Samstag, 26. Dezember 2015

Schlechte Luft

Um zehn habe ich Physiotherapie. Ich weiß nicht, was sie heute machen werden. Entweder meine Arme und Beine im Bett durchbewegen, oder wir fahren in den Trainingsraum im Erdgeschoß, und ich mache auf einer Bobath-Liege Rumpfstabilisationsübungen. Ich kann mich sogar schon ein bisschen aus der Seitenlage hochstemmen, weil allmählich die Kraft in den Armen zurückkommt.

Samstag, 19. Dezember 2015

Vormittag auf der Neuro

Ich liege im Bett, auf dem Rücken, und trommle leise mit meinen Fingern auf die Matratze. Gerne würde ich mit etwas mehr Kraft auf das Leintuch unter mir schlagen, aber ich will die anderen fünf Patienten in meinem Zimmer nicht aufwecken. Es ist früher Morgen, kurz vor sechs Uhr. Meine Augen habe ich noch geschlossen, aber ich sehe durch die Lider den matten Glanz, der durch das Krankenhausfenster fällt.

Samstag, 12. Dezember 2015

Übungen in Achtsamkeit

Um das Beste aus Ihrem Leben machen zu können, müssen Sie Ihren Aufenthaltsort kennen. Ich empfehle Ihnen, als Übung herauszufinden, wo Sie sind. Viele Menschen - so wie ich - sind auf der Suche nach sich selbst und finden sich doch nie. Das liegt daran, dass man nichts finden kann, wenn man nicht weiß, wo man suchen soll.

Samstag, 5. Dezember 2015

Tu' s trotzdem!

Die Angst kommt nicht aus heiterem Himmel. Für jeden Augenblick der Angst gibt es einen Auslöser, auch Trigger genannt. Im Englischen ist der Trigger der Abzug einer Pistole oder eines Gewehrs. Er setzt eine Kettenreaktion negativer Gedanken und Emotionen in Gang. Oder er gräbt sich so tief in das Unterbewusstsein ein, dass er noch Jahre später entsprechende Angst- und Panikreaktionen auslöst. Im Volksmund sagt man "Ein gebranntes Kind scheut das Feuer".

Samstag, 28. November 2015

Angst ist ein Affe!

Das Leben mit der Angst zehrt an den Nerven. Es ist reines Gift für Menschen mit dem Guillain-Barré-Syndrom. Schließlich sind es doch die Nerven, die sich erholen sollen. Die schützende Isolierschicht aus Myelin soll sich wieder aufbauen, nachdem das eigene Immunsystem sie fast im ganzen Körper weggefressen hat.

Samstag, 21. November 2015

Brüllen Sie!

Ich habe immer geglaubt, dass man in einer Situation wie meiner Lähmung über sich hinauswächst. Dass jeder, der gelähmt im Rollstuhl sitzt und dessen Chancen auf Heilung ausgezeichnet sind, einen extremen Überlebenswillen entwickelt und von früh bis spät nichts anderes tut, als hart zu trainieren. So ein Mensch hat nichts anderes im Kopf als den Gedanken:
"Ich will so schnell wie möglich aus dem Rollstuhl raus!"

Samstag, 14. November 2015

Die Festung der Einsamkeit

Ich habe die Einsamkeit immer geliebt. Ich habe mich nie allein gefühlt, schon als Kind nicht. Ich hatte zwar Freunde, mit denen ich gerne gespielt habe, aber ich wusste es auch zu schätzen, niemand anderen um mich zu haben. Langweilig war mir nie. Ich hatte immer eine Beschäftigung.

Samstag, 7. November 2015

Die Zukunft ist bunt!

Verdränge das Bild der Folterkammer, wenn Du in den OP kommst. Ignoriere den Horror, der Dich vielleicht erfasst, wenn Du völlig bewegungsunfähig auf dem OP-Tisch liegst, die schattenlose Lampe über Dir, all die Maschinen um Dich herum, die Geräusche, das Piepen, das geschäftige Treiben der Krankenschwestern und Ärzte.
All die Instrumente, die Du vielleicht sehen kannst. Die Klingen. Die Nadeln. Die Tupfer, die sich mit Deinem Blut tränken werden. Die Schläuche. Und all diese grauenhaften dunkelgrünen Tücher. Die Kacheln. Das Metall. Das Grelle. Denk nicht an den Geruch, der Dich nicht an Hilfe und Heilung erinnert, sondern an den Tod.
All das wirkt bedrohlich und bedeutungsschwer. Mach es in Deiner Phantasie nicht schlimmer, als es ist. Betrachte den OP-Saal nicht als Deinen Richtplatz. Ein Skalpell ist kein Fallbeil, und die zwei Meter Dünndarm, die sie mir entfernt haben, habe ich bis heute nicht vermisst. Und auch nicht gebraucht.
Immer, wenn ich wieder einmal glaube, mein letztes Stündlein hat geschlagen, greife ich auf Gedanken zurück, die meine Sicht wieder klarer und meine Einschätzung der Situation realistischer erscheinen lassen. Mittlerweile kann ich das schon recht gut und bemerke zusehends, wie der rationale Verstand immer mehr die Oberhand gewinnt. Ich bausche in meiner Phantasie Kleinigkeiten wie ein bisschen Herzrasen oder ein Druckgefühl im Oberbauch zwar immer noch zu Horrorszenarien wie in einem Film aus der Saw-Reihe auf, aber ich kann sie mit vernünftigen Überlegungen wieder auf ihr gerechtes Maß zurückstutzen.
Es ist zum Großteil die Erfahrung, die meine Krankengeschichte mir gebracht hat. Ich habe äußerst brenzlige Situationen erlebt und überlebt, und so können mich Lapalien nicht mehr erschrecken. Das klingt vielleicht eine Spur zu heldenhaft, aber es ist inzwischen so, dass ich nicht mehr damit rechne zu sterben, wenn irgendwo an meiner Haut wieder einmal eine offene Stelle ist. Noch vor einem Jahr habe ich in solchen Fällen geglaubt, dass es sich um irgendeine ernste Sache wie Hautkrebs oder den Beginn eines schweren Dekubitus ist. Der Grund dafür ist, dass ich damals noch nicht erkannt habe, dass meine Krankheit und alles, was damit zusammenhängt, kein großes Schicksalsdrama ist.
Auf mir lastet weder ein Fluch, noch vollzieht sich der Zorn der Götter an mir, und ich werde auch nicht für meine frühere ungesunde und träge Lebensweise bestraft. Diese Form des Aberglaubens bin ich losgeworden. Aber es war für mich lange Zeit ein vollkommen naheliegender Gedanke, dass ich jetzt für alle meine Versäumnisse, Fehler und Unterlassungssünden die Rechnung präsentiert bekomme. So dachte zumindest der irrationale Teil meines Verstandes, der von einer zwar phantasievollen, aber zugleich beängstigenden Vorstellungskraft geprägt ist. Es ist so eine Art Albtraummännlein, das da in meinem Kopf wohnt.
Aber zum Glück gibt es noch einen anderen Teil von mir, der vollkommen rational und vernünftig denken und alle Situationen realistisch einschätzen kann. Es ist der Mr. Spock meiner Persönlichkeit, ein logischer Denker, der sich, um seine Emotionen unter Kontrolle zu halten, dem Kolinahr unterzieht. Für alle, denen die alte Serie Raumschiff Enterprise nicht so geläufig ist, das Kolinahr ist auf dem Planeten Vulkan eine Meditationstechnik, um unerwünschte Gefühle wie Aggression, Wut, Angst und so weiter zu zügeln. Man entledigt sich seiner Gefühle und verschreibt sich der reinen Logik. Faszinierend!
Wie man an meinen Ohren erkennen kann, bin ich zwar kein Vulkanier, aber Meditationstechniken und andere Formen asiatischer Philosophie beeindrucken mich sehr. Ich habe zwar keine Erfahrungen mit den fortgeschrittenen Formen der Meditation, aber schon in jungen Jahren habe ich festgestellt, dass ruhiges Atmen und das Zählen der Atemzüge sehr entspannend und beruhigend ist. Ich habe etwa mit zwanzig Jahren damit angefangen und profitiere heute noch davon. Ich habe mit Hilfe dieser Technik schon viele brenzlige Situationen durchgestanden. Komplett gelähmt auf der Intensivstation, bei unangenehmen medizinischen Eingriffen, in Momenten der Angst, Trauer und Verzweiflung, hat mich das Zählen meines Atems beim Ausatmen immer beruhigt und selbst die große Furcht während meiner Tiefenvenenthrombose erträglich gemacht. Den Atem zu zählen ist mein persönliches Kolinahr.
Außerdem können ganz einfache Gedanken das aufgewühlte Gemüt besänftigen. Man muss nur fest genug daran glauben und seine Probleme aus der richtigen Perspektive betrachten. Wie gefährlich ist ein Harnwegsinfekt wirklich? Klar, man kann eine Nierenbeckenentzündung bekommen und daran sterben, aber ich glaube, die Gefahr ist etwa zu vergleichen mit einer Herzmuskelentzündung durch einen grippalen Infekt. Und darum blicke ich bei solchen Anlässen aus einer Art Position eines Außenstehenden auf mein Problem und denke mir Dinge, wie:

Es ist alles ganz harmlos. Momentan geht es mir gut. Daran sterbe ich nicht. Ist doch nur halb so wild. Morgen ist es besser.

Das klingt vielleicht alles banal und kindisch, aber nach zwei Jahren und vier Monaten Guillain-Barré-Syndrom kann ich sagen, dass es hilft. Zumindest mir. Und wenn Du auch GBS hast und dieselben emotionalen und seelischen Geisterbahnfahrten erlebst wie ich, versuch es doch einmal. Ruhig atmen und die eigene Situation aus einer objektiven außenstehenden Perspektive betrachten. 
Frag Dich: Wie schlimm steht es wirklich um mich? Was ist das Schlimmste, was mir passieren könnte? Ist selbst das Schlimmste wirklich so schlimm? Werde ich mich wirklich nie wieder bewegen können und für immer gelähmt bleiben?
Wenn Du Dir sachliche Fragen wie diese stellen, wird es Dir mit der Zeit leichter fallen, die verschiedenen Erscheinungsformen des Guillain-Barré-Syndroms zu ertragen und zu verstehen. Ich glaube, sich selbst Fragen zu stellen, ist eine sehr effektive Form, Probleme zu lösen und Krisen zu überwinden. Mach es zuerst in Deinen Gedanken, aber wenn Du sich wieder ausreichend bewegen kannst, unbedingt schriftlich. Entweder auf Papier, auf einem Computer oder dem Handy.
Ich erstelle gerne Listen, auf denen ich die Themen, die mich gerade besonders beschäftigen, aufschreibe und dann beantworte ich diese Themen. Ich schreibe dann sehr viel und gebe zu, dass so manches davon in diesem Blog landet. Ich denke mir, wenn es mir hilft, könnte es anderen GBS-Patienten auch helfen. Wenn Du aber kein Schreiberling sind, so wie ich, dann mach Deine Fragenlisten eben gedanklich oder Du redest mit jemandem. Aber tu irgendetwas, um das Chaos, dass in Deinem Kopf herrscht zu ordnen! Und glaub mir, es funktioniert!
Eine andere wirkungsvolle Technik, sich das Leben mit einer solchen Krankheit und ihren seelischen Begleiterscheinungen leichter zu machen, ist, sich das Schlimmste auszumalen. Dafür braucht man zwar starke Nerven, aber wenn man genügend Phantasie und vielleicht auch ein bisschen medizinische Vorbildung hat, wird man das sowieso tun. Ich kann mich jedenfalls nicht dagegen wehren, also habe ich gelernt, den Dämonen meines Geistes ein Zaumzeug und einen Pflug anzulegen und sie für mich den Acker umgraben zu lassen.
Wenn mir mein eigener Verstand schon Angst macht, dann soll das wenigstens einen positiven Nutzen für mich haben. Ich habe mich in Augenblicken der Unsicherheit, der Sorge und der blanken Angst immer gefragt, was das Schlimmste wäre, das mir passieren könnte. Dafür muss ich mich nicht einmal anstrengen, meine Phantasie präsentiert mir die anatomischen Details auf einem blutigen Serviertablett. Das trägt zwar vorübergehend dazu bei, dass ich mich noch schlechter fühle, aber ich habe im Nachhinein dann immer das Erlebnis, dass alles doch gar nicht so schlimm war.
Was man in Momenten der Krise und der Angst vergisst, ist, dass nicht die Ereignisse, die einem passieren beängstigend sind, sondern was unsere Gedanken daraus machen. Früher konnte ich das noch nicht so objektiv sehen, weil mir die Vorstellung der Dinge, die mit mir geschehen könnten, die Brust zuschnürten und meine inneren Organe gefrieren ließ.
Mit der Zeit habe ich es gelernt. Ich weiß zwar nicht, ob mir das auch in Zukunft so gelingen wird, aber ich weiß jetzt zumindest, wie es geht. Ich kann die Ereignisse, die noch auf mich zukommen werden im Vorhinein sowieso nicht kontrollieren, ich kann nicht einmal wissen, was geschehen wird. Es passieren so viele verrückte Dinge, und es gibt so viele Möglichkeiten, wie sich eine Situation entwickeln wird, dass es mir manchmal fast so erscheint, als würde ich ständig zwischen einer unendlichen Vielfalt an Parallelwelten wählen können. So, als würde ich ständig die Raumzeitdimensionen wechseln. Ich hör' schon auf. Sonst kommt noch Dr. McCoy mit der Zwangsjacke.
Die große Anzahl an Möglichkeiten und die Tatsache, dass nie etwas so passiert, wie ich es mir in meinen schlimmsten Phantasien vorstelle, haben mich zu der Erkenntnis gebracht, dass es eigentlich gar keinen Grund gibt, Angst zu haben oder depressiv zu sein. Es ist wie in der Unschärferelation von Werner Heisenberg. Man kann zwar den Aufenthaltsort, die Masse, die Geschwindigkeit und so weiter eines Atomteilchens bestimmen, aber immer nur einen dieser ganzen Faktoren. Der Physiker kann nie das Gesamtbild sehen. Seine Beobachtung verändert das Objekt seiner Betrachtung. Man könnte vereinfacht sagen, dass nur das existiert, worauf er seine Aufmerksamkeit richtet. Aber daneben gibt es noch Unmengen von anderen Möglichkeiten.
Genau aus diesem Grund glaube ich nicht an Prophezeiungen und Zukunftsvorhersagen, die nicht auf wissenschaftlichen Prognosemethoden basieren. Niemand kann vorhersagen, in welche Richtung das Elektron steuert, und plötzlich ist es ganz woanders, als man geglaubt hat. Genauso wie ein Mensch, der meint, sein Schicksal wäre besiegelt. Es gibt immer noch andere Möglichkeiten, die wir gar nicht sehen oder auch nur erahnen können.
Die Zukunft ist unscharf. Vielleicht gibt es sie gar nicht, und wir leben alle in einer unendlichen Gegenwart. Viele Menschen glauben, alles sei vorherbestimmt. Sie sagen das meistens mit einem schicksalsergebenen Unterton in der Stimme. So, als hätten sie gar keinen Einfluss auf ihr Leben. Ich glaube, diese Menschen meinen, dass sie nur ein einziges Schicksal haben, und eben dieses sei vorherbestimmt.
Wenn alles vorherbestimmt ist, dann müssen auch die unendlich vielen Variationen einer Situation vorherbestimmt sein. Das würde bedeuten, dass einem jeden Menschen eine unendliche Vielzahl an Schicksalen vorherbestimmt ist. Nun liegt es an jedem Einzelnen, sich sein eigenes Schicksal auszuwählen. Klingt leicht, ist aber schwer. Vielleicht reicht es ja, eine Entscheidung zu einem bestimmten Schicksal zu treffen. Die innere Einstellung trägt jedenfalls viel zur Weiterentwicklung einer Situation bei. Früher habe ich solche Weisheiten für Schwafelei gehalten, aber inzwischen weiß ich aus eigener Erfahrung, dass es stimmt.
Eine einzige Zukunft ist jedenfalls nicht vorherbestimmt. Als Grafiker sehe ich die Zukunft eher als Palette mit einer unendlichen Zahl an Farbschattierungen. Oder sagen wir besser, an Farben. Damit kann man Höllenszenarien malen wie Hieronymus Bosch, aber auch volkommene Schönheit und Anmut wie die Venus von Botticelli.
Die Zukunft ist bunt.
Na, wenn das kein schöner Satz ist! Vielleicht sehe ich das alles zu künstlerisch, aber so bin ich nunmal. Anders kann ich nicht. Versuche, diesen Gedanken zu verinnerlichen und immer dann zu reaktivieren, wenn Dir wieder etwas Unangenehmes bevorsteht oder die Angst ihre eiskalten Finger nach Dir ausstreckt:
Es ist alles ganz harmlos.

Die Zukunft ist bunt und wunderschön.



Samstag, 31. Oktober 2015

Der Elefant im Monster Truck

Oft fällt es mir schwer, meine Situation aus der richtigen Perspektive zu betrachten. In meiner Vorstellung wächst ein Sandkorn schnell zu einem Sandsturm heran, der mich zu begraben droht. Meine Phantasie macht aus einer Fußnote ein welterschütterndes Drama. Das war zwar schon immer so, aber in Zusammenhang mit meiner Krankheit hat mich diese Eigenschaft viel Zeit und Fortschritte gekostet.

Samstag, 24. Oktober 2015

Der Körper ist ein Witz

Ich habe leider einen Hang zur Dramatik. An sich ist das etwas Gutes, denn er hat mich schon in früher Kindheit dazu gebracht, mich für Filmgeschichte, für das Zeichnen und Malen und Literatur zu interessieren. Auch heute ist es noch so, dass ich versuche, alles, was ich erlebe, künstlerisch zu verarbeiten.

Samstag, 17. Oktober 2015

Der Traum vom Leben

Das Guillain-Barré-Syndrom ist eine sehr schwere Krankheit. Sie ist in der Akutphase lebensbedrohlich, insbesondere durch einen möglichen Atemstillstand. Es gibt lebensgefährliche Folgeerscheinungen, wie die Tiefenvenenthrombose mit Gefahr einer Lungenembolie. Hatte ich. Außerdem wirkt sich GBS auf die Psyche aus. Das ist vielleicht sogar das Schlimmste an allem.

Samstag, 10. Oktober 2015

Trudi ist tot!

Trudi ist tot. 
Endlich. 
Ich konnte die Alte schon nicht mehr sehen. Sie war ein grauenhaftes Weibstück. So anhänglich, und sie musste immer und überall mit dabei sein. Den Hals hat sie auch nie voll gekriegt, und ein paar Mal ist ihr sogar der Kragen geplatzt. Trudi war eine Schmarotzerin übelster Sorte. Sie hat mich total ausgesaugt.

Samstag, 3. Oktober 2015

Einkaufsliste zum Glück

Gehören Sie auch zu den Menschen, die in Krisensituationen immer gleich das Schlimmste befürchten? Und stellen Sie im Nachhinein dann fest, dass es nicht einmal annähernd so schrecklich war, wie Sie es sich in Ihrer überbordenden Phantasie vorgestellt haben?

Samstag, 26. September 2015

Lucky Lux - Freude und Licht

Es gibt ein Wundermittel gegen Zweifel, Sorgen und Ängste.
Nicht nur eines, es gibt sehr viele. Es gibt Medikamente, die Ängste und Depressionen lindern, indem sie den Serotoningehalt im Hirn erhöhen. Diese Theorie ist zwar umstritten, da noch nicht genau geklärt ist, wie das Serotonin exakt wirkt, aber sie ist in der Medizin die gängige Ausgangsposition bei der Behandlung von Ängsten und Depressionen.

Samstag, 19. September 2015

Der Einsiedlerkrebs

Ein Sommertag. Es ist heiß. Die Jalousien in meinem Zimmer sind zu. Sonst staut sich die Hitze. Von draußen höre ich einen Bewohner eines anderen Hauses schreien. Es klingt wie das Schreien eines Babys, nur mit der Stimme eines Erwachsenen. Ich weiß nicht, ob es ein Mann oder eine Frau ist. Draußen am Gang piepst es. Irgendjemand hat auf den Glockenknopf gedrückt, um eine Krankenschwester zu sich zu rufen. Vor dem Haus höre ich Arbeitsgeräusche und vereinzelt Stimmen. Ein Auto fährt vorbei, jetzt wird eine Autotür zugeschlagen. Das Klappern von Geschirr. Zehn vor halb zehn.

Samstag, 12. September 2015

Daumenschrauben

Als ich mit der Physiotherapie begann, hat es mich sehr überrascht, dass die Therapeuten von Anfang an zu mir gesagt haben "Es darf nicht weh tun." Leichte Schmerzen, wenn beispielsweise die Muskeln gedehnt und durchbewegt werden, dürfen zwar sein, aber richtig starke Schmerzen darf man bei der Therapie nie haben. In der Ergotherapie war es genauso, obwohl die oft wesentlich schmerzhafter war.

Samstag, 5. September 2015

Sorry Sorgenfresser

Manchmal flüstert das Kind in die Dunkelheit seines Zimmers, dass es sich nicht immer so fürchten soll. Das Kind will einfach nicht erwachsen werden. Es will schon, aber es kann nicht. Es findet die Welt der Erwachsenen bedrohlich und fremd. Es verkriecht sich lieber in seine Phantasie. Dort kann es all seine Sorgen und Ängste vergessen.

Samstag, 29. August 2015

Easy Rolli

Abenteuerlust. 
Wie kann ich Abenteuer erleben, wenn ich mich nicht traue? Feigling. Das Gegenteil eines Abenteurers ist ein Feigling. Feigheit ist Selbstverrat. Die wahren Abenteuer sind im Kopf, hat André Heller gesagt. Und sind sie nicht im Kopf, dann sind sie nirgendwo. 
Krankheit ist ein Abenteuer. Sie ist nicht nur ein persönliches Schicksal mit Angst, Schmerz und Ungewissheit, sondern auch interessant. Man kann sich in die objektive Beobachterrolle zurückziehen. Ich beobachte diese Situation und Angst und bin deshalb mehr als die Angst. Sich über die Angst erheben, über das Mühsal, den Stress, den Ärger, die Trauer, die Feigheit. Flügel bekommen, wachsen lassen. Flügel, um sich über alles zu erheben. 
Der Geist besiegt die Materie. Die größte und stärkste Kraft im Universum ist der menschliche Geist. Stärker als alle Atombomben und mächtiger als jeder Herrscher. Ein Abenteurer. Und mehr. Unser Geist ermöglicht uns in jedem Alter eine kindliche Betrachtungsweise des Lebens. Alles nicht so ernst nehmen. Das Leben leicht nehmen, genießen. Trotz Krrankheit ist das möglich. Trotz Behinderung. Sicher nicht bei sehr schweren tödlichen Krankheiten. Sicher nicht, wenn man chronische Schmerzen hat oder verwirrt ist, aber das Abenteuer kann ein Rettungsanker sein. 
Ich sehe inzwischen alles als großes Abenteuer und nehme es nicht so ernst. Sich selbst nicht so ernst nehmen. Ich nehme mich nicht so ernst, meine Probleme sind gar nichts im Vergleich zu dem Leid anderer Menschen, aber ich frage mich, wie würde ich reagieren, wenn ich eine wirklich ernsthafte Krankheit bekäme. Würde ich sie tapfer durchstehen und meinen Weg zu Ende gehen, selbst bis in den Tod? Ich weiß es nicht. 
Das Guillain-Barré-Syndrom ist eine ernsthafte Krankheit und sehr schwer und man kann daran sterben, auch an den Folgeerscheinungen. Thrombose, Lungenembolie. Und sie verändert die Persönlichkeit zum Guten. Sicher ist das bei jedem Menschen anders. Ich muss sagen, dass ich sehr von GBS profitiert habe. Mein Menschenbild hat sich verbessert. Ich habe so viele liebe und hilfsbereite Menschen kennengelernt, nicht nur unter den Mitarbeitern der Krankenhäuser, des Rehazentrums und des Behindertendorfs, sondern auch unter den Patienten, denen ich begegnet bin. Ich habe nie jemanden kennengelernt, der nicht in irgendeiner Weise hilfsbereit gewesen wäre. 
Aber Hilfsbereitschaft kann einen auch am Vornakommen hindern. Ich bin ja einer, der nicht so schnell aufgeben mag. Wenn mir etwas zu anstrengend wird, verschiebe ich es auf ein anderes Mal, oder wenn ich etwas fürchte, versuche ich es zu vermeiden, aber ich habe auch gelernt, zäh zu sein und mich selbst zu Dingen zu zwingen, die ich früher nie gemacht hätte.
Ich rede mehr mit den Menschen, und es fällt mir nicht mehr so schwer wie früher. Die klientenzentrierte Gesprächstherapie hat mir da sehr weitergeholfen, auch was meine negative Sicht auf das Leben und das Schicksal betrifft. Ich fahre mit meinem E-Rolli ganz alleine ins Kaffeehaus ein Eis essen. Einfach so. Vor einem Jahr für mich noch unvorstellbar. Die Gesprächstherapeutin sagte, wenn ich das regelmäßig mache, wird es zur Gewohnheit, und damit vergeht die Unsicherheit. Genauso war es auch.
Mit dem unerschütterlichen Mut eines strahlenden Helden stürzte ich mich ohne auch nur eine Sekunde zu zögern todesverachtend in den...
...Eisbecher Dänemark.
Mit Vanilleeis. Mit Schokosauce. Mit Waffeln.
Mit Schlagobers.
Draussen auf der Terrasse, im Sonnenschein meines wiedergewonnenen Sommers.
Das einzige, was den fantastischen Eisbechern im Café Hausruckwald fehlt, sind eine Prise Fettverbrennung und ein Kalorienkiller. Trotzdem finde ich die Empfehlung meiner Therapeutin, die Fahrt ins Kaffeehaus zur Gewohnheit zu machen, insgesamt richtig supie!
Kürzlich hat sie mir gesagt, ich könne die bewusste Entscheidung treffen, dass mir etwas, das ich vorhabe, gut gelingen wird. In der vergangenen Physiotherapiestunde ist es mir zum ersten Mal gelungen, mit den freibeweglichen Barren der Laufkatze aufzustehen. Ohne Hilfe meines Therapeuten Wolfgang. Und aus normaler Sitzposition im E-Rolli, ohne die Sitzfläche vorher anzuheben. Wenige Minuten davor, als ich draußen auf dem Gang auf den Beginn der Therapiestunde wartete, dachte ich, dass mir an diesem Tag nichts Besonderes gelingen werde. Ganz einfach aus dem Grund, weil das in den vergangenen Wochen auch so war. Ohne schieben, heben und stützen durch den Therapeuten ist mir so gut wie gar nichts gelungen.
Aber dann, auf einmal, ging es! Wenn Sie ein GBS-Kollege sind und selbst noch bewegungsunfähig im Bett liegen und mit Pudding gefüttert werden, denken Sie immer daran, dass beim Guillain-Barré-Syndrom die Veränderungen plötzlich kommen können. Insgesamt ist es ein sehr langwieriger Prozess, aber auf einmal, praktisch über Nacht, gelingt einem etwas, das man sich nicht zugetraut hätte. Ich habe das in den letzten zwei Jahren oft erlebt.
Zum ersten Mal hatte ich ein solches Erfolgserlebnis, als ich noch auf der Intensivstation in Vöcklabruck lag. Das war im Juni 2013. ich stand, festgezurrt in einer aufstellbaren Liege namens Stryker. Vor mir lag auf einem Tablett ein Papierhandtuch. Meine fantastische Ergotherapeutin Martina mit dem dunklen Haar und der lila Brille sagte, ich solle das Tuch an den Kanten des Tabletts entlangschieben. Einmal rundherum, gegen den Uhrzeigersinn. Ich dachte mir, das ist vollkommen unmöglich. Ich war noch immer im Zustand der Tetraparese, das heisst, alle vier Gliedmaßen waren gelähmt. Zwar konnte ich meine Arme ein wenig auf und ab bewegen, aber nicht mehr als ein paar Zentimeter. Mit einem Tuch über ein Tablett zu wischen erschien mir vollkommen unmöglich zu sein.
Trotzdem versuchte ich es. Und es war, als würden sich meine Hand und mein Arm ganz von alleine bewegen. Sie ignorierten meine Zweifel ganz einfach. Meine Finger waren zwar noch vollkommen gelähmt und nach innen gekrümmt, aber trotzdem schaffte ich es, das Tuch voran zu schieben. Und dann um die Ecke. Ich kam zwar nicht ganz um das Tablett herum, aber bis zur linken Kante.
"Jetzt kann ich Barkeeper werden", sagte ich, und Martina lachte. Sie hat überhaupt viel gelacht, war immer gut gelaunt und hatte in ihrer stämmigen Gestalt und ihrem fröhlichen Gemüt eine unglaublich starke Motivationsgabe. 
Danke, Martina!
Das hat mir an der Ergo- und der Physiotherapie immer besonders gut gefallen: Mir wurde immer alles zugetraut. Vielleicht nicht sofort oder schon in einer Woche, aber nie hat ein Therapeut etwas für unmöglich gehalten. Vor einigen Monaten begann ich damit, meinem Therapeuten Vorschläge zu machen, was ich alles ausprobieren könnte. Ich wollte am Schreibtisch an der Wand meines Zimmers aufstehen. Ein paarmal habe ich das zwar mit Ach und Krach und Wolfgang geschafft, aber richtig erfolgreich war ich damit nicht. Wir probierten auch aus, dass ich mich am Galgen über meinem Bett festhalte und versuche, aus dem E-Rolli aufzustehen. Da habe ich mir allerdings zuviel zugetraut. Das klappte nämlich überhaupt nicht. Das hätte ich dir gleich sagen können, meinte Wolfgang. Aber er ließ es mich versuchen.
Eine der wichtigsten Lektionen, die ich im Laufe meiner Krankengeschichte gelernt habe ist, dass nichts unmöglich ist. Obwohl ich es lange Zeit nicht geglaubt habe, hat sich letztlich immer alles bewahrheitet, was die Therapeutinnen und Therapeuten gesagt haben. Sie haben nie zuviel von mir verlangt, aber unterfordert haben sie mich auch nicht.
Ich werde nie vergessen, wie ich während meiner Reha am Gmundnerberg in der Physiotherapie auf einer dicken blauen Rolle saß, die am Boden lag. Meine große und schlanke Therapeutin Christina saß vor mir und forderte mich auf, mich langsam abwechselnd nach links und rechts zu beugen. Ich tat es widerwillig, weil ich damit gerechnet habe umzukippen. Und es war tatsächlich eine äußerst wacklige Angelegenheit.
Genaugenommen bewegte ich mich gar nicht, sondern schwankte hin- und her wie ein besoffenes Walross. Ich weiß zwar nicht, on Walrosse Alkohol zu sich nehmen, aber wenn sie es tun, dürfte es genauso aussehen. Ich saß wie ein Cowboy auf einem Pferd, aber nicht so cool wie Clint Eastwood, sondern eher so wie Hoss aus Bonanza. Meine Füße hatte ich auf dem Boden, aber da ich sie nicht bewegen konnte, waren sie mir keine Hilfe. Meine Position konnte ich zwar irgendwie korrigieren, aber richtig abstützen hätte ich mich nicht können. Ich wäre einfach umgekippt. Dazu sollte man wissen, dass Christina sehr groß, schlank und hübsch ist. Das hat mich zwar alles nicht gestört, aber ihr zartes Gewicht machte mir doch Sorgen. Ritterlich wie ich nun mal bin, zumindest, wenn ich auf so einer fetten blauen Therapiewurst sitze, machte ich mir nicht sosehr Gedanken über mich, sondern über Christina. Ich glaube, ihr Anblick hätte jede Anmut verloren, wenn ich auf sie draufgefallen wäre. Da wäre sie nicht überrascht gewesen, sondern buchstäblich platt. Ich bin nämlich ein ziemlich schwerer Junge.
Aber als Physiotherapeutin wusste sie genau, was sie einem Patienten zutrauen kann, und ich muss zugeben, es hat mir sogar ein bisschen Spaß gemacht. Und danach fühlte ich mich großartig. Wieder einmal hatte ich etwas geschafft. Ich bin auf einer fetten blauen Therapiewurst gesessen. Damit keine Missverständnise entstehen, mit Terapiewurst meine ich das Trainingsgerät, nicht die Therapeutin. Und fett bin ich selber.
Oder, wie Garfield sagt, ich bin zu klein für mein Gewicht. Nicht übergewichtig, sondern untergroß. Aber wenigstens bin ich nicht mehr so Megaadipös wie früher. Ich war so fett, ich hatte einen eigenen Mond. Ich habe die Gezeiten des Attersees beeinflusst. Ich war der Herr der Speckringe.
In dem halben Jahr, das ich im Krankenhaus war, habe ich über fünfzig Kilo abgenommen. Ich nenne es die Guillain-Barré-Diät. Gelähmt im Bett zu liegen, gefüttert zu werden und nur Wasser zu trinken funktioniert hervorragend. Ich hatte nie Hunger, konnte essen, was ich wollte, besonders eiweißreiche Kost und fast jeden Tag köstliches Kalbfleisch, Apfelstrudel zum Nachtisch und als Vorspeise zum Mittagessen fantastische Suppen aus einer kleinen Schüssel, die allerdings manchmal so aussahen wie das Zeug in meinem Katheterschlauch. Ich nannte es Sedimentsuppe.
Trotzdem möchte ich die Guillain-Barré-Diät niemandem empfehlen. Ich überlege mir gerade, wie ich meinen blödsinnigen Pizzawitz hier einbringen könnte, aber mir fällt nichts ein. Sie wissen schon: Pizza Tetra Parese mit extra viel Käse.
Leider habe ich hier in Altenhof wieder einiges an Pfunden zugelegt. Das Dolce Vita im Rollstuhl bekommt meiner Figur nicht. Vielleicht schreibe ich einmal mehr darüber. Schlemmerreise Altenhof.
So sind sie, die Abenteuer eines GBSlers. Es ist nicht ganz dasselbe wie eine goldene Indiobüste aus einem Tempel zu stehlen, während man aus den Wänden mit Pfeilen beschossen und von einer gigantischen Steinkugel verfolgt wird, aber für mich ist es zumindest nicht weit davon entfernt.
Bei den Aufstehübungen an der Laufkatze ist es genauso. Zuerst traue ich mich nicht, überwinde mich dann aber doch und kann nicht glauben, was ich wieder erreicht habe. Vielleicht sollte ich das verfilmen. Einen Titel für meine Abenteuer hätte ich schon:
"Assista Jones und die Katze des Grauens".
Vielleicht liest ja ein Mensch mit dem Guillain-Barré-Syndrom diese Zeilen und findet ein bisschen Motivation und Aufmunterung. Ich weiß, wie man sich fühlt, wenn man 16 Stunden an die Zimmerdecke starrt, bevor man übergangslos in einen achtstündigen Albtraum verfällt, in dem man lebendig begraben wird. Wenn man wieder erwacht und keinen Unterschied zwischen einem Sarg und dem Bett, in dem man liegt, erkennen kann.
Wenn man sich nicht nur tot fühlt, sondern so gut wie tot ist und sich fragt, ob das die nächsten fünfzig Jahre so bleiben wird. Ich habe während der Zwei Monate auf der Intensivstation seitenweise Tagebuch geschrieben. Mit Kugelschreiber auf einem DIN-A-4-Collegeblock. Ich freute mich darüber, dass ich das kann.
Solange ich schreiben kann, lebe ich. Dachte ich. Bis ich aufwachte. Dann lagen meine Arme wieder an den Seiten meines Körpers. Alles, was ich bewegen konnte, war mein Kopf. Ich drehte ihn nach links und sah durch ein riesiges Fenster Häuser, Straßen und gehende Menschen. Es war eine Welt, die direkt hinter einer Glasscheibe lag. Da draußen ist das Leben, dachte ich. Ich dachte viel. Auch jetzt denke ich noch viel nach. Ich würde sogar sagen, zuviel. Mit meinen Gedanken mache ich mir das Leben oft schwerer als es ist. Wenn ich zuerst darüber nachdenke, was mir passieren könnte, wenn ich mit Schwung an der Laufkatze aufstehe. Ich könnte stürzen, mir das Genick brechen und dann unheilbar am ganzen Körper gelähmt sein.
Christina sagte damals zu mir "Es kann immer irgendwas passieren." Sie meinte damit, dass ich mich von den Gefahren nicht abschrecken lassen sollte. Inzwischen habe ich mir diese Lebenseinstellung zumindest zum Teil angeeignet.
Danke, Christina!
Ich würde zur Laufkatze sagen "Hello, Kitty. Just Do It!" Allmählich entwickle ich diese Mentalität, aber ich werde die Katze noch oft kicken müssen, bevor ich ganz normal aufstehen kann.
Vielleicht können Sie das auch, lieber GBS-Leidenskollege. Vielleicht können Sie es sogar besser als ich. Und falls Sie auch noch nicht mehr tun können, als durch ein Fenster in die Welt zu schauen, kann ich nur ein weiteres Mal wiederholen, was ich immer schreibe, wenn mir kein besseres Schlusswort einfällt:
Der Weg ist da. Mein Freund, der Weg ist da. Näher als Sie vielleicht denken.
Ich kann jetzt selbst wieder in die lebende Welt hinaus. Noch nicht auf meinen eigenen Füßen, aber vier Räder sind auch gar nicht so schlecht. Ich fahre gerne über die Straßen des Assista-Geländes, obwohl sie zu beiden Seiten hin abschüssig sind. Das liegt wahrscheinlich an der hügeligen umgebung. Auf diesen Straßen fährt man mit dem E-Rolli auf einer Art Wulst im Asphalt, und links und rechts geht es bergab. Anfangs hatte ich damit Schwierigkeiten, aber ich habe mich daran gewöhnt. Ich mache gerne Videos von meinen Spazierfahrten. Besonders die Zeitrafferaufnahmen durch das ganze Dorf sind sensationell geworden. Ich werde sie demnächst auf YouTube hochladen.
So, also, hat sich meine Sicht auf das Leben geändert: Ich sehe im Rollstuhl nicht mehr ein Fortbewegungsmittel, aus dem ich vielleicht nie wieder rauskommen werde, sondern den sensationellsten Kamerawagen, den man sich nur vorstellen kann. Außerdem habe ich sogar in der größten Sommerhitze immer einen kühlen Fahrtwind.
Ich habe gelernt, das Leben mit GBS leichter zu nehmen.
Easy Rolli.

Samstag, 22. August 2015

Der Idiotenschlitz

Stellen Sie sich einmal vor, Sie sitzen in einem E-Rolli vor einem Kaffeeautomaten. Sie möchten sich einen Becher Kaffee vergönnen und haben sich sogar extra dafür eine hübsche Tasse mit lila Blümchen gekauft, im Fair-Trade-Laden gleich da drüben, weil die Automatenbecher so dünn sind und der Kaffee so heiß ist. Also stellen Sie die Tasse in den Automaten, der Becher fällt hinein, der Kaffe wird vom Automaten eingefüllt. Alles ist o.k., bis auf eine Kleinigkeit: 
Das alles findet nur in Ihrer Fantasie statt. 
In der Realität sitzen Sie vor dem Automaten und versuchen, eine Euromünze einzuwerfen. Von der Körperhaltung her kein Problem. Sie können die Münze auch halten, sogar im Pinzettengriff, aber sicherheitshalber verwenden Sie eine Grillzange aus Holz. Das klingt theoretisch super, aber theopraktisch wird die Münze beim Versuch, sie in den schräg nach oben gerichteten Schlitz des Automaten zu werfen, von dem Widerstand, den der neidige Automar bietet, weil er den ganzen Kaffee für sich alleine haben will, in die Zange zurückgeschoben. Aber Sie geben nicht auf! Was würden Sie jetzt machen? 
Also, ich sage Ihnen was ich gemacht habe. Zuerst habe ich es noch ein paarmal mit der Zange versucht. Sinnlos. Geht nicht. Dann mit den Fingern. Geht fast, aber der Vollidiot, der diesen Automaten konstruiert hat, ist wohl nicht auf die Idee gekommen, dass Rollstuhlpiloten auch gerne zwischendurch mal einen schnellen Kaffee trinken, aber ein klitzekleines Problem damit haben, wenn der Einwurfschlitz zu hoch angebracht ist und außerdem noch schräg nach oben zeigt. Das war früher bei den Kaugummiautomaten und dem Wurliwurm viel einfacher. Was Sie wollen, ist Kaffee. Was Sie nicht wollen, ist eine Euromünze aus dem Rollstuhl heraus vom Boden aufheben. Wollte ich auch nicht, musste ich aber, weil mir das Geldstück, das wahrscheinlich derselbe Idiot entworfen hat, der auch für Kaffeeautomaten zuständig ist, aus der Hand fällt. 
Kein Problem, finde ich, und weil ich vom Sternzeichen Jungfrau bin, denke ich immer an alles, auch an sowas, und habe vorsichtshalber meine Greifzange mitgenommen. Die lange mit dem grauen Griff. Habe ich ja schon ein paarmal geschafft. Münzen und so weiter damit aufzuheben. Heute nicht. Nach dem gefühlten zwanzigtausendsten Versuch beschließe ich, meine Münzhebetechnik zu optimieren und denke nach, was ich tun könnte. Klingt das nach aufgeben? Na gut, ich geb' s ja zu. Aber ich habe nur die Art und Weise, wie ich die Münze aufheben kann, verändert. Ich denke und denke und denke und spüre dabei wie es in meinem Bauch rumort. Genau genommen im Stoma, aber das ist kein Problem, weil ich bin ja Jungfrau und immer bestens organisiert und mit allen möglichen Gimmicks und Gadgets ausgestattet. Mein E-Rolli kann übrigens fliegen, aber das ist eine andere Geschichte und soll ein anderes Mal erzählt werden. In diesem Fall ist meine streng geheime 007-Superwaffe ein weißer Mullklebestreifen, den die Krankenschwestern auf die Stomaplatte über dem Loch in meinem Bauch kleben, damit es keinen Shitstorm gibt. 
Also denke ich mir, ich klebe die Platte vorsichtshaalber zu und da, plötzlich, unerwartet und unverhofft kommt oft, wie aus dem Nichts, einfach so aus heiterm Himmel, trifft mich mit voller Wucht ein Geistesblitz, wie ihn davor nur Leute vom Schlage eines Thomas Edison oder Daniel Düsentrieb hatten. Ich beginne mit freier Assoziation, und mein kreatives Hirn hat innerhalb einer Millisekunde eine Lösung für das Bodenmünzhebeproblem. Klebestreifen sind klebrig, denke ich mir. An denen bleibt alles mögliche kleben, vielleicht auch eine Münze. Ja genau! Ich müsste eigentlich nur die Sitzfläche meines E-Rollis in die Liegeposition bringen, mich ein bisschen hin- und her wälzen, einen Arm nach unten ausstrecken, weil da befinden sich Boden und Münze, und den Klebestreifen mit der Klebeseite auf die Münze legen und sie so aufheben. Genialer Plan, tausendmal raffinierter als in Oceans 11, aber was ist der Haken? Keiner. Es gibt keinen. 
Es funktioniert! 
Ich kann es nicht glauben, in meinem Leben geht etwas ganz leicht, vollkommen problemlos. Als typische Jungfrau glaube ich sowieso nichts und schon gar nicht diesen astrologischen Horoskopbullshit. Ich hebe die Euromünze auf und sehe mir das Wunder an. Und jetzt stellen Sie sich das einmal bildlich vor: Ein dicklicher Mitvierziger in einer schwarzen Trainingshose und einem blauweiß karierten kurzärmeligen Hemd liegt in einem elektrischen Rollstuhl und betrachtet mit staunenden Augen und einem breiten Grinsen eine Euromünze, die vor seinem Gesicht an einem weißen Klebestreifen baumelt. Wenn Sie sich das vorstellen können, vergessen Sie es am besten gleich wieder, denn letztlich ist das alles nur unglaublich peinlich, aber ich habe nicht aufgegeben. Ich fühle mich wie Tom Hanks in Castaway. Ich habe ein Feuer gemacht! Ich habe ein Feuer gemacht! Leider kann ich nicht um das Lagerfeuer tanzen, aber ich kann meinen E-Rolli wieder in eine normale Position bringen und mich ordentlich hinsetzen. Und dann gibt es noch einen Punkt, den ich erledigen muss, damit ich mich fühlen kann wie Rocky Balboa. 
Ich muss den Apollo Creed unter den Kaffeeautomaten bezwingen und mir meinen Pulvercappuccino holen. Also fahre ich zurück zum Automaten, konzentriere mich und werfe mit meinen Fingern, die so schön im Pinzettengriff geformt sind, dass mein Ergotherapeut Johannes in einen Freudentaumel ausbrechen würde, die Euromünze in den Idiotenschlitz. Einfach so. Ohne Pauken und Trompeten oder Donner und Doria. Problemlos. Ein Wort, das ich selten verwende. Ich fühle mich tatsächlich wie Rocky.
"Adrian! Ich hab' gewonnen!"
Wie es mir gelungen ist, mit der Münze so genau in den Schlitz zu treffen?
Ich bin Aszendent Schütze.

Samstag, 15. August 2015

Wir sind im Süden!

Heute ist der 15. August 2015. Der erste Todestag meiner Mutter. Das sogenannte Trauerjahr ist vorbei, aber ich trauere heute noch genauso wie am 15. August 2014. Den Verlust meiner Mutter werde ich nie überwinden, und die Trauer wird nie aufhören. Aber ich gewöhne mich daran.
Die Erinnerungen bleiben. Mamas Tod hat daran nichts geändert. Die schönsten Tage kommen nicht zurück und waren auch schon vorbei, als sie noch gelebt hat. Ich werde wohl nie erfahren, ob sie für Mama genauso schön waren, wie für mich, aber in meiner Erinnerung sehe ich ihr strahlendes Gesicht, wenn wir uns über gemeinsame Erlebnisse unterhielten.
Erlebnisse, die in der Zeit verschwunden sind wie eine Träne im Meer.
Träumst du? frage ich mich. So, wie meine Mutter mich gefragt hat, als ich noch ein Kind war und bei den Hausübungen für die Schule unkonzentriert war.
Ja, Mama. Ich träume.
Von den kleinen Langusten, die im Meer bei Savudrija an meinen Zehen knabbern, während ich ihnen dabei zusehe. Unbeschwert. Glücklich. Jung. Lähmung, Tod und Rollstuhl noch zwanzig Jahre weit weg. Geduldig wartend. Und ich träume von den Pinien, Zypressen und Olivenbäumen in Tucepi, dem klaren Salzwasser des Meeres. Von blühenden gelben Ginstersträuchen und dem Duft von Lavendel am Abend, wenn die Wärme der Sonne noch auf meinem Gesicht liegt. Ich höre zirpende Grillen in der Nacht und das rauschende Meer. Das Meer. Das bei Wind hohe Schaumkronen trägt, weit draußen am Horizont.
Von hier will ich nie wieder weg. Für immer bleiben. Im Süden. Meine Mutter öffnet die Balkontür des Bungalows, tritt auf die Veranda hinaus, sieht einen Lorbeerstrauch und sagt, mit Freudenklang in ihrer Stimme:
"Wir sind im Süden!"
Jetzt nicht mehr, Mama. Du nicht. Papa nicht. Ich nicht. Der Süden existiert nicht mehr. Meine einzige Himmelsrichtung ist ein orientierungsloses Irgendwo. Aber sie führt nicht in den Süden. Mein Süden ist eingestürzt, genau wie meine Stari Most in Mostar, über die ich als Kind mit Dir und Papa gegangen bin. Kaufleute und ihre Stände überall. Fremde Klänge, Stimmen, Musik, Düfte und Farben. Schön. Uns ist ein wütender Teppichhändler nachgelaufen, weil Papa sich für einen handgeknüpften Teppich interessiert, ihn dann aber doch nicht gekauft hat. Er war uns aber nicht wirklich böse. Wir haben oft darüber geredet und gelacht.
Manchmal, wenn ich meine Augen schließe, sehe ich Fackeln. In der Abenddämmerung zieht eine Prozession über die steinerne Wand des Biokovo-Gebirges. Titos Geburtstag. Ich bin fünf Jahre alt, noch nicht in der Schule, aber ich weiß, wer Tito ist, und ich kenne die Monde des Jupiter. Papa erklärt mir abends beim Spazierengehen die Planeten. Am Ende des zypressengesäumten Weges steht der Jupiter am Himmel. Und manchmal sieht man den Mars, meinen Namensstern. Er funkelt rötlich, aber ich muss genau hinsehen und die Augen ein bisschen zusammenzwicken. Papa zeigt mir den Großen und den Kleinen Wagen. Aber lieber verwendet er die Bezeichnungen Großer Bär und Kleiner Bär.
Wir beide stehen da auf dem Weg der Zypressenallee und schauen in den Himmel. Am nächsten Tag fahren wir nach Makarska. Krapfen essen. Fette süße Krapfen mit Marmeladefüllung und Staubzucker. Wir holen Mama ab, die von einem Schiffsausflug auf die Insel Hvar zurückkehrt. Mama hat immer gesagt, die dalmatinischen Inseln sähen aus wie die Schöpfung am ersten Tag. Ich habe Angst, dass sie nie wieder zurückkommt und stirbt. Ich ahne noch nicht, dass sich diese Angst vierzig Jahre später erfüllen wird.
Dieses Mal kommt Mama noch zurück, und ihr ganzes Leben lang schwärmt sie von der Insel Hvar und den Schwertfischen, die sie aus dem Meer hat springen sehen.
All das sehe ich aus der Distanz meines Rollstuhls. Der kleine Bär, der neben dem großen Bär in der Zypressenallee steht und zum Jupiter schaut, kommt mir bekannt vor. Ich habe ihn erst kürzlich irgendwo gesehen. Es fällt mir ein. Er hat einen Waschlappen in der Hand und sieht mich aus dem Spiegel heraus an. Vierzig Jahre später. Und er steht nicht, sondern er sitzt.
Das Lachen ist gestorben wie der Süden und die verletzte Möwe am Strand. Immerhin im Sonnenschein.
Jetzt brennt mir die Sonne im Gesicht bei meinen Traumflügen über das Meer und hinter den Horizont.

Samstag, 8. August 2015

Grinsende Geisterschiffe

Alles ist gut. Ich bin in Sicherheit. Es war ein heißer Tag. Das mag ich. Sommerhitze. Ich fühle mich fast wohl. Das Schreiben über Sommertage fällt mir schwer. Jetzt gerade liege ich im Bett, das Licht ist ausgeschaltet. Ich tippe in mein iPhone. Dreiviertel eins in der Nacht. Aber wenn man schreiben muss, ist es eben so. Die Mitternachtskrankheit, wie wir Autoren das nennen.
Heute zirpt nur eine Grille vor meinem Fenster. Und selbst die lässt sich bitten. Drei Glockenschläge der Kirchturmuhr von Gaspoltshofen. Ich werde diesen Text am Samstag in meinem Blog posten, und am nächsten Tag wird mir der sentimentale Schmarrn peinlich sein. Ich werde hoffen, dass mich niemand darauf anspricht. Die Leute wollen sowas nicht lesen sie wollen etwas Lustiges. Katzenvideos auf YouTube.
Aber meine Trudi ist ganz beliebt. Ich werde immer wieder auf sie angesprochen. Man wisse bis zum Schluss nicht, worum es geht. Und alle mussten sooo lachen. Trudi, sagt man mir, sei das Beste, was ich geschrieben habe. Weit habe ich es gebracht. Ein Artikel über einen Katheter ist beliebter als alles andere, was ich schreibe. Na ja, ich freue mich trotzdem. Das ist es doch letztlich, was ein Autor erreichen will. Er will die Menschen bewegen. Schließlich leben wir in einer Spaßgesellschaft, in der man alles schaffen kann, wenn man will, und aufgegeben wird nur ein Brief, und wenn man fest genug an etwas glaubt und es visualisiert und dabei motiviert und zwangsoptimistisch aus der Wäsche grinst wie ein Totenschädel mit roter Clownsnase, brät einem das Universum die Erfüllung aller Wünsche derart über, dass einem die Ohren klingeln vor lauter individueller Zukunftsplanung.
Genau vor diesem Fehler darf man sich, wenn man will, als postmoderner Facebookhippie hüten. An etwas nicht zu glauben. Der Glaube versetzt ja bekanntlich Berge, egal ob die Berge das wollen oder nicht. Man wird einfach an einen anderen Ort verfrachtet, an dem das aufblühende Wassermannzeitalter jede Vernunft verwelken lässt und die Menschen den größten Schwachsinn glauben, solange sie auf Innenschau gehen und sich selbst neu erfinden.
Ich höre schon auf. Mir wird selber schon schwindlig, wenn ich an unsere schöne neue Weltordnung denke, in der es selbst für die existenziellsten Probleme eines Menschen, für die quälendsten Krankheiten und die tiefste Verzweiflung ein E-Book mit "7 Tipps für ein erfülltes Leben" gibt.
Als ich gelähmt und ausgeblutet wie eine Schweinehälfte im Schlachthaus auf der Intensivstation lag und damit rechnete, den Rest meines Lebens an eine weiße Zimmerdecke zu glotzen und von Früher-als-alles-noch-gut-war zu träumen und davon zu halluzinieren, wie mir ein Wahnsinniger mit einer Machete in einem dreckigen Kohlekeller das Fleisch von den Knochen schält und ich dabei jede einzelne Liebkosung seiner Klinge spürte, hätte ich gar keine 7 Tipps für ein erfülltes Leben gebraucht.
Ein einziger Tipp hätte mir völlig gereicht: Wie man wieder aufwacht aus diesem ewigen Albtraum namens Leben.
Darauf bestelle ich mir jetzt beim Universum eine Pizza Tetra Parese.
Sicher sehe ich das wieder zu verbissen. Die Menschen wollen Spaß, dem Alltag entfliehen, all diesem Schmerz und den Tränen. Lachen macht das Leben erträglicher. ich kann das verstehen. Ich selbst habe nicht mehr viele Gründe zu lachen, seit meine Welt untergegangen ist. 
Aber eigentlich bin ich dabei, wieder aufzutauchen. Mein früheres Leben ist zwar versunken wie Atlantis, allerdings nicht im Meer, sondern in der Zeit, in meiner Erinnerung, in Schmerz, Leid, Verlust und anderen überhaupt nicht lustigen Dingen. Lustig war, barfuß über die spitzen, von Meer und Sonne dunkelbraun gefärbten Felsen einer kleinen Halbinsel in Kroatien zu gehen. Vollkommen sorglos. Sogar über den glitschigen grünen Tang, ohne dabei Angst zu haben hinzufallen und mich schwer zu verletzen.
Wobei, jetzt erinnere ich mich wieder. Ich habe mir bei solchen Abenteuern manchmal gedacht "Was ist, wenn ich ausrutsche, hinfalle und dann vom Hals abwärts vollständig gelähmt bin?" Damals bin ich bei dem Gedanken erschaudert, aber es war nicht mehr als ein unheimliches Gruseln. "Hoffentlich passiert mir das nie", dachte ich. Solche Überlegungen hatte ich schon mit fünfzehn und auch später noch. Jetzt, wo ich während des Schreibens darüber nachdenke, fällt mir ein, dass mich diese Furcht schon mein ganzes Leben lang begleitet hat.
Vielleicht bin ich ja ein Prophet. Nennt mich Nostramarkus. Das, wovor ich mich schon dreißig Jahre davor gefürchtet habe, ist dann tatsächlich passiert. Zwar mit Chance auf vollständige Genesung, aber daran denken Sie nicht, wenn sie hoffnungstot in einem Krankenhausbett liegen und versuchen, nicht den ganzen Tag zu schreien, während sich die verbogenen Gabeln Ihres Geistes in Ihre Augen bohren wie in dem Gemälde von Helnwein.
Doch inzwischen sehe ich die Zeichen der Genesung immer deutlicher. Sie sind jetzt so klar und gegenwärtig, dass nicht einmal ich daran zweifeln kann. Und das kann ich wirklich gut. Bei aller Bescheidenheit muss ich doch sagen, dass ich ein Meister des Selbstzweifels bin. Ich sehe ja sogar im Optimismus eine Form des Zweifelns, weil er letztlich nichts anderes ist als eine Gute-Laune-Version der Hoffnung. Hoffnung funktioniert nur mit Unheilsangst.
Der Optimismus ist nur ein Unheilswolf im Schafspelz.
Aber ich wollte eigentlich über die Zeichen der Genesung schreiben. Wieder einmal habe ich mich von meiner apokalyptischen Weltsicht mitreissen lassen. Bin ich nicht ein geheimnisvoller, tief denkender Prophetenclown?
Seit meiner letzten Stunde Physiotherapie kann ich mich problemlos aus dem freihändigen Stand in meinen E-Rolli setzen, ohne mich dabei festhalten zu müssen. Ich beuge meinen Oberkörper so weit es geht nach vorne und setze mich dann langsam hin. Ich lasse mich nicht in den Sitz fallen, obwohl das ab und zu auch passiert. Nein, ich setze mich vollkommen selbstverständlich so hin, wie ich es mein ganzes Leben getan habe. Nur mit dem Unterschied, dass es sehr anstrengend und schweißtreibend ist.
Es war die Idee meines Physiotherapeuten Wolfgang. Ich hatte mich eigentlich auf eine fade Stunde Aufstehübungen vorbereitet, als er plötzlich sagte: "So, und jetzt hätte ich gern, dass du dich langsam hinsetzt, ohne dich an den Stangen festzuhalten."
Ich lachte. Aber es war ein Lachen, das mir gleich im Hals steckengeblieben ist, weil ich genau weiß, dass Wolfgang sowas nicht nur zum Spaß sagt. Also probierte ich es aus. Beim ersten Versuch fiel ich in den Rollstuhl wie ein nasser Sack, aber beim zweiten Mal, mit vorgebeugtem Oberkörper, war es mir, als würden meine Bewegungen in Zeitlupe ablaufen.
Aber alles war echt. Es war ein neuer gewaltiger Fortschritt auf meinem Weg mit dem Guillain-Barré-Syndrom. Ich hoffe, wenn Sie auch GBS haben und dies lesen, ist es das auch für Sie.
Ich kann es nur mit Plattitüden ausdrücken: Wenn Sie an GBS leiden und wieder gesund werden wollen, müssen Sie an sich selbst glauben. Geben Sie nicht auf. Niemals, niemals, niemals! Sie wissen, dass der Weg da ist. Wenn Sie ihn erst einmal entdeckt haben, können Sie ihn auch beschreiten. Begehen. Glauben Sie mir, auch, wenn Sie jetzt gerade vielleicht nur Ihre Augen bewegen können. Und geben Sie sich Zeit.
Jetzt fallen mir doch tatsächlich sieben Tipps für ein erfülltes Leben ein. Sie umzusetzen ist sehr schwer. Das können Sie mir glauben, ich habe es selbst lange Zeit erfolglos versucht. Wie Sie diese sieben Tipps in Ihr tägliches Leben einbinden, kann ich Ihnen nicht sagen. Am besten ist, Sie denken nicht zu lange nach, sondern schreiten einfach zur Tat.

Meine 7 Tipps für ein erfülltes Leben (egal, ob Sie GBS haben oder nicht):

1) Vergessen Sie nicht, wer Sie sind.
2) Verzweifeln Sie nicht.
3) Folgen Sie immer dem Rat der Experten.
4) Fragen Sie nach Hilfe!
5) Umgeben Sie sich mit lebensfrohen Menschen.
6) Schämen Sie sich nicht für Ihre Lebensfreude.
7) JUST DO IT!

Ich weiß, wie platt das alles klingt. Aber es wirkt. Bei mir zumindest. Ich bin aber auch ein Schwarzseher. Sie sind sicher nicht so ausgiebig mit negativer Phantasie ausgestattet wie ich. Vielleicht gehören Sie sogar zu den Menschen, die sich selbst von einem schweren Schicksal die Lebensfreude nicht nehmen lassen. Solche Menschen gibt es. Ich begegne ihnen hier, im Behindertendorf von Assista in Altenhof am Hausruck, jeden Tag. Sie fahren völlig bewegungsunfähig mit ihren elektrischen Rollstühlen durch die Gegend, spielen in der Theatergruppe mit, gehen zu den Festen und Veranstaltungen, fliegen in den Urlaub oder machen ihren wöchentlichen Ausflug zu einem Fußballspiel.
Natürlich leiden diese Menschen auch. Sehr sogar. Und so manche sterben. Aber die Lebenden machen weiter und geben nicht auf.
Wenn Sie aus meinen Tipps nicht so recht schlau werden, hilft Ihnen vielleicht das hier weiter: Ich auch nicht. Ich habe die Weisheit weder mit Löffeln verspeist, noch bin ich besonders gut darin, meine eigenen Ratschläge zu befolgen. Ehrlich gesagt, kann ich mit dem Tipp, dass man sich nicht für seine Lebensfreude schämen soll, gar nichts anfangen.
Ausser vielleicht, dass es eine Art Genesungsangst gibt. Der Gedanke, nach einer vollkommenen Lähmung des ganzen Körpers, nach monatelangem gefüttert werden und eineinhalb Jahren im Rollstuhl wieder gehen zu können und ganz gesund zu werden, ist schwindelerregend. Als würde ich innerhalb eines Wimpernschlags aus der Tiefsee in eine Achterbahn umsteigen.
Diese Angst vor der Gesundheit verursacht eine seelische Lähmung. Man resigniert und findet sich mit seinem Schicksal ab. Aber das dürfen Sie auf keinen Fall tun! Setzen Sie sich in Ihrem Rollstuhl nicht zur Ruhe! Sie haben die Chance, da wieder rauszukommen. Wenn Sie mir nicht glauben und GBS für ein schweres Lebensschicksal halten, könnte folgende Information Ihre Meinung ändern:
Ich habe es geschafft!
Ich kann zwar noch nicht frei gehen, aber es bereitet mir keine Schwierigkeiten mehr, aus meinem E-Rolli aufzustehen.
Und die Katze kicken kann ich auch!
Vielleicht bin ich ja der einzige GBS-Patient mit einem stark ausgeprägten Hang zum Pessimismus. Vielleicht sind Sie da ganz anders und fragen sich, warum das ganze für mich seelisch qualvoller war als körperlich. Ich weiß es selber nicht. Ich weiß nur, dass es Menschen gibt, denen das Guillain-Barré-Syndrom psychisch extrem zusetzt. Woher? Aus eigener Erfahrung.
Und aus eigener Erfahrung weiß ich auch, dass der Sumpf, in dem man bis zum Hals steckt, austrocknet. Man muss nur ein bisschen strampeln, wie der Frosch in der flüssigen Sahne. So gewinnt man den Boden unter den Füßen wieder zurück.
Die lange Zeit der Krankheit, die Lähmung, die Hoffnungslosigkeit und die Schmerzen geraten allmählich in Vergessenheit. Wenn ich mich an die Intensivstation zurückerinnere, sehe ich vor meinem inneren Auge zwar alles in Farbe und 3D, aber dieses Grundgefühl der Angst ist nicht mehr da. Sollte Ihnen das Guillain-Barré-Syndrom auch mehr Angst als Schmerzen bereiten, kann ich Ihnen garantieren:
Die Angst vergeht. Sie fährt vorbei wie ein Geisterschiff in der Nacht.
Egal, ob Sie dafür Tabletten und Psychotherapie brauchen oder nicht, der Weg aus der Sackgasse der Beklemmung ist da. Gerade deshalb ist es so wichtig, sich von Anfang an, wenn man erst einmal verstanden hat, was diese Krankheit ist, eine Just Do It-Mentalität zuzulegen. Ich weiß, wie schwer das ist, aber ich kann Ihnen nur raten:
Egal wie schwach, klein und verängstigt Sie sich fühlen, tun Sie alles, was Sie zu erledigen müssen, trotzdem! Auch, wenn die Angst dadurch noch größer wird. Sie wird auch wieder vergehen. In sich zusammenfallen wie eine stinkende graue Seifenblase.
Jeder Schmerz ist ein Schritt voran.
Jedes plötzliche Angstgefühl, das Sie packt wie King Kong, ist von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Und auch die diffuse, nicht klar definierbare Angst vor einer ungewissen Zukunft, löst sich allmählich auf und verwandelt sich in die Aussicht auf einen klaren Horizont. Ohne Wolken. Ohne Sturm.
Der schnellste Weg hinaus ist der Weg hindurch.
Und der Weg ist ja bekanntlich da, egal ob Sie ihn jetzt schon sehen. Er ist zwar vollgeräumt mit Stolpersteinen, aber die überspringen Sie einfach wie das langweilige Geschwafel in einem Blog. An dieser Stelle würde ich gerne ein augenzwinkerndes Smiley einfügen, aber das wäre dann vielleicht doch ein bisschen zu kindisch.
Auf jeden Fall werde ich diese sieben Tipps in nächster Zeit noch genauer ausarbeiten und dann nach und nach hier posten.
Bitte, mein lieber GBS-Freund: Geben Sie nicht auf!
Yoda hat recht:
"Niemals zweifeln du darfst, junger Jedi!
Tu' es oder tu' es nicht.
Kein Versuchen es gibt!"
                         

Samstag, 1. August 2015

Mehr Licht!

Als ich im Oktober 2014 damit begann, meine Erlebnisse mit der Krankheit Guillain-Barré-Syndrom aufzuschreiben und auf einem eigenen Blog zu veröffentlichen, hätte ich nicht gedacht, dass ich über die 100 Seitenklicks hinauskommen würde. GBS ist nunmal kein Straßenfeger, und ich glaube nicht, dass jemand daran interessiert ist, der nicht selbst Erfahrung damit hat.
Ich scheine mich geirrt zu haben.
        Inzwischen sind es 10.000.
Ich möchte Ihnen heute dafür danken, dass Sie meinen Blog so zahlreich besuchen. Ihr Geschmack für Literatur ist wirklich...na, ich sag' lieber nichts. Wenn ich mit dem, was ich schreibe, Menschen informieren, unterhalten und bewegen kann, hat es sich gelohnt. Vielen Dank, und wenn Sie mögen, können Sie gerne Kommentare zu meinen Beiträgen schreiben oder mich kontaktieren. Ich würde mich freuen, einmal von meinen Lesern zu hören. Besonders, wenn Sie auch ein GBS-Patient sind. Bei Facebook, Google+ und Twitter gebe ich auch meinen Senf zum Thema dazu. Und manchmal ein paar Glassplitter. Ich habe in den letzten zwei Jahren selbst die Erfahrung gemacht, dass es bei einem Menschen mit gesundheitlichen Problemen nicht immer ausreicht, ihm lediglich zu informieren oder ihm gut zuzureden.
Manchmal muss man die Leute am Kragen packen und ihnen die Wahrheit ins Gesicht brüllen. In meinem Fall war es ein Ultraschallbild mit der Diagnose Tiefenvenenthrombose. Das war im Februar 2014. Ich trage schicke weiße Stützstrümpfe und nehme ein starkes Blutverdünnungsmittel. Fast wäre ich zu Winnetou und Old Shatterhand in die ewigen Jagdgründe eingegangen. Ein Blutsbruder mit Gerinnungshemmer.
Sicher waren es knallige Titel wie "Zufriedenheit tötet!, "Die Engel am Galgen" und "Kick' die Katz!", die mir diesen Erfolg von 10.000 Blogbesuchen ermöglicht haben. Aber auch von mir bewusst schlicht gehaltene Beiträge wie "Krankheit und Heilung" oder "Faktencheck GBS" werden viel gelesen.
Aber letztlich ist es Trudi, auf die ich am öftesten angesprochen werde. Für alle, die "Trudi liebt mich!" nicht gelesen haben: Trudi ist mein Spitzname für den transurethralen Dauerkatheter, den ich seit über zwei Jahren in einem Organ stecken habe, das dafür eigentlich nicht gedacht ist. Sie wissen sicher, was ich meine...Richtig! Es handelt sich um ein sogenanntes Hohlorgan.
Nein, nicht mein Kopf!
Es ist die vesica urinaria. Auch bekannt als Blase. Aber genug davon, es ist ja nicht unbedingt ein appetitliches Thema. Aber es handelt sich bei GBS um eine Erkrankung, die sehr schwer und in der Anfangsphase auch tödlich verlaufen kann. Von den nachfolgenden tödlichen Nebenerscheinungen wie einer Tiefenvenenthrombose, einer Darmsepsis, nicht enden wollender Leberblutungen und einem Herzstillstand ganz zu schweigen. Habe ich etwas vergessen?
Ach ja! Die Tetraparese. Keine Angst, ich mache jetzt nicht wieder meinen Witz über die Pizza, aber nur, falls Sie das Wort zum ersten Mal hören: Eine Tetraparese ist die Lähmung aller vier Gliedmaßen. Bei mir verlief die Lähmung vom Hals bis zu den Zehen. Begonnen hat es im Juni 2013, jetzt haben wir August 2015, und ich kann meine Füße und Zehen noch immer nicht richtig bewegen. Die Zehen gar nicht.
Na ja, und darüber und viele andere Dinge, die mit mir und meinem Leben zusammenhängen, schreibe ich in diesem Blog. Vor zwei Jahren hätte ich nicht gedacht, dass ich das jemals schaffen würde. Damals konnte ich nur meinen Kopf und die Augen bewegen. Ich konnte sprechen, und mein Hirn war nicht betroffen. Das ist bei GBS sehr selten. Ich habe viel Verzweiflung, Angst, Schmerzen, Trauer und Hoffnungslosigkeit erlebt, dachte oft, ich wäre nur noch ein wertloses Vieh, aber kein Mensch mehr. Der einzige Teil meines Körpers, der für mich noch lebte, war mein Kopf.
Ich habe wunderbare Menschen kennengelernt, zum einen aus dem medizinischen Bereich, aber auch andere Patienten und die Bewohner in dem kleinen Behindertendorf, in dem ich jetzt lebe. Ich fragte mich immer wieder, wie Menschen mit einem derart extremen Schicksal trotzdem immer noch Lebensfreude empfinden und dabei auch noch Ruhe und die Freiheit von Angst ausstrahlen können. Aber vielleicht ist das nur meine Interpretation. Ein sorgenfreies Leben hat wohl niemand, der in einem Rollstuhl sitzt oder an einem Rollator geht.
Welchen Grund habe ich, mich zu beschweren? Selbst wenn man monatelang wie eine tiefgekühlte Mumie bewegungslos ins Nichts starrt, gibt es noch viel schlimmeres.
Im Krankenhaus, auf der Abteilung für Neurologie, hatte ich einen Zimmerkollegen, der an Knochenkrebs erkrankt war. Einmal erzählte er, wie bei einer Ärztevisite in einem anderen Krankenhaus auf einmal ein lautes krachendes Geräusch an einem seiner Unterschenkel zu hören war. "Ich glaube, der Krebs hat sich gerade durch den Knochen gefressen", sagte er. Die Ärzte glaubten ihm nicht, veranlassten aber eine Röntgenuntersuchung. Mein Zimmerkollege hatte recht. Während der Visite ist einer seiner Unterschenkelknochen in der Mitte komplett durchgebrochen. Dieser Mann erzählte dieses Erlebnis in einem Tonfall neutraler Schicksalsergebenheit, als hätte er von einem Ausgebissenen Zahn berichtet. Er wurde später in ein anderes Spital verlegt. Ich weiß nicht, wie es ihm seitdem ergangen ist.
Irgendwann habe ich festgestellt, dass man nicht tot ist, solange man noch lachen kann. Oder wenigstens schmunzeln. Selbst in Zeiten der schweren Krisen gibt es sie noch, die heiteren Momente.
In dem Bett mir gegenüber lag ein Mann, Mitte sechzig. Ich nenne ihn jetzt Herr Berger. Nach einem Schlaganfall war er von der Hüfte abwärts gelähmt. Er war ein kleiner, dicklicher Herr mit einem freundlichen runden Gesicht, roten Wangen und einem Hobby, das er mit allergrößter Leidenschaft ausübte.
Krankenschwestern.
Her Berger hatte die Angewohnheit, ununterbrochen auf den Notrufknopf zu drücken. Die sogenannte "Glocke". Ich weiß nicht, ob das mit seiner Krankheit zu tun hatte, denn er verhielt sich geistig vollkommen unauffällig, war auch nicht verwirrt. Aber etwa alle fünf- bis zehn Minuten drückte er auf die Glocke. Die Krankenschwestern müssen ja zu den Patienten gehen, wenn sie nach ihnen rufen, ob sie wollen oder nicht. Und so vergingen über einen Zeitraum von mehreren Wochen keine zehn Minuten, in der nicht eine leicht entnervte Schwester ins Zimmer kam und fagte: "Was hat' s denn, Herr Berger?"
Und jetzt raten Sie mal, was seine Antwort war.
Mit einem dankbaren Lächeln in seinem Gesicht sagte er: "Nix. Ich wollte Ihnen nur sagen, dass es mir gut geht."
Na ja, man hat ihm wohl gesagt, er solle auf den Glockenknopf drücken, wenn er etwas braucht. Und das hat er sich zu Herzen genommen. Einmal hatte er eine Frage an eine junge Krankenschwesternblondine. Sie reagierte auf das, was er dann tat, deutlich gestresst, versuchte aber, ruhig zu bleiben. Es muss ihr wirklich schwer gefallen sein. Sie drehte sich um, sah ihn an und sagte:
"Herr Berger...Sie müssen nicht läuten, wenn ich neben Ihnen stehe." Sie hatte sich nur kurz von ihm abgewandt, um eine Nierenschale auszuwaschen.
Mein Zimmernachbar hat sich ihre Worte zu Herzen genommen. Er hat nie wieder geläutet, wenn eine Krankenschwester direkt neben ihm stand. Nur, wenn er mitteilen wollte, dass es ihm gut geht.
Wenige Monate später war ich auf Reha am Gmundnerberg. Dort gab es ganz ähnliche Vorfälle. Offenbar gibt es in jeder Gesundheitseinrichtung so einen Glockenpatienten, der seinen Daumen nicht unter Kontrolle hat.
Ich lag gerade in meinem Therapiebett, bekam für die Nachtruhe meine Füße zur Spitzfußprophylaxe in weiße Handtücher eingewickelt.
"Wir haben eine Patienten, der dauernd läutet", sagte eine meiner Krankenschwestern zu ihrer Kollegin. Sie war etwa in meinem Alter, hatte Rückenprobleme wie fast alle Krankenschwester und sah an diesem Tag sehr müde aus in ihrer dunkelblauen Schwesternkluft, die ihre Pfunde nicht ganz kaschieren konnte. "Ununterbrochen. Den ganzen Tag und die ganze Nacht. Je-de-Mi-nu-te! ich glaub' ich werd noch wahnsinnig mit dem."
Ich hatte wieder einmal eine meiner Vorahnungen, aber die war doch ein wenig absurd und viel zu unwahrscheinlich.
"Wie heißt er denn?" fragte die andere Schwester. Jung, brünett, hübsch, mit schwarzer Nerdbrille."
"Berger."
Meine Vorahnung hat sich erfüllt. Nennt mich Nostramarkus. Am nächsten Tag traf ich Herrn Berger im Speisesaal. Er kam mir entgegen. An einem Stock. Den Rollstuhl brauchte er nicht mehr. Er erkannte mich wieder, lächelte so freundlich wie immer, begrüßte mich und plauderte ein bisschen mit mir. Ich erfuhr, dass er sich sehr gut erholt hatte, sowohl körperlich, als auch psychisch. Er war sehr optimistisch, scherzte mit den Krankenschwestern und sagte, dass es ihm hier sehr gut gefiel.
Das stärkte meinen Optimismus. Zum ersten Mal sah ich jemanden, der schwer krank war, den ich kannte und der auf dem Weg der Besserung war.
Auf eigenen Beinen und mit eigenen Daumen.
Ich habe dadurch, und durch viele andere Beobachtungen von Patienten, gelernt, dass diese Menschen, so unterschiedlich sie in ihren persönlichen Eigenschaften auch sein mögen, so schwer und erschütternd ihre Schicksale oft sind, alle eines miteinander gemeinsam haben.
Sie sind unglaublich liebenswert.
Der ältere Geschäftsmann, der bei dem Versuch, aus dem Bett aufzustehen mehrmals auf den Boden fiel und die Gelegenheit nutzte, dort seine Papiere und Unterlagen zu ordnen. Ein sympathisch schrulliger Zwangsneurotiker, der sich jeden Tag mehrere Speisepläne ausdrucken ließ und dann damit begonnen hat, sie unermüdlich zu korrigieren. Nicht, weil da Schreibfehler drin waren, sondern weil ihm das Essen nicht schmeckte.
Da war ein alter Mann, weit über achtzig, der mehrere Schlaganfälle hinter sich hatte, nur sehr leise und mit schwacher Stimme sprechen konnte, Schluckschwierigkeiten hatte und sich deshalb vorwiegend von Pudding und Himbeermarmelade ernähren ließ. Stundenlang saß er in seinem Bett, blickte einfach so in die Gegend und strahlte eine schwer zu beschreibende Schicksalsergebenheit aus. Fast so, als wäre er zufrieden und dankbar für das Leben, das er früher einmal gehabt hatte. Er wurde nach zwei Wochen ins Alterheim zurückverlegt und ist einige Wochen später dort gestorben.
Dieser schwache alte Herr war der Liebling aller Krankenschwestern.
Vielleicht sollte ich in meinem Blog mehr von solchen Menschen erzählen, als immer nur über mein eigenes, ach so schweres Schicksal zu lamentieren. Vor drei Wochen hat beim Mittagessen bei mir ein Backenzahn rechts oben geknirscht, und ich sah mich schon auf einem Zahnarztstuhl liegen, das grelle Licht in den Augen, während ich, traurig, von dieser grausamen Welt Abschied nehmen zu müssen, langsam verblute. Antikouagulationsmedikament. Gerinnungshemmer. Blutverdünner. Ich drifte sanft ins Jenseits ab, den brutalen Strahl der Lampe über meinen zur ewigen Ruh' geschlossenen Augen, und sage, wie Goethe in seinem letzten Moment auf Erden:
"Mehr Licht!"
        Habe ich einen Hang zum Drama?
Am besten, ich sage jetzt nichts mehr. Es ist wahrscheinlich schon Nacht, wenn Sie dies lesen. Tagsüber ist sowas ja nicht zu ertragen.
Moment...Eines sage ich Ihnen heute doch noch: Wenn Sie wollen, lesen wir uns nächste Woche wieder.
        Wollen Sie?
Ich bin erschüttert über Ihren Literaturgeschmack.