerbeugung- und Streckung noch nicht so recht. Aber ich kann die Finger einziehen und ausstrecken, und ich habe den Eindruck, dass es von Tag zu Tag besser wird. Das verdanke ich natürlich auch meinen Therapeuten hier in Altenhof, die mich schon seit fast einem halben Jahr begleiten und unterstützen. Johannes, Bettina, Sandra und Jasmin: Danke.
   Im Krankenhaus konnte ich ein halbes Jahr nur an die Decke schauen, und meine Therapeuten haben wahre Wunder bewirkt, dass ich so etwas wie Querbettsitzen überhaupt geschafft habe. Jetzt, zehn Monate späte sause ich mit einem E-Rolli durchs Behindertendorf. Fun, Fun, Fun, wie die Beach Boys sagen würden.
   Also, liebe GBSler: Nicht aufgeben. Ich weiß, irgendwann kann man es nicht mehr hören, wenn Alle sagen: Das wird schon wieder, aber es dauert. Doch es stimmt. Das Guillain-Barré-Syndrom ist kein ewiges Schicksal, keine unendliche Geschichte. Es ist eine lange Reise in die Abgründe der eigenen Seele. Die Welt um einen herum bewegt sich weiter, aber man selbst steht völlig still. Gelähmt und eingesperrt in sich selbst wie Han Solo im Karbonitblock. Wie Superman ohne Cape. Irgendwie ist es auch eine Reise ins Ich ein Blick in den Spiegel im Spiegel, in dem man sich nicht so sieht, wie man gerne sein möchte, sondern, wie man wirklich ist. Natürlich ist es ein großes Stück Selbsterkenntnis, ein Gnotis Seauton.
   Beim Blick in die Nacht sieht man sein eigenes Spiegelbild.
   Oder, wie Friedrich Nietzsche sagte: Wenn wir in den Abgrund blicken, blickt der Abgrund in uns zurück.

Freitag, 10. Oktober 2014

Angst vor der Gesundheit - Aus meinem Tagebuch

Angst ist wohl die größte und schlimmste meiner Krankheiten. Genaugenommen ist sie sogar die einzige, denn die Lähmung scheine ich ja überwunden zu haben. Das ist so besonders frustrierend an meiner Situation. Wenn ich fleissig trainiere, werden meine Muskeln stärker, mein Körpergefühl bessert sich und damit auch die Sicherheit beim Stehen und später beim Gehen. Aber kaum spüre ich etwas in der Harnblase, kommt meine Angst wieder zurück. Innerlich erstarre ich dann und verliere jede Motivation und Freude, etwas zu tun.
   Dazu kommt noch die verrückte Angst, wieder gesund zu werden. Gesundheit verbinde ich mit Unsicherheit. Was wird aus mir werden? Solange ich im Rollstuhl sitze, bin ich zumindest in Sicherheit. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, wieder der Alte zu werden. All diese Vorstellungen: einfach aufzustehen und zu gehen, mich auf einen normalen Sessel zu setzen, auf die Toilette gehen zu können, normal zu duschen, mich ins Bett zu legen und daraus wieder aufzustehen. Mir selbst die Hose an- und auszuziehen. So wie früher. Wie ich es fast mein ganzes Leben gemacht habe. Ich weiß ja, dass ich dann trotzdem hier in Altenhof bleiben kann. Auf jeden Fall so lange, bis ich keine Angst mehr vor der Gesundheit, der Zukunft und dem Leben habe.
   Trotzdem…Dann ändert sich für mich wieder alles. Natürlich zum Besseren, das ist mir schon klar, oder zumindest hoffe ich das, aber Veränderungen machen mir Angst, auch, wenn sie noch so viel Gutes bringen. Andererseits ist mir klar, dass ich nicht den Rest meines Lebens im Rollstuhl und im Bett verbringen will. Trotzdem habe ich Angst, gesund zu werden. Ich weiß, wie wahnsinnig sich das anhört. Als ich noch gesund war, hatte ich auch keine Angst davor, gesund zu sein. Ich frage mich, ob es anderen Menschen, die in einer ähnlichen Situation wie ich leben, auch so geht. Ich stelle mir vor, dass die meisten Kranken oder Behinderten so schnell wie möglich so gesund wie möglich werden wollen.
   Will ich das nicht? Das frage ich mich. Ich stelle mir allen Ernstes die Frage, ob es für mich nicht besser wäre, krank und behindert zu bleiben. Ich weiß, dass jeder, der das liest innerlich aufschreit und sich fragt, ob ich verrückt bin. Um ehrlich zu sein, diese Frage stelle ich mir auch oft. Haben mich mein Leben, meine Krankheit und meine Traurigkeit irgendwann wirklich verrückt gemacht? Nun, klinische Anzeichen gibt es keine dafür. Meine Befunde sagen, dass ich geistig völlig normal bin. Aber kann man jemanden als normal bezeichnen, der den halben Tag im Rollstuhl sitzt, auf den nächsten Harndrang wartet und Angst davor hat, gesund zu werden, anstatt zu trainieren, um aus dem Rollstuhl und aus der Angst wieder rauszukommen?
   Ich habe keine Antwort auf diese Frage. Alles, was ich tun kann, ist, mich so gut ich kann zu bemühen und abzuwarten, was die Zeit mir bringen wird.

Donnerstag, 9. Oktober 2014

Mein Leben: Krankheit

Meine Krankheitsgeschichte mit dem Guillain-Barré-Syndrom begann im Jahr 2009, es war Januar, und ich kam gegen Mittag vom Einkaufen zurück. Draußen war es kalt, und es lag viel Schnee auf den Straßen. Der BILLA-Supermarkt in Seewalchen befindet sich direkt gegenüber des Mietswohnungshauses, in dem ich damals wohnte. In meinen Händen trug ich links und rechts je einen Plastiksack mit den tägliche Einkäufen. Ich stellte die Säcke neben mir ab und sperrte die Eingangstür zum Treppenhaus auf. Die Wohnung meiner Mutter befindet sich im ersten Stock, ich hatte also insgesamt keinen weiten Weg. Ich ging immer gerne einkaufen, schließlich war es eine Abwechslung für mich.
So machte ich mich auf den Weg zu unserer Wohnung, als ich hinter mir Schritte hörte. Eine Frau, die mit ihrer Familie damals in einer der Wohnungen im Obergeschoß lebte, betrat das Treppenhaus. Da ich dazu neige, in solchen Situationen nervös zu werden, wollte ich mich beeilen, damit ich genug Platz und Zeit habe, nach oben zu gehen. In der Hektik stolperte ich über die erste Stufe und fiel hin. Ich habe mich zwar nicht verletzt und war schnell wieder auf den Beinen, aber im Laufe der nächsten Tage bemerkte ich, dass mir das Gehen schwer fiel und ich das rechte Bein nicht mehr richtig bewegen, spreizen oder anheben konnte. Natürlich hätte ich damals sofort einen Arzt rufen sollen, aber ich scheute davor zurück und dachte mir, es würde schon wieder besser werden.
In den Tagen und Wochen darauf erledigte meine Mutter die Einkäufe. Was ich damals noch nicht ahnte, war, dass ich bis zu meiner Einlieferung ins Krankenhaus im Juni 2013 das Haus nur noch einmal verlassen sollte. Ich hatte zunehmend Schwierigkeiten zu gehen oder mich im Bett umzudrehen. Bei den entsprechenden Bewegungen tat mir die rechte Hüfte weh, und so wurde ich immer träger und fauler. Meine Zeit verbrachte ich mit fernsehen, lesen, schreiben, schlafen und Bier trinken. Anfangs waren es noch fünf Halbliterdosen pro Tag, aber diese Dosis steigerte sich im Laufe der Zeit zuerst auf zwölf und dann auf sechzehn. Wieviel ich damals wog, weiß ich nicht, aber es müssen um die 140 Kilo gewesen sein. Als ich ins Krankenhaus kam, waren es 165. So traurig es ist, aber diese Jahre waren ziemlich produktiv. Ich schrieb zwei Romane und täglich Tagebuch.
Das Haus verließ ich dann nur noch einmal. Es war am 30. August 2009, einen Tag nach meinem 40. Geburtstag. Ich fuhr mit meiner Mutter zu dem kleinen Badeplatz in Nußdorf am Attersee, den wir schon seit vielen Jahren besuchten, und wo ich viele unbeschwerte und fast glückliche Stunden verbrachte. Das Gehen fiel mir sehr schwer, und ich konnte die Beine kaum noch anheben. Ich schob es auf mein Gewicht, meine mangelnde körperliche Bewegung und den Sturz an der Treppe im Januar. Aber im Wasser fühlte ich mich wieder wohl und schnorchelte etwa eine Stunde lang.
        Schließlich fuhr ich mit meiner Mutter wieder nach Hause, kämpfte mich in den ersten Stock in unsere Wohnung, setzte mich auf den schwarzen Ledersessel und verließ das Haus erst wieder vier Jahre später.
Was machte ich in dieser Zeit? Dasselbe wie immer: schlafen, fernsehen, lesen, schreiben, Bier trinken, essen und den Wahnsinn meines Lebens verdrängen. Auf diese Art erlebte ich viermal Weihnachten und drei weitere Geburtstage. Ich nahm immer mehr an Gewicht zu und hoffte auf Besserung. Meine Mutter ging einkaufen, kochte und sorgte für mich. Wenn ich jetzt daran zurückdenke, kann ich es selbst nicht glauben, dass ich vier Jahre so gelebt habe und Mama das alles angetan habe. Gegessen habe ich nur wenig, getrunken dafür umso mehr. Die einzige Bewegung, die ich noch machte, war, mich alle zwei Stunden aus dem Fernsehsessel hochzuwuchten, um auf die Toilette zu gehen.
So vergingen ein Tag, eine Woche, ein Monat und ein Jahr nach dem anderen. Irgendwann hatte ich mich so an den Zustand gewöhnt, dass es mir nicht mehr viel ausmachte. Aber durch meine Trägheit und den Umstand, dass ich mich nur notdürftig pflegen konnte, entwickelten sich bei mir drei Abszesse am Gesäß und an den Oberschenkeln, die immer wieder zu bluten begannen. Ich reinigte sie mit Beta Isodona, das ich mit Taschentüchern oder Küchentüchern auftrug. Ich weiß zwar nicht, ob das mit meiner Erkrankung etwas zu tun hat, aber ich vermute es stark. Diese Phase dauerte von Anfang 2013 bis Juni 2013. ich konnte kaum noch aufstehen, verwendete für die Toilettengänge einen Stock und ignorierte meine Situation weiterhin. Sobald ich wieder im Wohnzimmer war, am Computer oder vor dem Fernseher saß und ein Glas Bier in der Hand hatte, war ich zufrieden und die Verdrängung des Irrsinns ging weiter.
Immer wieder sagte meine Mutter, dass ich zum Arzt gehen solle, flehte mich geradezu an, aber ich weigerte mich. Ich wusste ja auch nicht, wie. An Treppensteigen oder mich auf den Beifahrersitz unseres kleinen Honda zu setzen, war längst nicht mehr zu denken. Immer wieder nahm ich mir vor, weniger Bier zu trinken und meine Beine mit einem kleinen Pedaltreter zu trainieren. Das tat ich auch. Phasenweise. Selten.
Schließlich wurde es Juni 2013, und es geschah Folgendes: Schon seit Wochen litt ich immer wieder an Durchfällen und Abszessblutungen, kämpfte mich auf die Toilette, setzte mich wieder auf den Wohnzimmersessel, reinigte die blutenden Stellen mit Beta Isodona und machte die nächste Dose Bier auf. Ich muss mir wohl durch diese Blutungen die Infektion zugezogen haben, die schließlich zum Ausbruch meiner Krankheit führte.
Dann, eines Tages Anfang Juni, es war kurz nach Mitternacht, stand ich von meinem Ledersessel auf, um ins Bett zu gehen. Es fiel mir schwer, ich stützte mich auf meinen Stock, spürte ein leichtes Schwindelgefühl, das aber gleich wieder verschwand, und ging in mein Zimmer, das sich gleich neben dem Wohnzimmer befindet. Das Licht im Wohnzimmer ließ ich brennen, in meinem Zimmer war es dunkel. Meine Mutter befand sich gerade in der Küche oder im Bad und machte sich ihrerseits fertig, ins Bett zu gehen.
Ich ging auf mein Bett zu, es waren nur wenige Schritte, verschätzte mich in der Düsternis irgendwie um einen Schritt, und fiel beim Versuch, mich am Fußende auf das Bett zu knien, hin. Ich schrie auf. Meine Mutter hörte mich und kam ins Zimmer geeilt.
»Markus, was ist denn? Um Gottes Willen«, rief sie und nahm mich unter einem Arm.
Ich versuchte aufzustehen, aber es ging nicht. »ich kann nicht aufstehen«, sagte ich.
»Ich ruf' die Rettung!« Meine Mutter wollte zum Telefon in der Bauernstube laufen, aber ich hielt sie zurück.
»Nein! Bitte nicht! Es geht schon.« schrie ich.
Ich beugte mich nach vor und lehnte mich über das Fußende meines Bettes. In den Beinen hatte ich keinerlei Kraft, es war mir vollkommen unmöglich aufzustehen. Also wuchtete ich mich mit den Armen aufs Bett rutschte irgendwie nach oben, drehte mich auf den Rücken und blieb so liegen.
        »Du musst sofort ins Krankenhaus. Sofort!« sagte Mama.
»Nein. Nein«, war meine Antwort. Ich glaubte, es sei nur ein vorübergehender Schwächeanfall. Etwas später, nachdem ich mich wieder erholt und eine Dose Bier getrunken hatte, versuchte ich, wieder aufzustehen. Ich rutschte ans Bettende, stellte die Füße auf den Boden und versuchte es.
Es war vergeblich. Ich hatte nicht die geringste Chance. Zwar konnte ich die Beine bewegen, aber jegliche Kraft war verschwunden. Ich legte mich wieder hin. Kurz, bevor ich einschlief, bemerkte ich, wie sich ein taubes Gefühl in meinen Fingerspitzen ausbreitete.
Ich muss wohl drei oder vier Tage im Bett verbracht haben. Ich schlief, trank nur noch wenig Bier, aß ab und zu ein Stück Kuchen und urinierte in eine Harnflasche. Ich hatte Verstopfung, was mit der Infektion zusammenhing.
Eines Tages beschloss ich dann, das Bett wieder zu verlassen. Irgendwie. Ich nahm mir vor, mich vorsichtig auf den Boden gleiten zu lassen, ins Wohnzimmer zu kriechen und mich dort auf den Sessel zu stemmen. Ich wollte raus aus dem Bett, weil mir klar war, dass es so nicht weitergehen konnte. Außerdem spielte ich mit dem Gedanken, mich wirklich ins Krankenhaus einliefern zu lassen. In meinem kleinen Zimmer hätten die Rettungsleute aber sicher Schwierigkeiten gehabt, mich auf die Trage zu legen. Also wartete ich, bis meine Mutter wieder einkaufen war und rutschte auf das Fußende meines Bettes zu. Es gelang mir mühelos, auf den Boden zu gelangen, und dann begann ich, ins Wohnzimmer zu kriechen. Es fiel mir zwar schwer, ging aber doch ohne Schwierigkeiten. Auf den Fernsehsessel schaffte ich es aber nicht. Ich konnte mich nicht genug hochstemmen, aber es gelang mir, mich mit dem Rücken an den Sessel zu lehnen. So blieb ich sitzen, bis meine Mutter wieder nach Hause kam. Als ich sie hörte, rief ich ihr zu: »Ich sitze hier!«
Mama blickte durch den Torbogen, der das Wohnzimmer mit der Bauernstube verbindet. Sie war ganz überrascht und freute sich, dass ich das geschafft hatte. Ich war selbst optimistisch. »Ich versuche, später noch einmal aufzustehen. Wenn' s nicht geht, muss ich halt ins Krankenhaus«, sagte ich.
Mama war erleichtert, dass ich endlich zur Vernunft gekommen war, ich auch. In diesem Moment war ich so zuversichtlich wie schon seit Jahren nicht mehr. Jetzt würde sich endlich alles zum Guten wenden, die Zukunft sah wieder freundlich aus, und ich wusste, dass ich es schaffen konnte, wieder auf die Beine zu kommen und gesund zu werden.
Ich schaffte es nicht.
Stattdessen blieb ich einige Tage lang einfach am Boden vor dem Fernsehsessel liegen. Meine Mutter bereitete mir eine Schlafstätte mit einer untergelegten Decke, einem Leintuch, Kopfpolster und einer weiteren Decke zum Schlafen. Ich verbrachte die Zeit mit fernsehen, Bier trinken, wenig essen und den Wahnsinn meines Zustandes zu ignorieren und die Einlieferung ins Krankenhaus auf den jeweils nächsten Tag zu verschieben.
        Mama war verzweifelt, sagte immer wieder, sie würde die Rettung rufen und ich müsse unbedingt ins Krankenhaus. Ich weigerte mich zu gehen. Immer noch. Ich trank in dieser Zeit vielleicht drei Dosen Bier pro Tag und keinen anderen Alkohol. Daran kann es also nicht gelegen haben, dass ich so uneinsichtig war. Nein, es war etwas Anderes.
Ich hatte Angst. Ich hatte furchtbare Angst vor dem Krankenhaus und davor, dass dann in meinem Leben kein Stein auf dem anderen bleiben würde. Ich glaubte allen Ernstes, dass die Schwäche in den Beinen wieder vergehen würde. Dann würde ich aufstehen, mich auf den Ledersessel setzen und damit beginnen, mich mehr zu bewegen. So würde sich alles zum guten wenden.
Ich glaube, ich habe vier Tage so verbracht. Dann, eines Abends, schlief ich ein und dachte mir: »Morgen gehe ich ins Krankenhaus.«
Ich sollte Recht behalten. Nur kann ich mich an die Ereignisse nicht mehr erinnern. Ich kenne sie nur von den Worten meiner Mutter:
Am frühen Nachmittag des nächsten Tages verschlechterte sich mein Zustand dramatisch. Ich verkrümmte mich, zog Hände und Arme ein und war halb besinnungslos. »lass mich sterben, lass mich sterben«, sagte ich zu Mama, erinnere mich aber nicht daran.
Meine Mutter alarmierte sofort den Hausarzt und das Rote Kreuz, und so wurde ich ins Landeskrankenhaus Vöcklabruck eingeliefert. Ich glaube, es war der 11. Juni 2013. Seitdem habe ich mein Zuhause nicht mehr gesehen. 
Die Angst, die ich damals vor meiner Einlieferung ins Krankenhaus empfunden habe, wird jetzt wieder wach. Ich habe lange Zeit nicht mehr über die Ereignisse der letzten Jahre so intensiv nachgedacht. Es war mir beim Schreiben dieses Textes so, als würde ich alles noch einmal durchleben.
Ich kann nicht glauben, dass ich so gelebt habe, dass dies alles geschehen ist. Dass ich all das habe geschehen lassen. Jetzt befinde ich mich auf dem Weg der Heilung. Ich kann inzwischen aus dem Rollstuhl aufstehen, wenn ich mich mit den Händen abstütze. Mein Physiotherapeut meint, es se nur eine Frage des Muskeltrainings.
Mein Leben ist jetzt besser, als es je zuvor war. Ich werde wohl wieder gesund. Das liegt aber nicht nur an mir, sondern vor allem an der vielen Hilfe und Unterstützung, die ich seit dem Ausbruch erhielt. Mein Dank gilt  den Ärzten, Ärztinnen, Krankenschwestern- und Pflegern, Therapeutinnen und Therapeuten in den Krankenhäusern von Vöcklabruck, Gmunden, Wels und Ried, dem Neurologischen Therapiezentrum Gmundnerberg sowie allen Mitarbeitern des Dorfes Assista Altenhof am Hausruck. Ebenfalls verloren wäre ich ohne meinen Bruder Dr. Heimo Pärm und dessen Frau Gertraud, sowie allen Verwandten. Danke Euch allen!
Mein größter Dank aber gilt meiner Mutter und meinem Vater, ganz einfach, dass sie immer für mich da waren und das auch jetzt noch sind. 
Meine Mutter ist tot. Ich mache mir keine Vorwürfe, aber ich kann mir selbst nicht verzeihen, was ich ihr angetan habe. 45 Jahre lang. Trotzdem hat sie einige Wochen vor ihrem Tod noch zu mir gesagt: »Du bist ein lieber Sohn.«
Ich weiß, dass ich das nicht bin, aber das Geschehene kann ich nicht ungeschehen machen. Ich wünschte, ich könnte es. Diese Traurigkeit wird wohl immer ein Teil von mir bleiben. In solchen Momenten, wenn ich voller Abscheu auf den Menschen zurückblicke, der ich früher war, denke ich an ein Gedicht, das meine Mutter geschrieben hat:

"Zünd' eine Kerze an,
wenn du traurig bist.
Ihr Schein gibt Licht,
die größte Dunkelheit zu erhellen."