Samstag, 29. November 2014

Traum und Wirklichkeit

Eine der schmerzhaftesten Erfahrungen, die ich im Laufe meiner Krankengeschichte mit dem Guillain-Barré-Syndrom machte, war der plötzliche Einbruch der Realität in den Traum. Damit meine ich nicht körperliche Schmerzen, sondern seelische. Abgesehen vom Ausbruch der Krankheit selbst, waren es die ständigen, immer wiederkehrenden Tritte, die mir das Schicksal verpasste.
Ich weiß nicht, wie oft ich es in diesen eineinhalb Jahren erlebt habe, dass es mir besser ging und ich Hoffnung schöpfte, nur um kurz darauf wieder getreten zu werden. Getroffen von den Pfeilen und Schleudern des wütenden Geschicks.
Noch am Vormittag hatte ich einen kleinen Erfolg, weil ein paar Tasten auf der Computertastatur drücken konnte oder weil ich im Querbett stabil aufrecht sitzen konnte, und am Abend war der Dauerkatheter so verstopft, dass er sich nicht spülen ließ. Urologe war keiner mehr da, dabei hätte das jeder Diplomkrankenpfleger machen können.
Liebe Ärzte und Pfleger, seid mir bitte nicht böse, wenn ich das sage, aber jeder verdammte Schimpanse kann einen Schlauch aus einer Röhre ziehen. Stattdessen wurden mir krampflösende Mittel gegeben, eine Tablette und eine Infusion, damit die Blasenkrämpfe aufhören. Aber sie hörten nicht auf. Die ganze Nacht hatte ich Krämpfe. Am nächsten Tag und die ganze Woche darauf war ich dementsprechend fertig.
Als ich auf Reha war, hatte ich kleine Erfolge in der Ergo- und Physiotherapie, und am Abend, als ich mit dem Hebelifter ins Bett gelegt wurde, sagte eine Krankenschwester: "Ihr rechtes Bein ist aber dick." Ein Arzt kam und untersuchte mich. Nur entzündet und geschwollen, meinte er. Am nächsten Morgen wachte ich auf als Schwester Andrea in mein Zimmer kam und sagte: "Du fährst jetzt ins Krankenhaus nach Gmunden. Du hast eine Thrombose. Ich darf dich nicht waschen." Ich wusste zwar, was eine Thrombose ist, war aber trotzdem geschockt, als sie auf meine Frage, was denn passieren könnte sagte: "Im schlimmsten Fall kann die tödlich sein." Die. Folgende Woche war die vielleicht schlimmste in der ganzen Zeit der Krankheit. Alle anderen Momente, in denen ich in akuter Lebensgefahr war, habe ich nicht bewusst mitbekommen, aber diese eine Woche lang und auch noch einige Zeit danach habe ichp erfahren, was wirkliche Todesangst ist. Ich konnte an nichts anderes denken. Zusätzlich hatte ich noch einen grippalen Infekt und 42 Grad Fieber.
Lungenebolie bekam ich keine, aber dafür nehme ich noch jetzt, neun Monate später, ein so starkes blutverdünnendes Mittel, dass ich auf der Stirn zu bluten beginne, wenn ich mir in der Früh beim waschen mit einem nassen Waschlappen zu fest darüber fahre. Wie schrieb noch Clive Barker? "Blutbücher sind wir Leiber alle. Wo man uns aufschlägt, lesbar rot."
Es waren und sind auch viele Kleinigkeiten unter diesen Rückschlägen. Katheterprobleme, ausbleibende Fortschritte in der Therapie, schlechte Nachrichten über die Prognosen meiner Genesung, besonders, was die Beweglichkeit meiner Finger betrifft und solche Dinge. Aber auch Harnwegsinfekte und kleinere Operationen an eingewachsenen entzündeten Zehennägeln. Des weiteren Hüftschmerzen, Gleichgewichtsstörungen, Ängste, Depressionen. Nicht zu vergessen Hautlaisionen, Dekubitusgefahr und eine aufgeplatzte Zirkumzisionsnaht mit Nachoperation und zehn Tagen Krankenhausaufenthalt.
Kleine und mittelgroße Quälereien, vom Schicksal fein dosiert und kurz nach den Glücksmomenten verabreicht, um mein Leben zu würzen. So wird der Traum vom Gesundwerden immer wieder niedergetrampelt. Und das mit Ausdauer. Ich habe solche Phasen erlebt, die wochenlang dauerten. Das wütende Geschick hat einen langen Atem.
Ich auch. Meiner ist länger. Ich motiviere meine trostsuchende Seele mit Gedanken, wie: "Das gehört zum Gesundwerden dazu" oder "Ich bin eine starke Persönlichkeit". In Stress- und Angsmomenten sage ich mir das innerlich vor und auch nachts vor dem Einschlafen. Solche Affirmationen, im Geiste gedacht oder leise geflüstert, 30 bis 100 Mal wiederholt, setzen sich irgendwann im Unterbewusstsein ab und entfalten von da aus ihre positive und stärkende Wirkung. Auf mein Handy habe ich sie auch gesprochen. Ich werde in einem späteren Blog-Beitrag eine Liste der Affirmationen veröffentlichen, die ich regelmäßig anwende und ohne die ich wahrscheinlich schon wahnsinnig geworden wäre.
Das Guillain-Barré-Syndrom befällt zwar meist nur das periphäre Nervensystem, also nicht das Rückenmark oder das Hirn, aber die psychischen, seelischen Nebenwirkungen können einen Menschen brechen. Bis zu totalen Resignation und Selbstaufgabe. Solche Fälle sind bekannt.
Aber mich nicht.
Selbst die größten Hammerschläge, wie der Tod meiner Mutter können mich nicht kleinkriegen. Ich zünde eine Kerze an, wenn ich traurig bin. So hat es Mama in einem ihrer Gedichte geschrieben. Ich tue das auch, wenn ich Angst habe. Aber. Diese Kerze ist nicht echt, sie ist nicht aus Wachs, sondern besteht aus reiner geistiger Hoffnungskraft. Sie erhellt die Dunkelheit. Jede Dunkelheit. Diese Kerze brennt immer in mir, und wenn sie zu verlöschen droht, entzünde ich sie neu. Immer.
Jetzt.
Sie ist mein Fixpunkt. Mein Nordstern. Mein Leuchtturm.
Ich sage auf diesem Weg allen GBS-Betroffenen, den Kranken selbst, aber auch deren Angehörigen und Freunden:
Gib nicht auf! Es gibt einen Ausweg. Er liegt direkt vor Dir. Du musst Dich nur aufrichten, um Deinen Weg zu finden!

Samstag, 22. November 2014

Die Welt von oben: Der Stryker

Im folgenden Text schildere ich meine Erinnerungen an die ersten Physiotherapiestunden auf der Intensivstation. Zu dieser Zeit (Juli 2013) war ich noch vollständig gelähmt und konnte nur meinen Kopf bewegen und sprechen. Viele Erinnerungen sind lückenhaft, aber so in etwa hat es sich abgespielt:

Die Physiotherapeuten sind da. Sie betreten den kleinen Raum der Intensivstation. Der eine ist groß, sportlich etwa in meinem Alter und hat ein sympathisches, sehr bodenständiges Gesicht. Er sieht aus, als könne er Bäcker sein, vielleicht sogar ein Bauer oder ein KFZ-Mechaniker. So etwas ähnliches sind Physiotherapeuten ja auch. Sie bringen eingerostete, schrottreife Karosserien wieder in Gang. Hoffe ich zumindest.
        »Guten Morgen«, sagt der Therapeut. »Ich heiße Alfred. Wir machen jetzt Physiotherapie«. In seiner Stimme klingt ein humorvoller Unterton durch. Um seine Augen liegt ein Lächeln. »Heute arbeiten wir mit dem Stryker«, sagt er. Seine Stimme hat einen leichten oberösterreichischen Akzent, aber er spricht nicht in der breiten Mundart, die in diesem Bundesland üblich ist.
Mit dem Rutschbrett ziehen sie mich auf den Stryker. Genaugenommen zieht der Eine, und der Andere schiebt. Es tut mir nicht weh, aber ich fühle mich unsicher, habe ein bißchen Angst. Ich weiß nicht, was jetzt genau mit mir geschehen wird und ob ich es aushalten werde. Ich habe auch meine Zweifel, ob es etwas nützt. Ich kann mir bicht vorstellen, dass ich meine Lähmung besiegen kann, indem man mich auf eine Liege schnallt.
  »Brauchen Sie einen Polster?« fragt mich Alfred.
        Ich nicke. »Ja, bitte«, sage ich. Ich weiß zwar nicht, ob ich den Polster brauche, aber ich fühle mich bei dem Gedanken, ein Kissen unter dem Kopf zu haben, wohler. Vielleicht kippe ich ja nach hinten um und lande wenigstens weich.
    Das wird nie etwas, denke ich und versuche, nicht zu weinen. Ich reisse mich wirklich zusammen. Es ist für mich unvorstellbar, jemals wieder gehen zu können. Das alles hier bringt nichts. Ich werde für den Rest meines Lebens vom Kopf abwärts gelähmt bleiben. Für immer. Ich werde nie wieder schreiben, zeichnen oder schwimmen können. Ein Gefühl der Angst erfasst mich. Es zentriert sich in meiner Brust und sendet kalte Vibrationen durch meinen Körper. Ich spüre die Angst an der Kopfhaut und in der Kehle. Sie schnürt mir den Hals zu. Ich atme durch den Mund. Später einmal wird mir eine Ergotherapeutin sagen, dass das die Fluchtatmung ist. Ein Überbleibsel aus der Urzeit. Schnell durch den Mund atmet man nur, wenn der Tiger schon zum Sprung ansetzt, damit man rechtzeitig die Flucht ergreifen kann.
    Alfred legt mir ein weißes Kissen unter den Hinterkopf. Auf diesem Kissen habe ich gerade noch geschlafen und von einem Wohnwagen in der Wüste geträumt. Durch den Polster fühle ich mich auch nicht wohler. Die Krankenschwester Hedita steht neben mir und lächelt mich an. Sie hat schöne große Augen und ist immer gut gelaunt, aber nicht gekünstelt. Ich glaube, sie ist verheiratet. Ich denke mir, ich bin ein Trottel, dass ich mir in meiner Situation über so etwas Gedanken mache. Schließlich bin ich hier ja nicht auf Brautschau. Aber Hedita ist zweifelsohne ein Lichtblick in meinem schwarzen Abgrund der Angst.
    »Was müssen wir jetzt noch machen?« fragt sie mich. Sie ist in der Hocke, um etwas vom Boden aufzuheben.
    »Mich anschnallen«, sage ich.
    Hedita lacht. Sie lacht immer, wenn ich das sage. »Ja. Die Gurte befestigen.« Das scheint so eine Art Fachausdruck zu sein. Man schnallt sich ja eigentlich im Auto an. Sie befestigt die Gurte an mir. Eines der breiten Bänder kommt über die Knie und das andere über die Brust. Alfred kontrolliert das Ganze und zieht die Gurte zu, aber nicht zu fest. Meine Füße stehen auf einer Platte, die mit der roten Liege verbunden ist.
    »Wir starten ganz langsam«, sagt Alfred. »Wenn Sie schwindlig werden oder Probeme mit dem Kreislauf bekommen, sagen sie es. Okay?«
    Ich nicke. »Ja«, sage ich knapp. Eigentlich presse ich das Wort eher aus mir heraus, als dass ich es ausspreche. Ich bin sehr angespannt. Obwohl ich gelähmt bin, verspanne ich mich. Keine Ahnung, wie mir das gelingt. Mir kommt alles wie ein Traum vor. Vielleicht ist es ja einer. Seit ich in diesem Horrorfilm aufgewacht bin, kann ich Traum und Wirklichkeit nicht mehr gut unterscheiden. Besonders in meinen Träumen denke ich mir oft, dass alles wirklich geschieht. Wenn ich nach einer Darmoperation, die im Wohnzimmer einer unfreundlichen alten Dame im Nachbarhaus durchgeführt wird, aufwache, bin ich ganz überrascht, wieder im Krankenhaus zu sein. Ich habe doch genau gespürt, wie die riesigen chirurgischen Instrumente in mir arbeiten und das Blut aus meinem Körper strömt. Jetzt allerdings geschieht nichts Grauenhaftes, also ist es wohl doch kein Traum.
     Alfred nimmt die Fernbedienung mit dem Kabel in die Hand. »Auf geht’ s«, sagt er.
  Ich höre ein Summen unter mir. Dann spüre ich eine leichte Vibration, als der Motor des Stryker zu arbeiten beginnt. Ein leichter Ruck, und ich beginne mich aufzustellen. Genaugenommen stellt mich der Stryker auf, ich selbst bewege mich nicht einen Zentimeter. Meine Perspektive ändert sich, ich werde groß. Ich bin nicht mehr flach und sehe die Welt von unten. Auch bin ich nicht mehr umringt von Menschen, die zu mir heruntersehen und mir versichern, dass es wieder wird. Es wird schon wieder, aber es dauert.
    Erinnerungen steigen in mir auf. Ich fühle mich, als würde ich selbst aufstehen, ein Erlebnis, das erst wenige Wochen her ist. Ich weiß gar nicht, wie lange ich schon hier bin, in China, oder doch in Vöcklabruck. Oder ist es ein Krankenhaus in Mariazell in der Steiermark? Bin ich in London? Nein, das ist nur in meinen Träumen so. Ich bin auf der Stroke Unit der Intensivstation des Landeskrankenhauses Vöcklabruck in Oberösterreich. Und ich liege auf einer Art rotem Ledersofa, angeschnalt, und werde aufgestellt.
    Auf einmal sehe ich die Welt wieder von oben. Die Welt ist ein weiß gestrichenes Zimmer mit einem breiten Kasten mit Regalbrettern, in dem sich verschiedene medizinische Gegenstände befinden: Plastikschachteln mit Gummihandschuhen für die Schwestern und Pfleger in den Größen S, M und L. Schläuche mit Plastiksäckchen für den Katheter, Verbände, Mullbinden und so weiter. Außerdem ein großer Apparat mit Schläuchen, durch die bei der Dialyse mein Blut fließt. Ich fühle mich nicht gut. Es ist ein Gefühl der Beklemmung, ich kann nicht richtig denken, alles erscheint mir so fremd, so ungewohnt und bedrohlich. Mein ganzes Leben ist aus den Fugen geraten. Eigentlich sollte ich zu Hause am Wohnzimmersessel sitzen und Bier saufen, wie ich es mein halbes Leben getan habe. Ich sollte eigentlich Bücher schreiben, die den literarischen Wert eines Stücks Klopapiers haben. Sogar einen Abgabetermin für einen Western habe ich. Den muss ich bis Herbst schreiben, aber ich fürchte, diesen Termin müssen wir verschieben. Ich kann gerade nicht tippen. Verdammt nochmal, ich kann mich nicht einmal am Arsch kratzen.
Trotz aller Strapazen mit dem Kreislauf, ist es ein schönes Gefühl, im Stryker zu stehen, zumindest die ersten paar Minuten. Meine Lage erscheint mir dann nicht so aussichtslos und ich habe wieder die Hoffnung auf ein normales, nicht gelähmtes Leben. Diese Hoffnung ist zwar nur sehr klein, aber sie ist da und gibt mir die Kraft, nicht vollkommen zu verzweifeln und mich auzugeben. Und ich weiß, spätestens, wenn ich wiederflach im Bett liege, geht es mir wiederbesser und ich kann ein bisschen optimistisch sein und mich zumindest in meinen Gedanken mit anderen Dingen beschäftigen.
Heute ist meine Erinnerung an die Zeit auf der Intensivstation nur sehr verschwommen. Ich habewohl viel verdrängt. Zwar hätte ich gerne mehr Material für meinen Blog, aber die Erinnerung ist schmerzhaft. Ich bin wohl noch immer zu krank, um die traumatischte Zeit meiner Krankengeschichte wieder aufleben zu lassen. Dann müsste ich ja alles noch einmal durchleben, und dazu fehlt mir momentan die Kraft.
Natürlich werde ich weiterbloggen und alles, so gut ich kann, festhalten. Das kann ich inzwischen ja auch körperlich schon wieder recht gut. Mich festhalten. Das reduziert meine Angst hinzufallen, wenn ich aus dem Rollstuhl aufstehe.
Sicher liegt viel Wahres in dem Spruch "Man muss auch loslassen können", aber sagen Sie das mal einem Patienten mit Guillain-Barré-Syndrom. Wir sind froh, wenn wir uns festhalten können.
Heute blicke ich mit viel Dankbarkeit auf die wunderbare Arbeit meiner Therapeuten Wolfgang, Alfred und den anderen zurück und kann es kaum glauben, dass sie es geschafft haben, mich aus dem Zustand der totalen Lähmung dazu zu bringen, dass ich diese Zeilen schreiben kann.

Dienstag, 18. November 2014

An alle Verzweifelten: Ein Mutmacher

Sie  werden wieder gesund!
Glauben Sie mir. Verzweifeln Sie nicht, und geben Sie nicht auf. Auch, wenn Sie gerade noch in einer Phase der Krankheit sind, in der Sie nicht glauben können, jemals wieder Ihre Arme bewegen oder sogar gehen zu können, wenn Sie gerade an Unmengen von Schläuchen hängen, die Sie mit Medikamenten versorgen, wenn Sie die Dialyse über sich ergehen lassen müssen und ständig durstig sind, wenn man Sie andauernd mit Nadeln sticht oder Sie sogar einen künstlichen Darmausgang haben, denken Sie immer daran und vergessen Sie es nie:
Sie werden wieder gesund!
Ich schreibe diese Zeilen mit meinem linken Zeigefinger auf meinem iPad. Ich kann mittlerweile, 17 Monate nach dem Ausbruch meiner Krankheit, zwar schon mit beiden Zeigefingern tippen, aber momentan ist meine Lage dafür nicht geeignet. Ich liege mit leicht angewinkeltem Rückenteil im Bett meines Zimmers des Behindertendorfs Altenhof in Oberösterreich. Tagsüber sitze ich in einem elektrischen Rollstuhl, lese E-Books oder gehe zu meinen Therapien. Meinen Oberkörper kann ich gut bewegen, nur die Finger wollen noch nicht so recht. Meine Rumpfstabilität ist sehr gut, ich kann problemlos querbett sitzen und aus dem Rollstuhl ohne große Mühe aufstehen, wenn ich mich dabei an den Griffen eines Rollators festhalte. Ich stehe noch sehr wacklig, schaffe es aber zwei Minuten freihändig mit Ausbalancieren. Dabei sehe ich ziemlich cool aus. Wie ein Surfer.
Vor 17 Monaten war ich noch vom Hals abwärts vollständig gelähmt. Vor zehn Monaten auch noch fast, konnte aber schon tippen. So ging es Schritt für Schritt bergauf. Immer wieder gab es neue Erfolge, immer nur kleine, und ich vergesse sie schnell wieder und auch, wie schlecht es mir im Juni 2013 noch ging. Im Vergleich dazu bin ich heute ein neuer Mensch.
Sie lesen gerade eine kurze Schilderung der Ereignisse, die auch Ihnen bevorstehen. Wenn Sie noch in einem sehr schweren Stadium der Krankheit sind und sich gar nicht bewegen können, macht Ihnen meine Geschichte vielleicht Mut. Das ist übrigens der Grund, warum ich diese Zeilen schreibe. Als die Krankheit bei mir ausbrach und ich auf der Intensivstation aufwachte, wusste niemand etwas über das Guillain-Barré-Syndrom. Selbst die Ärzte konnten keine genauen Prognosen geben. Sie wussten nicht, ob ich nicht vielleicht den Rest meines Lebens gelähmt bleibe.
Ich blieb es nicht. Zwar kann ich noch nicht gehen, weil ich zu wenig Kraft und kein Vertrauen in meine Beine habe, aber mein Physiotherapeut ist zuversichtlich. Ich auch.
Aber damals, als ich erwachte und mir nicht einmal den Namen meiner Krankheit merken konnte, habe ich mir gewünscht, ich hätte mehr Informationen über das Guillain-Barré-Syndrom. Ich glaube, nur wenigen Patienten geht es so, dass sie von den Krankenschwestern- und Pflegern gefragt werden, was das eigentlich für eine Krankheit sei. Die medizinischen Informationen, die mir die Ärzte gaben reichten mir. Vielleicht liegt das daran, dass ich der Sohn eines Arztes und einer Diplomkrankenschwester bin. Ich hatte zumindest keine Probleme mit den Fachbegriffen. Aber im Grunde reicht es aus zu wissen, dass beim Guillain-Barré-Syndrom das eigene Immunsystem den Körper angreift und die Isolierschicht der Nerven zerstört. Diese Isolierschicht heilt wieder. Etwa einen Millimeter pro Tag. Ich bin 1,  80 groß. Sie können sich also vorstellen, wie lange das dauert.
Betroffen ist beim Guillain-Barré-Syndrom nur das periphäre Nervensystem, das heißt, das Hirn und das Rückenmark werden nicht in Mitleidenschaft gezogen.
Die Gespräche mit den Ärzten waren für mich also immer sehr informativ. Aber ich kannte keine Erfahrungsberichte von Betroffenen. Damals konnte ich mich nicht bewegen, also hatte ich keine Möglichkeit, mich durch das Internet schlau zu machen. Inzwischen habe ich einige E-Books zu dem Thema gelesen. Um zu demonstrieren, wie selten und unbekannt diese Krankheit ist, sage ich Ihnen, dass es auf der Kindle-Seite von Amazon nur vier Seiten mit Büchern zum Guillain-Barré-Syndrom gibt. Die meisten davon sind medizinische Fachliteratur über Neurologie und Anästhesie.
Wie viel hätte ich damals dafür gegeben, mehr über diese Krankheit zu wissen? Wie viel Angst, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit wären mir erspart geblieben? Und Tränen, die ich mir nicht abwischen und eine Nase, die ich mir nicht putzen konnte. Hätte ich doch nur mehr über den Krankheitsverlauf und die Schicksale anderer Patienten gewusst.
Natürlich gibt es auch Menschen, die nicht geheilt werden. Es kann passieren, dass schwere Behinderungen und starke Schmerzen zurückbleiben, aber das ist nur sehr selten der Fall. Im Frühstadium kann man auch am Guillain-Barré-Syndrom sterben. Wenn die Lunge gelähmt ist und man nicht künstlich beatmet wird. Ich wurde rechtzeitig beatmet, sonst wäre ich erstickt. Außerdem hatte ich eine schwere Darmsepsis mit massiven Blutungen und ein Nierenversagen. Das alles hätte mich fast umgebracht Acht Monate später kam noch eine Tiefenvenenthrombose dazu, allerdings ohne Lungenembolie.
Todesfälle durch das Guillain-Barré-Syndrom sind allerdings sehr selten und treten im Anfangsstadium der Akutphase auf. Da Sie diese Zeilen gerade lesen oder vorgelesen bekommen, sind Sie über die unmittelbare Lebensgefahr schon hinaus.
Vielleicht geht es Ihnen so wie mir, dass Sie es nicht mehr hören können, wenn jemand sagt: "Das wird wieder, aber es dauert". Vielleicht können Sie es nicht glauben, weil die Erfolge so klein sind, so selten und zeitlich so weit auseinanderliegen. Sicher haben Sie es schon erlebt, dass Sie einen Finger ein winziges Bisschen bewegen konnten und dachten: "Jetzt werde ich gesund." Sicher haben Sie sich, genauso wie ich, wahnsinnig darüber gefreut, haben alle Sorgen über Bord geworfen und sind zum ersten Mal seit langer Zeit mit einem Lächeln eingeschlafen. Vielleicht war es nur ein inneres Lächeln, weil Sie eine Gesichtslähmung hatten, was mir, Gott sei Dank, erspart geblieben ist.
Und dann geschah wochenlang gar nichts. Diese Phasen sind extrem zermürbend und demoralisierend. Aber die Phasen des Stillstands gehen vorbei und neue Erfolge stellen sich ein. Die Fortschritte werden Sie nicht mit Siebenmeilenstiefeln machen, sondern im Schneckentempo. In Superzeitlupe mit Standbildfunktion. Ich war oft am Rande der Verzweiflung, habe geweint und gezittert. Aufgegeben habe ich nie. Der Funke der Hoffnung war immer da. Ich hatte das Glück, dass mir beim Aufwachen auf der Intensivstation der Arzt sagte, dass meine Krankheit heilbar sei. Noch bevor er mir sagte, dass ich am ganzen Körper gelähmt bin. Dadurch war der Schock nicht so groß.
Denken Sie bei allen Widrigkeiten, die diese Krankheit mit sich bringt: "Das gehört zum Gesundwerden dazu." Denken Sie es bei der nächsten Nadel, die in Ihren Körper gestochen wird. Bei Nerven- und Muskelschmerzen. Bei Scherereien mit dem Blasenkatheter. Bei Harnwegsinfekten. Vor Operationen und danach.
Wenn Sie die Anfangsphase überlebt haben, geht es nur noch bergauf.  Es kann Monate und Jahre dauern, ganz sicher wird die Krankheit viele Veränderungen in Ihr leben bringen. Die Fortschritte kommen: Der erste Finger, den sie wieder bewegen können. Das erste Mal, wenn es Ihnen gelingt, den Notfallknopf zu drücken, um eine Krankenschwester zu rufen. Das erste Querbettsitzen. Das erste Aufstemmen mit den eigenen Armen. Die ersten Bewegungen der Beine. Das erste Aufstehen am Stehtisch. Die wiedergewonnene Mobilität durch einen Rollstuhl. Selber essen können. Sich selber waschen. Das erste selbstständige Aufstehen aus dem Rollstuhl. Freihändiges Stehen. Gehen. Gehen. Gehen.
Heute weiß ich, dass die Heilungschancen ausgezeichnet sind. Die überwältigende Mehrheit der Menschen mit dem Guillain-Barré-Syndrom erholt sich wieder. Die Aussicht, wieder auf die Beine zu kommen und das Leben anzupacken ist wolkenlos und sonnig.
Wenn Ihre Angst, Ihre Traurigkeit und Ihre Hoffnungslosigkeit am größten sind: Verzweifeln Sie nicht, fürchten Sie sich nicht, und geben Sie nicht auf.
Sie werden wieder gesund!

Samstag, 15. November 2014

Im Behindertendorf

Es sieht aus wie eine Ferienhaussiedlung. Hier könnte man einen wunderschönen Urlaub verbringen. Nur das Meer fehlt. Und die ausgelassene Stimmung. Man hört kein Kindergeschrei, riecht nicht den Duft von Pizza und Cevapcici. Auf den kleinen Straßen, die von Nussbäumen und Pappeln gesäumt werden, kommen einem keine Menschen mit Luftmatratzen und Sonnenhüten entgegen.
Die Menschen, die man hier in Altenhof am Hausruck auf den Straßen antrifft, fahren in elektrischen oder konventionellen Rollstühlen, manche davon liegen flach ausgestreckt auf ihren Sitzen, andere gehen mit Rollatoren oder Krücken herum. Einige können nicht sprechen oder nur schwer verständliche Laute von sich geben. Diejenigen, die auf ihren eigenen Beinen die Wege beschreiten, sind meist Therapeuten oder Krankenschwestern- und Pfleger.
Aber bei all den Schicksalen, die den Bewohnern des Dorfes ins Gesicht geschrieben stehen, liegt noch etwas anderes in der Luft, das sich nur schwer beschreiben lässt.
Ich würde es am ehesten einen Klang der Fröhlichkeit nennen. Vielleicht interpretiere ich das falsch oder sehe es durch eine Brille des Mitleids, aber ich glaube nicht. Wenn ich darüber nachdenke, muss ich sagen, dass ich nirgendwo sonst so vielen gut gelaunten Menschen begegnet bin. Ich weiß, dass die meisten von ihnen schwer krank sind, aber diese Athmosphäre der heiteren Freundlichkeit scheint mir hier allgegenwärtig zu sein.
Bei einigen Bewohnern habe ich mich schon oft gefragt, wie sie es machen, oft in einer sehr heiteren Stimmung zu sein. Ich komme mir dann klein und wehleidig vor, wenn ich mit meinen vergleichsweise geringen Problemen fast verzweifle und keine Hoffnung auf Besserung mehr habe. Viele arbeiten auch. Es gibt eine Werkstatt, in der Lederwaren wie Taschen und Geldbörsen hergestellt werden. Es sind sehr schöne Arbeiten. Außerdem gibt es ein Kunstatelier, ein Kaffeehaus und eine Gärtnerei.
Ich höre die Menschen auch oft lachen. Eine Stimmung der Verzweiflung und Trostlosigkeit sucht man hier vergebens. Natürlich weiß ich nicht, wie es in den Köpfen und Herzen der Menschen von Altenhof aussieht, und ich frage mich, ob die Traurigkeit und die Schwermut sie überfallen, wenn sie allein in ihren Zimmern sind. Mir geht es oft so. Besonders, seit meine Mutter gestorben ist.
Draußen auf den schmalen Wegen und den kleinen Plätzen ist es jedenfalls nicht so. Besonders auffällig ist die Aura der Geschäftigkeit. Jeder hat etwas zu tun. Niemand sitzt nur traurig herum. Ich habe auch nie das Gefühl, verzweifelten oder gebrochenen Menschen zu begegnen. Das Symbol des Behindertendorfes Assista Altenhof ist eine Sonne. Ich habe immer den Eindruck, diese Sonne strahlt mir von den Menschen hier entgegen. Nicht nur von den Bewohnern, sondern auch von den Mitarbeitern. Alle sind freundlich, grüßen und viele lächeln dabei. Und das ist alles echt. Nichts davon wirkt aufgesetzt oder gespielt.
Altenhof ist ein schöner Ort. Ein Ort, der Mut macht.

Mittwoch, 12. November 2014

Vom Leben und Überleben

Ich kann es mir schon gar nicht mehr vorstellen, wie es ist, gesund zu sein und einfach gehen zu können. All die schönen Wege, die ich einst beschritten habe, sind nur noch Pfade der Erinnerung, auf denen meine Spuren verblassen. Die Spaziergänge am Attersee und an der Adria in Kroatien, den Rosenwind oder die Bora auf meinem Gesicht zu spüren. Das knirschende Geräusch von Schnee unter den Sohlen meiner Stiefel zu hören.
Und dabei atmen um zu leben, nicht nur um zu überleben.
All diese Selbstverständlichkeiten von früher erscheinen mir jetzt wie unwiederbringliche Schätze. Erlebnisse, die ich nicht einfach noch einmal haben kann. Auf einem Sessel zu sitzen, mich nach vorne zu beugen, die Hände auf die Oberschenkel zu legen und einfach aufzustehen. Einfach so. Als wäre es etwas Alltägliches und Bedeutungsloses. Nun, etwas Alltägliches ist es wohl, aber als etwas Bedeutungsloses werde ich diese Fähigkeit wohl nie wieder betrachten können. Und ganz bestimmt nicht als eine Selbstverständlichkeit.
Der Gedanke, dass ich zu Fuß ins Hauptgebäude zu den Therapien gehe oder ins Kaffeehaus, ist für mich zwar vorstellbar, und ich kann mich leicht vor dem inneren Auge sehen, wie ich das tue, aber ich glaube nicht, dass das jemals möglich sein wird. Es ist einfach zu lange her, dass ich normal gehen konnte. Man stellt es mir zwar in Aussicht, aber mir kommt es leichter vor, zum Mars zu fliegen, als auch nur einen einzigen Schritt zurück ins Leben zu machen.
Mein ganzes Leben lang war es für mich eine Selbstverständlichkeit, zu gehen und zu stehen. Nie hätte ich gedacht, dass ich, falls ich durch einen Unfall oder eine Krankheit gelähmt sein sollte, davor Angst haben würde, das Gehen wieder zu lernen.
So unerträglich das Leben im Rollstuhl und mit einem Dauerkatheter auch ist, so sehr fürchte ich, den Schritt in die Selbstständigkeit zu machen. Ich habe bisher mit niemanden darüber geredet, und es hat mich auch nie jemand darauf angesprochen. In all den Monaten nicht. Kein Arzt, keine Krankenschwester, kein Pfleger, keine Therapeutin und kein Therapeut ist jemals auf die Idee gekommen, dass ich Angst davor haben könnte, wieder gesund zu werden und auf die Beine zu kommen. Alle gehen davon aus, dass es eine Selbstverständlichkeit ist, wieder gesund werden zu wollen. Ich frage mich, ob es anderen Patienten auch so geht. Ob andere Menschen mit dem Guillain-Barré-Syndrom oder einer ähnlichen Erkrankung die Freude am Gesundwerden und Gehen können anzweifeln?
Stellen sich andere Menschen auch die Frage, ob es einen Sinn hat, wieder gehen zu können, wenn man seinen Weg doch nicht findet?
Kein Mensch mit zwei gesunden Beinen würde mit mir tauschen wollen. Niemand würde ein freies Leben einem Dasein in Gefangenschaft im eigenen Körper vorziehen. Auch ich hätte das früher nicht getan und jeden für verrückt gehalten, der mir gesagt hätte, dass ich genau das einmal tun würde.
Und dennoch mache ich das. Wenn ich in der Früh verängstigt aufwache und mich vor dem fürchte, was mir der Tag bringen wird, wenn ich daran denke, dass ich wieder Stunden der Freudlosigkeit und Angst vor mir habe und wieder den ganzen Tag im Rollstuhl an meinem Schreibtisch sitzen und darauf warten werde, dass der Tag vorbei geht und ich wieder ins Bett kann, wo ich mich zumindest einigermaßen sicher fühle, ziehe ich dieses Überleben, das ich schon lange nicht mehr als Leben betrachten kann, doch einer ubgewissen Zukunft auf eigenen Beinen vor. Die Angst vor dem Bekannten ist leichter zu ertragen als die Angst vor dem Unbekannten.
Ich lebe nicht, ich überlebe. Trotzdem werde ich nicht aufgeben, meinen Weg zu finden.
Ich will nicht auf der Suche nach meinem Weg auf der Strecke bleiben.