Samstag, 28. November 2015

Angst ist ein Affe!

Das Leben mit der Angst zehrt an den Nerven. Es ist reines Gift für Menschen mit dem Guillain-Barré-Syndrom. Schließlich sind es doch die Nerven, die sich erholen sollen. Die schützende Isolierschicht aus Myelin soll sich wieder aufbauen, nachdem das eigene Immunsystem sie fast im ganzen Körper weggefressen hat.

Samstag, 21. November 2015

Brüllen Sie!

Ich habe immer geglaubt, dass man in einer Situation wie meiner Lähmung über sich hinauswächst. Dass jeder, der gelähmt im Rollstuhl sitzt und dessen Chancen auf Heilung ausgezeichnet sind, einen extremen Überlebenswillen entwickelt und von früh bis spät nichts anderes tut, als hart zu trainieren. So ein Mensch hat nichts anderes im Kopf als den Gedanken:
"Ich will so schnell wie möglich aus dem Rollstuhl raus!"

Samstag, 14. November 2015

Die Festung der Einsamkeit

Ich habe die Einsamkeit immer geliebt. Ich habe mich nie allein gefühlt, schon als Kind nicht. Ich hatte zwar Freunde, mit denen ich gerne gespielt habe, aber ich wusste es auch zu schätzen, niemand anderen um mich zu haben. Langweilig war mir nie. Ich hatte immer eine Beschäftigung.

Samstag, 7. November 2015

Die Zukunft ist bunt!

Verdränge das Bild der Folterkammer, wenn Du in den OP kommst. Ignoriere den Horror, der Dich vielleicht erfasst, wenn Du völlig bewegungsunfähig auf dem OP-Tisch liegst, die schattenlose Lampe über Dir, all die Maschinen um Dich herum, die Geräusche, das Piepen, das geschäftige Treiben der Krankenschwestern und Ärzte.
All die Instrumente, die Du vielleicht sehen kannst. Die Klingen. Die Nadeln. Die Tupfer, die sich mit Deinem Blut tränken werden. Die Schläuche. Und all diese grauenhaften dunkelgrünen Tücher. Die Kacheln. Das Metall. Das Grelle. Denk nicht an den Geruch, der Dich nicht an Hilfe und Heilung erinnert, sondern an den Tod.
All das wirkt bedrohlich und bedeutungsschwer. Mach es in Deiner Phantasie nicht schlimmer, als es ist. Betrachte den OP-Saal nicht als Deinen Richtplatz. Ein Skalpell ist kein Fallbeil, und die zwei Meter Dünndarm, die sie mir entfernt haben, habe ich bis heute nicht vermisst. Und auch nicht gebraucht.
Immer, wenn ich wieder einmal glaube, mein letztes Stündlein hat geschlagen, greife ich auf Gedanken zurück, die meine Sicht wieder klarer und meine Einschätzung der Situation realistischer erscheinen lassen. Mittlerweile kann ich das schon recht gut und bemerke zusehends, wie der rationale Verstand immer mehr die Oberhand gewinnt. Ich bausche in meiner Phantasie Kleinigkeiten wie ein bisschen Herzrasen oder ein Druckgefühl im Oberbauch zwar immer noch zu Horrorszenarien wie in einem Film aus der Saw-Reihe auf, aber ich kann sie mit vernünftigen Überlegungen wieder auf ihr gerechtes Maß zurückstutzen.
Es ist zum Großteil die Erfahrung, die meine Krankengeschichte mir gebracht hat. Ich habe äußerst brenzlige Situationen erlebt und überlebt, und so können mich Lapalien nicht mehr erschrecken. Das klingt vielleicht eine Spur zu heldenhaft, aber es ist inzwischen so, dass ich nicht mehr damit rechne zu sterben, wenn irgendwo an meiner Haut wieder einmal eine offene Stelle ist. Noch vor einem Jahr habe ich in solchen Fällen geglaubt, dass es sich um irgendeine ernste Sache wie Hautkrebs oder den Beginn eines schweren Dekubitus ist. Der Grund dafür ist, dass ich damals noch nicht erkannt habe, dass meine Krankheit und alles, was damit zusammenhängt, kein großes Schicksalsdrama ist.
Auf mir lastet weder ein Fluch, noch vollzieht sich der Zorn der Götter an mir, und ich werde auch nicht für meine frühere ungesunde und träge Lebensweise bestraft. Diese Form des Aberglaubens bin ich losgeworden. Aber es war für mich lange Zeit ein vollkommen naheliegender Gedanke, dass ich jetzt für alle meine Versäumnisse, Fehler und Unterlassungssünden die Rechnung präsentiert bekomme. So dachte zumindest der irrationale Teil meines Verstandes, der von einer zwar phantasievollen, aber zugleich beängstigenden Vorstellungskraft geprägt ist. Es ist so eine Art Albtraummännlein, das da in meinem Kopf wohnt.
Aber zum Glück gibt es noch einen anderen Teil von mir, der vollkommen rational und vernünftig denken und alle Situationen realistisch einschätzen kann. Es ist der Mr. Spock meiner Persönlichkeit, ein logischer Denker, der sich, um seine Emotionen unter Kontrolle zu halten, dem Kolinahr unterzieht. Für alle, denen die alte Serie Raumschiff Enterprise nicht so geläufig ist, das Kolinahr ist auf dem Planeten Vulkan eine Meditationstechnik, um unerwünschte Gefühle wie Aggression, Wut, Angst und so weiter zu zügeln. Man entledigt sich seiner Gefühle und verschreibt sich der reinen Logik. Faszinierend!
Wie man an meinen Ohren erkennen kann, bin ich zwar kein Vulkanier, aber Meditationstechniken und andere Formen asiatischer Philosophie beeindrucken mich sehr. Ich habe zwar keine Erfahrungen mit den fortgeschrittenen Formen der Meditation, aber schon in jungen Jahren habe ich festgestellt, dass ruhiges Atmen und das Zählen der Atemzüge sehr entspannend und beruhigend ist. Ich habe etwa mit zwanzig Jahren damit angefangen und profitiere heute noch davon. Ich habe mit Hilfe dieser Technik schon viele brenzlige Situationen durchgestanden. Komplett gelähmt auf der Intensivstation, bei unangenehmen medizinischen Eingriffen, in Momenten der Angst, Trauer und Verzweiflung, hat mich das Zählen meines Atems beim Ausatmen immer beruhigt und selbst die große Furcht während meiner Tiefenvenenthrombose erträglich gemacht. Den Atem zu zählen ist mein persönliches Kolinahr.
Außerdem können ganz einfache Gedanken das aufgewühlte Gemüt besänftigen. Man muss nur fest genug daran glauben und seine Probleme aus der richtigen Perspektive betrachten. Wie gefährlich ist ein Harnwegsinfekt wirklich? Klar, man kann eine Nierenbeckenentzündung bekommen und daran sterben, aber ich glaube, die Gefahr ist etwa zu vergleichen mit einer Herzmuskelentzündung durch einen grippalen Infekt. Und darum blicke ich bei solchen Anlässen aus einer Art Position eines Außenstehenden auf mein Problem und denke mir Dinge, wie:

Es ist alles ganz harmlos. Momentan geht es mir gut. Daran sterbe ich nicht. Ist doch nur halb so wild. Morgen ist es besser.

Das klingt vielleicht alles banal und kindisch, aber nach zwei Jahren und vier Monaten Guillain-Barré-Syndrom kann ich sagen, dass es hilft. Zumindest mir. Und wenn Du auch GBS hast und dieselben emotionalen und seelischen Geisterbahnfahrten erlebst wie ich, versuch es doch einmal. Ruhig atmen und die eigene Situation aus einer objektiven außenstehenden Perspektive betrachten. 
Frag Dich: Wie schlimm steht es wirklich um mich? Was ist das Schlimmste, was mir passieren könnte? Ist selbst das Schlimmste wirklich so schlimm? Werde ich mich wirklich nie wieder bewegen können und für immer gelähmt bleiben?
Wenn Du Dir sachliche Fragen wie diese stellen, wird es Dir mit der Zeit leichter fallen, die verschiedenen Erscheinungsformen des Guillain-Barré-Syndroms zu ertragen und zu verstehen. Ich glaube, sich selbst Fragen zu stellen, ist eine sehr effektive Form, Probleme zu lösen und Krisen zu überwinden. Mach es zuerst in Deinen Gedanken, aber wenn Du sich wieder ausreichend bewegen kannst, unbedingt schriftlich. Entweder auf Papier, auf einem Computer oder dem Handy.
Ich erstelle gerne Listen, auf denen ich die Themen, die mich gerade besonders beschäftigen, aufschreibe und dann beantworte ich diese Themen. Ich schreibe dann sehr viel und gebe zu, dass so manches davon in diesem Blog landet. Ich denke mir, wenn es mir hilft, könnte es anderen GBS-Patienten auch helfen. Wenn Du aber kein Schreiberling sind, so wie ich, dann mach Deine Fragenlisten eben gedanklich oder Du redest mit jemandem. Aber tu irgendetwas, um das Chaos, dass in Deinem Kopf herrscht zu ordnen! Und glaub mir, es funktioniert!
Eine andere wirkungsvolle Technik, sich das Leben mit einer solchen Krankheit und ihren seelischen Begleiterscheinungen leichter zu machen, ist, sich das Schlimmste auszumalen. Dafür braucht man zwar starke Nerven, aber wenn man genügend Phantasie und vielleicht auch ein bisschen medizinische Vorbildung hat, wird man das sowieso tun. Ich kann mich jedenfalls nicht dagegen wehren, also habe ich gelernt, den Dämonen meines Geistes ein Zaumzeug und einen Pflug anzulegen und sie für mich den Acker umgraben zu lassen.
Wenn mir mein eigener Verstand schon Angst macht, dann soll das wenigstens einen positiven Nutzen für mich haben. Ich habe mich in Augenblicken der Unsicherheit, der Sorge und der blanken Angst immer gefragt, was das Schlimmste wäre, das mir passieren könnte. Dafür muss ich mich nicht einmal anstrengen, meine Phantasie präsentiert mir die anatomischen Details auf einem blutigen Serviertablett. Das trägt zwar vorübergehend dazu bei, dass ich mich noch schlechter fühle, aber ich habe im Nachhinein dann immer das Erlebnis, dass alles doch gar nicht so schlimm war.
Was man in Momenten der Krise und der Angst vergisst, ist, dass nicht die Ereignisse, die einem passieren beängstigend sind, sondern was unsere Gedanken daraus machen. Früher konnte ich das noch nicht so objektiv sehen, weil mir die Vorstellung der Dinge, die mit mir geschehen könnten, die Brust zuschnürten und meine inneren Organe gefrieren ließ.
Mit der Zeit habe ich es gelernt. Ich weiß zwar nicht, ob mir das auch in Zukunft so gelingen wird, aber ich weiß jetzt zumindest, wie es geht. Ich kann die Ereignisse, die noch auf mich zukommen werden im Vorhinein sowieso nicht kontrollieren, ich kann nicht einmal wissen, was geschehen wird. Es passieren so viele verrückte Dinge, und es gibt so viele Möglichkeiten, wie sich eine Situation entwickeln wird, dass es mir manchmal fast so erscheint, als würde ich ständig zwischen einer unendlichen Vielfalt an Parallelwelten wählen können. So, als würde ich ständig die Raumzeitdimensionen wechseln. Ich hör' schon auf. Sonst kommt noch Dr. McCoy mit der Zwangsjacke.
Die große Anzahl an Möglichkeiten und die Tatsache, dass nie etwas so passiert, wie ich es mir in meinen schlimmsten Phantasien vorstelle, haben mich zu der Erkenntnis gebracht, dass es eigentlich gar keinen Grund gibt, Angst zu haben oder depressiv zu sein. Es ist wie in der Unschärferelation von Werner Heisenberg. Man kann zwar den Aufenthaltsort, die Masse, die Geschwindigkeit und so weiter eines Atomteilchens bestimmen, aber immer nur einen dieser ganzen Faktoren. Der Physiker kann nie das Gesamtbild sehen. Seine Beobachtung verändert das Objekt seiner Betrachtung. Man könnte vereinfacht sagen, dass nur das existiert, worauf er seine Aufmerksamkeit richtet. Aber daneben gibt es noch Unmengen von anderen Möglichkeiten.
Genau aus diesem Grund glaube ich nicht an Prophezeiungen und Zukunftsvorhersagen, die nicht auf wissenschaftlichen Prognosemethoden basieren. Niemand kann vorhersagen, in welche Richtung das Elektron steuert, und plötzlich ist es ganz woanders, als man geglaubt hat. Genauso wie ein Mensch, der meint, sein Schicksal wäre besiegelt. Es gibt immer noch andere Möglichkeiten, die wir gar nicht sehen oder auch nur erahnen können.
Die Zukunft ist unscharf. Vielleicht gibt es sie gar nicht, und wir leben alle in einer unendlichen Gegenwart. Viele Menschen glauben, alles sei vorherbestimmt. Sie sagen das meistens mit einem schicksalsergebenen Unterton in der Stimme. So, als hätten sie gar keinen Einfluss auf ihr Leben. Ich glaube, diese Menschen meinen, dass sie nur ein einziges Schicksal haben, und eben dieses sei vorherbestimmt.
Wenn alles vorherbestimmt ist, dann müssen auch die unendlich vielen Variationen einer Situation vorherbestimmt sein. Das würde bedeuten, dass einem jeden Menschen eine unendliche Vielzahl an Schicksalen vorherbestimmt ist. Nun liegt es an jedem Einzelnen, sich sein eigenes Schicksal auszuwählen. Klingt leicht, ist aber schwer. Vielleicht reicht es ja, eine Entscheidung zu einem bestimmten Schicksal zu treffen. Die innere Einstellung trägt jedenfalls viel zur Weiterentwicklung einer Situation bei. Früher habe ich solche Weisheiten für Schwafelei gehalten, aber inzwischen weiß ich aus eigener Erfahrung, dass es stimmt.
Eine einzige Zukunft ist jedenfalls nicht vorherbestimmt. Als Grafiker sehe ich die Zukunft eher als Palette mit einer unendlichen Zahl an Farbschattierungen. Oder sagen wir besser, an Farben. Damit kann man Höllenszenarien malen wie Hieronymus Bosch, aber auch volkommene Schönheit und Anmut wie die Venus von Botticelli.
Die Zukunft ist bunt.
Na, wenn das kein schöner Satz ist! Vielleicht sehe ich das alles zu künstlerisch, aber so bin ich nunmal. Anders kann ich nicht. Versuche, diesen Gedanken zu verinnerlichen und immer dann zu reaktivieren, wenn Dir wieder etwas Unangenehmes bevorsteht oder die Angst ihre eiskalten Finger nach Dir ausstreckt:
Es ist alles ganz harmlos.

Die Zukunft ist bunt und wunderschön.