Sonntag, 26. Oktober 2014

Der Tod, der Schatten und der Schnee

Hier ein Auszug aus meinem Tagebuch. Über solche Dinge macht sich ein Mensch mit dem Guillain-Barré-Syndrom Gedanken. Ich zumindest.

18:34
Bett

Wieder im Bett, wieder froh, dass der Tag vorbei ist. Ich bin traurig darüber, dass ich mich darüber freue. Lieber wäre es mir, wenn ich mich darüber freuen könnte, dass ein neuer Tag beginnt. So wie früher, vor langer Zeit, als ich noch ein Kind war. Damals habe ich es , wenn ich schlafen gegangen bin, gar nicht erwarten können, wieder aufzuwachen. Jeder Tag war für mich der Beginn eines neuen Lebens. Das Leben war neu, und der Tod in weiter Ferne. Eigentlich gab es den Tod damals gar nicht. Höchstens in Wildwestfilmen. Aber nicht als reale Bedrohung und Wegbegleiter. Er war höchstens ein vager Gedanke an irgendetwas, das irgendwann passieren wird, wenn man sehr alt ist. Bis dahin ist noch viel Zeit, eine Ewigkeit, ein ganzes Leben.
   Jetzt ist der Tod kein weit entfernter, fast nicht wahrnehmbarer Schatten mehr. Er ist für mich vielleicht nicht allgegenwärtig, aber seine Präsenz ist spürbar. Der Tod macht sich im Leben zuerst als jemand bemerkbar, der einem das wegnimmt, was man am meisten liebt.
   Mama und Papa sind tot. Mein Vater ist vor dreizehn Jahren gestorben, meine Mutter dieses Jahr im August. Die Unbeschwertheit meiner Kindheit ist tot, das innere Kind in mir. Ich hoffe zwar, dass es noch lebt, aber ich bin mir nicht sicher. Höre ich seine heitere, hoffnungsfrohe Stimme noch, oder ist das nur das Echo eines Gespenstes? Meine jetzige Stimme ist es jedenfalls nicht. Wenn ich heute lache, dann nicht mehr aus Heiterkeit, sondern als Versuch, den Schatten zu verjagen.
   Die Angst lähmt mich inzwischen mehr, als es das Guillain-Barré-Syndrom jemals geschafft hat. Als ich auf der Intensivstation lag, wollte ich wieder gehen können. Jetzt könnte ich, traue mich aber nicht. Das hätte ich damals nicht gedacht.
   Wenn die Angst weggeht, verschwinden alle Probleme. Dann kann ich mich wieder meinem Leben zuwenden. Heute habe ich gelesen, dass es nur zwei angeborene Ängste gibt: Die Angst vor dem Fallen und die Angst vor plötzlichen lauten Geräuschen. Alle anderen Ängste sind angelernt, und können daher auch wieder verlernt werden. Dieser Gedanke gibt mir Hoffnung. Ich kann meine Angst verlernen. Jetzt muss ich nur noch herausfinden, wie.
   Ich verabscheue den Spruch "Lebe jeden Tag, als wäre er dein letzter". Es gibt Menschen, leider auch viele junge, die ihn zu ihrem Lebensmotto gemacht haben. Ich finde, man sollte jeden Tag leben, als wäre er der erste im Leben. Ist es nicht viel schöner, jeden neuen Tag als den Beginn eines neuen Lebens zu betrachten? Als Weckruf in ein großes Abenteuer? Jeder Tag steckt voller neuer Chancen und Wege. Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne. So sagte es Hermann Hesse.
Leider habe ich diese Einstellung verloren. Das innere Kind ist verwaist. Aber vielleicht schläft es nur.
   Vielleicht wacht es wieder auf, kniet sich ans Fußende seines Bettes, sieht zum Fenster hinaus und freut sich über den ersten Schnee.

Samstag, 18. Oktober 2014

Absolutes Glück

Das Glück ist vollkommen.
Da das menschliche Hirn nicht multitaskingfähig ist und in einem Augenblick nur eine Wahrnehmung haben kann, bedeutet das, dass jedes Glück absolut ist. Jede Glücksempfindung und jede Freude sind ungetrübt und einhundertprozentig. Das Hirn kann sehr schnell umschalten, in Sekundenbruchteilen. Dann stellen sich oft negative Gedanken ein, die das Glück scheinbar trüben. Aber eben nur scheinbar.
Im Augenblick des Glücks ist jedes Glück vollkommen.
Das ist doch ein Gedanke, den festzuhalten es sich lohnt. Ich war oft in der Situation, in der ich nicht mehr weiterwusste und mir gewünscht habe, am nächsten Tag nicht mehr aufzuwachen. Aber selbst auf den dunelsten Irrwegen meiner Reise durch die Nacht, war immer wieder ein Gedanke da, der mir Kraft gegeben hat.
Das Leben kann schön sein. Es gibt sie, die schönen, von Glück und Lebensfreude erfüllten Momente. Sie sind da, genau wie der Weg. Man muss ihn nur gehen, selbst, wenn er tief in die dunkle Nacht der Seele führt.
Und Glücksmomente muss man abwarten. Aussitzen im Rollstuhl. Ausliegen auf der Intensivstation mit einer Atemmaske im Gesicht und tausend Schläuchen in den Venen. Austräumen, in den Folterkellern und Wüstenlandschaften des Guillain-Barré-Syndrom. Man muss einfach darauf vertrauen, dass die schönen Erlebnisse bereits auf einen warten, dass sie da sind und geduldig darauf vertrauen, dass man an sie glaubt.
Wer den Glauben an das Glück verliert, stirbt.
Wenn auch nicht unbedingt körperlich, dann bedingungslos seelisch. Die menschliche Seele ist empfindlicher als die dünnste Myelinschicht. Die Seele hat keine Knochen, die sie selbst während der Lähmung einer Tetraparese stützen und auch keine Muskeln, die sich von der Atrophie wieder erholen können. Sie hat keine Lunge, die man künstlich beatmen kann und sie kann auch nicht in ihrem eigenen Blut schwimmen, wenn ihr Darm fast zerplatzt.
Mein Körper kann das alles. Er war an diesen finsteren Orten, aber er hat sie wieder verlassen. Die Lähmung und das Blut hat er abgeschüttelt. Aber meine Seele hinkt. Noch immer. Ein Teil von ihr liegt immer noch auf der Intensivstation. Ein anderer Teil ist gestorben und zu Asche verbrannt und liegt bei meiner Mutter unter einer Hainbuche in Graz.
Aber der Weg lebt weiter. Er ist da. Immer noch. Der Weg, der mich auf meiner Reise durch die Nacht führt, ist ein atmender lebender Organismus.
Er ist der Weg des Lebens.
Klingt wie eine Predigt, finden Sie nicht? Vielleicht ist es sogar eine. Willkommen in der Kirche der akuten inflammatorische demyelinisierenden Polyneuropathie Guillain-Barré-Syndrom. Ziemlich umständlicher Name für eine Glaubensgemeinschaft. Ich will auch gar keine Predigt halten, sondern Sie einfach nur daran erinnern, dass die Straße des Glücks mit glühenden Kohlen gepflastert ist. Egal, ob Sie selbst an GBS leiden oder nicht, denken Sie immer an eines:
Wer den Glauben an das Glück verliert, stirbt.
Unser Hirn verliert diesen Glauben nicht. Ich habe Menschen mit schwersten Körperlichen Behinderungen kennengelernt, die trotzdem noch in der Lage waren, Freude und Glück zu empfinden. Vielleicht sogar gerade deswegen. Ich glaube, wenn die Welt sich um einen herum weiterdreht und weiterlebt, während man selbst zu einem bewegungsunfähigen Körper reduziert wird, sind es gerade diese scheinbar bedeutungslosen und alltäglichen Erlebnisse, die einen nicht verzweifeln lassen.
Da ist zum Beispiel die Putzfrau auf der Intensivstation, die zu mir sagt: "Mit ein bisschen Wünsch geht alles!" Ich schreibe bewusst, dass sie es zu mir sagt und nicht, dass sie es zu mir sagte. Denn ihre Worte höre ich noch immer. Oft, wenn ich wieder zu verzagen drohe, höre ich sie. Danke.
Oder der Primar der Neuro, der auf meine Frage, ob wir eine schmerzhafte Muskeluntersuchung mit langen Nadeln, die tief ins Fleisch gestochen werden, auch bleiben lassen können, zu mir sagt: "Ja, sicher!" und mich dabei anlächelt.
Der Patient mit der Gesichtslähmung, mit dem ich mich über meine Krankheit unterhalte und erzähle, dass ich am Anfang am ganzen Körper gelähmt war, meint: "So ein Blödsinn, was es so alles gibt." Ich fand das sehr erfrischend, weil dieser sympathische und witzige 70jährige Mann eine Krankheit nicht als Schciksalsschlag oder Katastrophe bezeichnet, sondern schlicht als Blödsinn. Und er hat ja auch recht.
Stopf dir das in den Rachen und friss es, Guillain-Barré-Syndrom: Du bist nichts weiter als einfach nur Blödsinn.
Vielleicht hilft es Ihnen, so zu denken, mir hat es jedenfalls geholfen.
Diese Erlebnisse, die Fähigkeit meines Hirns jedes Glück als absolut vollkommen zu erleben, das Wissen, dass der Weg da ist und die Worte der Putzfrau:
"Mit ein bisschen Wünsch geht alles."
Dieses bisschen Wünsch wünsche ich Ihnen auch, mein lieber Leidenskollege.
Und verlieren Sie Ihren Glauben an das Glück nicht, sonst verlieren Sie Ihr Leben.

Samstag, 11. Oktober 2014

GBS - Mein Stratosphärensprung

Oft fällt es mir schwer, meine Erfolge und Fortschritte zu sehen. Im Laufe der letzten zehn Monate habe ich so viele Dinge erlebt, die mich beunruhigt, erschrocken, verängstigt und entsetzt haben, dass die Erinnerung daran oft die Sonnenseiten meines Krankheitsverlaufs überschatten. Ich will die Ängste, Schmerzen und die große Trauer nach dem Tod meiner Mutter jetzt gar nicht schildern, vielleicht mache ich das ein anderes Mal. Einiges davon kann man in meinen anderen Blogartikeln ja bereits lesen, und auch einen biographischen Text über mein Leben vor dem Guillain-Barré-Syndrom werde ich demnächst hier posten.
   Aber in meinem heutigen Beitrag möchte ich mich auf die positiven Entwicklungen meiner Krankengeschichte beschränken und von den kleinen Freuden, großen Hoffnungen und enormen Wundern berichten, die ich erfahren und erlebt habe.
   Eines vorweg: Die größten Wunder heißen Mama, Bruder, Verwandte, Ärzte, Krankenschwestern- und Pfleger, Therapeutinnen- und Therapeuten. Viele andere wären noch zu nennen, wie die Rettungssanitäter, die Leute von den Transportdiensten, die Zivis und FSJler und diejenigen aus der Technik und der Verwaltung.
   Aber dann gibt es noch die Fortschritte, die mir als Wunder der Heilung erscheinen. Bei all der Angst und Verzweiflung vergesse ich dann, dass ich mittlerweile Dinge tun kann, wie diesen Text mit beiden Zeigefingern in die Bildschirmtastatur meines Tablets zu tippen. Ich kann meine Arme, Hände und Beine bewegen, ich kann aufrecht sitzen ohne Angst haben zu müssen umzukippen, und ich kann selbstständig aus meinem E-Rolli aufstehen, indem ich mich an den Griffen eines Rollators festhalte und mit den Armen und Beinen hochstemme. Sicher, der Rollatur ist mit drei Zehn-Kilo-Hantelscheiben beschwert und mein Therapeut Wolfgang sitzt auch noch dahinter, um mich zu stützen, falls ich hinfalle.
   Aber ich kann aufstehen. Ich kann eine halbe Minute oder so stehen, ohne dabei das Gefühl zu haben hinzufallen oder schwindlig zu werden. Nur das freihändige Stehen klappt noch nicht. Dafür bin ich mir zu unsicher, und meine Beine sind zu wacklig. Zu schwach sind sie offenbar nicht.
   Wolfgang meint, mein Problem seien nicht so sehr die Muskeln, sondern die Angst. Damit hat er recht. Aber diese Angst zu überwinden ist sehr schwer. Oft glaube ich, dass ich es nicht schaffen kann, aber was mich dann doch motiviert, sind der phantastische Physiotherapeut und Jäger aus Gaspoltshofen Wolfgang, sowie der Gedanke, dass ich nicht mein Leben lang in diesem elektrischen Rollstuhl sitzen und Scherereien mit dem Katheter haben will. So cool der Rolli auch ist, aber letztlich will ich da wieder raus.
   Ein Beispiel für die Notwendigkeit der Angstüberwindung: Um aus dem Rollstuhl aufstehen und mich am Rollator abstützen zu können, muss ich den Schwerpunkt über die Unterstützungsfläche bringen. Das klingt nach physiotherapeutischem Fachchinesisch. Ist es auch. Übersetzt heißt das so viel, wie: nach vorne beugen. Um das zu tun und mich aus den Knien heraus aufzurichten, muss ich mich ein Stück nach vor fallen lassen. Ansonsten habe ich nicht genug Kraft, um auf die Beine zu kommen.
   Was harmlos klingt, ist für mich wie ein Stratosphärensprung. Als Kind konnte ich mich leicht auf die Knie fallen lassen und wieder aufstehen. Ich konnte sogar Purzelbäume schlagen. Ein Gedanke, der mir jetzt geradezu lächerlich absurd erscheint. Wobei...jucken würde es mich schon.
   Ich lasse mich also ein Stück nach vorne fallen und stemme mich dann hoch. Dabei fühle ich mich wie Phönix, der aus der Asche aufsteigt. Es ist ein unbeschreibliches Gefühl. Nie in meinem Leben hätte ich mir gedacht, dass es so phantastisch sein könnte, einfach nur aufzustehen. Wie oft habe ich das in meinem Leben gemacht und mir dabei gedacht, nein, nicht jetzt, ich möchte viel lieber sitzen bleiben. Jetzt sitze ich für meinen Geschmack schon zu lange und möchte aufstehen und gehen. Gehen kann ich zwar noch nicht, aber ich werde nicht aufgeben, weil die Aussichten wirklich gut sind.
   Ich wünsche mir gerade, dass Guillain-Barré-Syndrom-Patienten diesen Text lesen und vielleicht ein bißchen Hoffnung schöpfen. Oder noch besser: viel Hoffnung. Denn die gibt es, ich würde sie sogar als konkrete Hoffnung bezeichnen. Bei GBS gibt es einen Ausweg aus der Lähmung, aber der führt über den Kopf. Auch wenn man im Anfangsstadium nicht mehr als den Kopf bewegen kann, ist es letztlich entscheidend, was sich in diesem Kopf abspielt. Nützlich ist es, sich an das Gehen zu erinnern, oder besser gesagt, es zu visualisieren.
   Erinnern Sie sich an einen Augenblick in Ihrem Leben, in dem Sie gegangen sind.
   Am besten, Sie suchen sich ein besonders schönes Erlebnis. In meinem Fall ist es ein Spaziergang über Kieselsteine hin zu einer kleinen Halbinsel an der Adria in Kroatien. Sonnenzeit, unbeschwert und leicht. Oder ein Spaziergang in einem kleinen Waldstück in der Nähe von Seewalchen am Attersee. Wenn Sie an solche Erlebnisse denken, rufen Sie sich so viele Details wie möglich in Erinnerung, insbesondere das Gefühl unter ihren Fußsohlen oder Schuhen. Spüren Sie in Gedanken die Bewegungen Ihrer Beine, der Muskeln, des ganzen Körpers. Tun Sie das immer wieder, und seien Sie dabei so präzise wie möglich.
   So können Sie wieder zu einem Geher werden, einem Läufer, einem Wanderer. Wenn vorerst auch nur in der Erinnerung, aber Sie bekommen wieder ein Gefühl für das, was Sie verloren haben.
   Ich war vollständig gelähmt. Körperlich und seelisch. Nicht geistig. Mein Hirn hat die Krankheit verschont. Ich hatte auch keine Gesichtslähmung, wie viele GBS-Patienten. Ich konnte, denken, sprechen, hatte keine Schluckbeschwerden, konnte mit meinen Augen in alle Richtungen schauen und den Kopf ein bißchen nach links und rechts bewegen.
   Vom Hals bis zu den Zehen war ich tot. Zumindest kam ich mir so vor. Im Laufe der folgenden Monate habe ich immer wieder zu mir gesagt: »Ich bin kein Mensch mehr. Ich bin tot«. Nicht gerade motivierend, aber diese Gedanken konnte ich nicht verhindern. Zu groß war oft die Verzweiflung. Wenn ich auf der Intensivstation wegen der Dialyse nichts trinken durfte. Meine Nieren haben versagt, und alleine daran wäre ich fast gestorben.
   Wenn meine Hände auf der Brust lagen und ich wollte sie ausstrecken, hatte ich keine Chance. Zuerst konnte ich sie gar nicht bewegen, und als das Gefühl und die Kraft in den Schultern allmählich zurückkamen, war ich noch immer nicht stark genug, meine Arme seitlich vom Körper auszustrecken. Manchmal gelang es mir mit ruckartigen Bewegungen, meine Arme ein paar Zentimeter über die Brust und den Bauch zu bewegen, aber der Stoma an meiner rechten Bauchseite war ein unüberwindbares Hindernis. Für alle, die nicht wissen, was ein Stoma ist: ein künstlicher Darmausgang, also ein Loch in der Bauchdecke, an dem der Darm mit Klammern festgetackert ist. An der Haut klebt eine Plastikfolie mit einem Loch und einem Plastikring, und daran wird ein kleiner Plastiksack befestigt, der den Darminhalt auffängt. Meistens. Wenn nicht, ist Krankenschwester- oder Pfleger eine ziemliche Scheißarbeit. Aber wenigstens tut der Stoma nicht weh. Ich spüre ihn gar nicht. Er soll wieder rückoperiert werden, aber dafür muss ich noch mobiler werden. Oder, mit anderen Worten gesagt: den Thron selbst besteigen können. Doch lassen wir das. Es ist kein sehr appetitliches Thema. Allerdings ist mir der Appetit nie vergangen. Das hat diese Krankheit nicht geschafft.
   So lag ich also Tag und Nacht auf dem Rücken und wurde ab und zu zur Seite gedreht, damit ich mich nicht wundliege. Bei jeder Lagerung hatte ich das Gefühl, als würde mir jemand mit einem Vorschlaghammer einen Meissel in die rechte Hüfte schlagen. Das einzige, was noch schlimmer für mich war, als auf diesen Schmerz vorbereitet zu sein und ihn dann zu erleben, war, nicht darauf vorbereitet zu sein und davon aufzuwachen. Wenigstens war dieser Schmerz immer nur kurz, wirkte nicht nach und wurde auch nicht chronisch. Aber geplagt hat mich die Hüfte noch, bis ich zehn Monate später hier in Altenhof ein Keilkissen bekam, auf dem ich jeden Abend vier Stunden lang lag.
   Das Keilkissen ist jetzt weg, die Hüftschmerzen sind es auch. Danke, Wolfgang.
   Schmerzen, Verzweiflung, Durst, Ungewissheit, was die Zukunft bringen wird, Blutwäsche, Träume von der Wüste und vom Wassertrinken, und das alles bei vollkommener Reglosigkeit. Bewegungsunfähig. Angst. Der Ausblick durch ein riesiges Fenster auf den Parkplatz eines Supermarktes. Autos. Bewegung. Wegfahren. Nach Hause fahren. Tränen. Albträume, nur unterbrochen vom Meissel.
   Meine Mutter besucht mich. Ich sehe ihr liebevolles, freundliches Gesicht. Alles ist gut. Mama ist da. Sie streichelt meinen Kopf, tröstet mich. Ich bin glücklich.
   Jetzt bin ich es nicht mehr. Mama ist tot. Ihr Gesicht sehe ich nicht mehr, außer auf Fotos, die ich mich aber nicht anzuschauen traue, weil es zu schmerzhaft ist. Wenn ich sterbe, sehe ich sie wieder. So hat der große Tyrann der Menschheit, der Tod, für mich seinen Schrecken verloren.
   Danke, Mama.
   Die erste Bewegung, die ich mit meinen Händen machen konnte, war, den linken Zeigefinger minimal nach links und rechts zu bewegen. Ich konnte den Finger nicht einziehen, durch die Lähmung war er immer ausgestreckt. Aber, als ich das zum ersten Mal konnte und mit eigenen Augen gesehen habe, wusste ich: Jetzt werde ich wieder gesund. Ich konnte zwar meine Arme schon etwas anheben, aber die habe ich nie als vollständig gelähmt erlebt, weil ich die Schultern schon etwas bewegen konnte, nachdem ich auf der Intensivstation aufgewacht war. Wobei ich mir jetzt gar nicht mehr so sicher bin, ob das wirklich so war, aber, als ich den Zeigefinger bewegen konnte, schöpfte ich zum ersten Mal richtig Hoffnung. Das muss nach etwa drei Monaten Krankenhausaufenthalt gewesen sein. Auf der Neuro-Abteilung des Landeskrankenhauses Vöcklabruck in Oberösterreich.
   Inzwischen kann ich tippen, notdürftig mit der Hand schreiben, vier 1,5-Liter-Flaschen Coca-Cola Zero auf einmal vom Boden auf den Tisch heben, Suppe problemlos mit einem Löffel essen, mich waschen und in der Nase bohren. An meinem letzten Ergotherapietag im Krankenhaus, nach einem halben Jahr, brauchte ich noch eine dreiviertel Stunde, um ein paar Stückchen Lachsfilet mit Kartoffeln zu essen. Das war für mich Schwerstarbeit, noch dazu querbettsitzend, an einen riesigen Schaumgummiwürfel gelehnt und mit tatkräftiger Unterstützung meiner wunderbaren jungen Therapeutin Julia. Ich glaube, es gibt nur wenige Menschen, die man beim Lachsessen anfeuern muss. Danke, Julia.
   Essen ist inzwischen kein Problem mehr, nur schneiden kann ich noch nicht. Bei der Physiotherapie im Krankenhaus musste man mir die Hände noch mit Kletthandschuhen an den Handpedalen eines Trainingsgerätes befestigen, damit ich meine ersten Übungen machen kann. Inzwischen habe ich schon einen ziemlich festen Griff, der mir sogar schon fast normal erscheint, allerdings klappt es mit der Fingerbeugung- und Streckung noch nicht so recht. Aber ich kann die Finger einziehen und ausstrecken, und ich habe den Eindruck, dass es von Tag zu Tag besser wird. Das verdanke ich natürlich auch meinen Therapeuten hier in Altenhof, die mich schon seit fast einem halben Jahr begleiten und unterstützen. Johannes, Bettina, Sandra und Jasmin: Danke.
   Im Krankenhaus konnte ich ein halbes Jahr nur an die Decke schauen, und meine Therapeuten haben wahre Wunder bewirkt, dass ich so etwas wie Querbettsitzen überhaupt geschafft habe. Jetzt, zehn Monate späte sause ich mit einem E-Rolli durchs Behindertendorf. Fun, Fun, Fun, wie die Beach Boys sagen würden.
   Also, liebe GBSler: Nicht aufgeben. Ich weiß, irgendwann kann man es nicht mehr hören, wenn Alle sagen: Das wird schon wieder, aber es dauert. Doch es stimmt. Das Guillain-Barré-Syndrom ist kein ewiges Schicksal, keine unendliche Geschichte. Es ist eine lange Reise in die Abgründe der eigenen Seele. Die Welt um einen herum bewegt sich weiter, aber man selbst steht völlig still. Gelähmt und eingesperrt in sich selbst wie Han Solo im Karbonitblock. Wie Superman ohne Cape. Irgendwie ist es auch eine Reise ins Ich ein Blick in den Spiegel im Spiegel, in dem man sich nicht so sieht, wie man gerne sein möchte, sondern, wie man wirklich ist. Natürlich ist es ein großes Stück Selbsterkenntnis, ein Gnotis Seauton.
   Beim Blick in die Nacht sieht man sein eigenes Spiegelbild.
   Oder, wie Friedrich Nietzsche sagte: Wenn wir in den Abgrund blicken, blickt der Abgrund in uns zurück.

Freitag, 10. Oktober 2014

Angst vor der Gesundheit - Aus meinem Tagebuch

Angst ist wohl die größte und schlimmste meiner Krankheiten. Genaugenommen ist sie sogar die einzige, denn die Lähmung scheine ich ja überwunden zu haben. Das ist so besonders frustrierend an meiner Situation. Wenn ich fleissig trainiere, werden meine Muskeln stärker, mein Körpergefühl bessert sich und damit auch die Sicherheit beim Stehen und später beim Gehen. Aber kaum spüre ich etwas in der Harnblase, kommt meine Angst wieder zurück. Innerlich erstarre ich dann und verliere jede Motivation und Freude, etwas zu tun.
   Dazu kommt noch die verrückte Angst, wieder gesund zu werden. Gesundheit verbinde ich mit Unsicherheit. Was wird aus mir werden? Solange ich im Rollstuhl sitze, bin ich zumindest in Sicherheit. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, wieder der Alte zu werden. All diese Vorstellungen: einfach aufzustehen und zu gehen, mich auf einen normalen Sessel zu setzen, auf die Toilette gehen zu können, normal zu duschen, mich ins Bett zu legen und daraus wieder aufzustehen. Mir selbst die Hose an- und auszuziehen. So wie früher. Wie ich es fast mein ganzes Leben gemacht habe. Ich weiß ja, dass ich dann trotzdem hier in Altenhof bleiben kann. Auf jeden Fall so lange, bis ich keine Angst mehr vor der Gesundheit, der Zukunft und dem Leben habe.
   Trotzdem…Dann ändert sich für mich wieder alles. Natürlich zum Besseren, das ist mir schon klar, oder zumindest hoffe ich das, aber Veränderungen machen mir Angst, auch, wenn sie noch so viel Gutes bringen. Andererseits ist mir klar, dass ich nicht den Rest meines Lebens im Rollstuhl und im Bett verbringen will. Trotzdem habe ich Angst, gesund zu werden. Ich weiß, wie wahnsinnig sich das anhört. Als ich noch gesund war, hatte ich auch keine Angst davor, gesund zu sein. Ich frage mich, ob es anderen Menschen, die in einer ähnlichen Situation wie ich leben, auch so geht. Ich stelle mir vor, dass die meisten Kranken oder Behinderten so schnell wie möglich so gesund wie möglich werden wollen.
   Will ich das nicht? Das frage ich mich. Ich stelle mir allen Ernstes die Frage, ob es für mich nicht besser wäre, krank und behindert zu bleiben. Ich weiß, dass jeder, der das liest innerlich aufschreit und sich fragt, ob ich verrückt bin. Um ehrlich zu sein, diese Frage stelle ich mir auch oft. Haben mich mein Leben, meine Krankheit und meine Traurigkeit irgendwann wirklich verrückt gemacht? Nun, klinische Anzeichen gibt es keine dafür. Meine Befunde sagen, dass ich geistig völlig normal bin. Aber kann man jemanden als normal bezeichnen, der den halben Tag im Rollstuhl sitzt, auf den nächsten Harndrang wartet und Angst davor hat, gesund zu werden, anstatt zu trainieren, um aus dem Rollstuhl und aus der Angst wieder rauszukommen?
   Ich habe keine Antwort auf diese Frage. Alles, was ich tun kann, ist, mich so gut ich kann zu bemühen und abzuwarten, was die Zeit mir bringen wird.

Donnerstag, 9. Oktober 2014

Mein Leben: Krankheit

Meine Krankheitsgeschichte mit dem Guillain-Barré-Syndrom begann im Jahr 2009, es war Januar, und ich kam gegen Mittag vom Einkaufen zurück. Draußen war es kalt, und es lag viel Schnee auf den Straßen. Der BILLA-Supermarkt in Seewalchen befindet sich direkt gegenüber des Mietswohnungshauses, in dem ich damals wohnte. In meinen Händen trug ich links und rechts je einen Plastiksack mit den tägliche Einkäufen. Ich stellte die Säcke neben mir ab und sperrte die Eingangstür zum Treppenhaus auf. Die Wohnung meiner Mutter befindet sich im ersten Stock, ich hatte also insgesamt keinen weiten Weg. Ich ging immer gerne einkaufen, schließlich war es eine Abwechslung für mich.
So machte ich mich auf den Weg zu unserer Wohnung, als ich hinter mir Schritte hörte. Eine Frau, die mit ihrer Familie damals in einer der Wohnungen im Obergeschoß lebte, betrat das Treppenhaus. Da ich dazu neige, in solchen Situationen nervös zu werden, wollte ich mich beeilen, damit ich genug Platz und Zeit habe, nach oben zu gehen. In der Hektik stolperte ich über die erste Stufe und fiel hin. Ich habe mich zwar nicht verletzt und war schnell wieder auf den Beinen, aber im Laufe der nächsten Tage bemerkte ich, dass mir das Gehen schwer fiel und ich das rechte Bein nicht mehr richtig bewegen, spreizen oder anheben konnte. Natürlich hätte ich damals sofort einen Arzt rufen sollen, aber ich scheute davor zurück und dachte mir, es würde schon wieder besser werden.
In den Tagen und Wochen darauf erledigte meine Mutter die Einkäufe. Was ich damals noch nicht ahnte, war, dass ich bis zu meiner Einlieferung ins Krankenhaus im Juni 2013 das Haus nur noch einmal verlassen sollte. Ich hatte zunehmend Schwierigkeiten zu gehen oder mich im Bett umzudrehen. Bei den entsprechenden Bewegungen tat mir die rechte Hüfte weh, und so wurde ich immer träger und fauler. Meine Zeit verbrachte ich mit fernsehen, lesen, schreiben, schlafen und Bier trinken. Anfangs waren es noch fünf Halbliterdosen pro Tag, aber diese Dosis steigerte sich im Laufe der Zeit zuerst auf zwölf und dann auf sechzehn. Wieviel ich damals wog, weiß ich nicht, aber es müssen um die 140 Kilo gewesen sein. Als ich ins Krankenhaus kam, waren es 165. So traurig es ist, aber diese Jahre waren ziemlich produktiv. Ich schrieb zwei Romane und täglich Tagebuch.
Das Haus verließ ich dann nur noch einmal. Es war am 30. August 2009, einen Tag nach meinem 40. Geburtstag. Ich fuhr mit meiner Mutter zu dem kleinen Badeplatz in Nußdorf am Attersee, den wir schon seit vielen Jahren besuchten, und wo ich viele unbeschwerte und fast glückliche Stunden verbrachte. Das Gehen fiel mir sehr schwer, und ich konnte die Beine kaum noch anheben. Ich schob es auf mein Gewicht, meine mangelnde körperliche Bewegung und den Sturz an der Treppe im Januar. Aber im Wasser fühlte ich mich wieder wohl und schnorchelte etwa eine Stunde lang.
        Schließlich fuhr ich mit meiner Mutter wieder nach Hause, kämpfte mich in den ersten Stock in unsere Wohnung, setzte mich auf den schwarzen Ledersessel und verließ das Haus erst wieder vier Jahre später.
Was machte ich in dieser Zeit? Dasselbe wie immer: schlafen, fernsehen, lesen, schreiben, Bier trinken, essen und den Wahnsinn meines Lebens verdrängen. Auf diese Art erlebte ich viermal Weihnachten und drei weitere Geburtstage. Ich nahm immer mehr an Gewicht zu und hoffte auf Besserung. Meine Mutter ging einkaufen, kochte und sorgte für mich. Wenn ich jetzt daran zurückdenke, kann ich es selbst nicht glauben, dass ich vier Jahre so gelebt habe und Mama das alles angetan habe. Gegessen habe ich nur wenig, getrunken dafür umso mehr. Die einzige Bewegung, die ich noch machte, war, mich alle zwei Stunden aus dem Fernsehsessel hochzuwuchten, um auf die Toilette zu gehen.
So vergingen ein Tag, eine Woche, ein Monat und ein Jahr nach dem anderen. Irgendwann hatte ich mich so an den Zustand gewöhnt, dass es mir nicht mehr viel ausmachte. Aber durch meine Trägheit und den Umstand, dass ich mich nur notdürftig pflegen konnte, entwickelten sich bei mir drei Abszesse am Gesäß und an den Oberschenkeln, die immer wieder zu bluten begannen. Ich reinigte sie mit Beta Isodona, das ich mit Taschentüchern oder Küchentüchern auftrug. Ich weiß zwar nicht, ob das mit meiner Erkrankung etwas zu tun hat, aber ich vermute es stark. Diese Phase dauerte von Anfang 2013 bis Juni 2013. ich konnte kaum noch aufstehen, verwendete für die Toilettengänge einen Stock und ignorierte meine Situation weiterhin. Sobald ich wieder im Wohnzimmer war, am Computer oder vor dem Fernseher saß und ein Glas Bier in der Hand hatte, war ich zufrieden und die Verdrängung des Irrsinns ging weiter.
Immer wieder sagte meine Mutter, dass ich zum Arzt gehen solle, flehte mich geradezu an, aber ich weigerte mich. Ich wusste ja auch nicht, wie. An Treppensteigen oder mich auf den Beifahrersitz unseres kleinen Honda zu setzen, war längst nicht mehr zu denken. Immer wieder nahm ich mir vor, weniger Bier zu trinken und meine Beine mit einem kleinen Pedaltreter zu trainieren. Das tat ich auch. Phasenweise. Selten.
Schließlich wurde es Juni 2013, und es geschah Folgendes: Schon seit Wochen litt ich immer wieder an Durchfällen und Abszessblutungen, kämpfte mich auf die Toilette, setzte mich wieder auf den Wohnzimmersessel, reinigte die blutenden Stellen mit Beta Isodona und machte die nächste Dose Bier auf. Ich muss mir wohl durch diese Blutungen die Infektion zugezogen haben, die schließlich zum Ausbruch meiner Krankheit führte.
Dann, eines Tages Anfang Juni, es war kurz nach Mitternacht, stand ich von meinem Ledersessel auf, um ins Bett zu gehen. Es fiel mir schwer, ich stützte mich auf meinen Stock, spürte ein leichtes Schwindelgefühl, das aber gleich wieder verschwand, und ging in mein Zimmer, das sich gleich neben dem Wohnzimmer befindet. Das Licht im Wohnzimmer ließ ich brennen, in meinem Zimmer war es dunkel. Meine Mutter befand sich gerade in der Küche oder im Bad und machte sich ihrerseits fertig, ins Bett zu gehen.
Ich ging auf mein Bett zu, es waren nur wenige Schritte, verschätzte mich in der Düsternis irgendwie um einen Schritt, und fiel beim Versuch, mich am Fußende auf das Bett zu knien, hin. Ich schrie auf. Meine Mutter hörte mich und kam ins Zimmer geeilt.
»Markus, was ist denn? Um Gottes Willen«, rief sie und nahm mich unter einem Arm.
Ich versuchte aufzustehen, aber es ging nicht. »ich kann nicht aufstehen«, sagte ich.
»Ich ruf' die Rettung!« Meine Mutter wollte zum Telefon in der Bauernstube laufen, aber ich hielt sie zurück.
»Nein! Bitte nicht! Es geht schon.« schrie ich.
Ich beugte mich nach vor und lehnte mich über das Fußende meines Bettes. In den Beinen hatte ich keinerlei Kraft, es war mir vollkommen unmöglich aufzustehen. Also wuchtete ich mich mit den Armen aufs Bett rutschte irgendwie nach oben, drehte mich auf den Rücken und blieb so liegen.
        »Du musst sofort ins Krankenhaus. Sofort!« sagte Mama.
»Nein. Nein«, war meine Antwort. Ich glaubte, es sei nur ein vorübergehender Schwächeanfall. Etwas später, nachdem ich mich wieder erholt und eine Dose Bier getrunken hatte, versuchte ich, wieder aufzustehen. Ich rutschte ans Bettende, stellte die Füße auf den Boden und versuchte es.
Es war vergeblich. Ich hatte nicht die geringste Chance. Zwar konnte ich die Beine bewegen, aber jegliche Kraft war verschwunden. Ich legte mich wieder hin. Kurz, bevor ich einschlief, bemerkte ich, wie sich ein taubes Gefühl in meinen Fingerspitzen ausbreitete.
Ich muss wohl drei oder vier Tage im Bett verbracht haben. Ich schlief, trank nur noch wenig Bier, aß ab und zu ein Stück Kuchen und urinierte in eine Harnflasche. Ich hatte Verstopfung, was mit der Infektion zusammenhing.
Eines Tages beschloss ich dann, das Bett wieder zu verlassen. Irgendwie. Ich nahm mir vor, mich vorsichtig auf den Boden gleiten zu lassen, ins Wohnzimmer zu kriechen und mich dort auf den Sessel zu stemmen. Ich wollte raus aus dem Bett, weil mir klar war, dass es so nicht weitergehen konnte. Außerdem spielte ich mit dem Gedanken, mich wirklich ins Krankenhaus einliefern zu lassen. In meinem kleinen Zimmer hätten die Rettungsleute aber sicher Schwierigkeiten gehabt, mich auf die Trage zu legen. Also wartete ich, bis meine Mutter wieder einkaufen war und rutschte auf das Fußende meines Bettes zu. Es gelang mir mühelos, auf den Boden zu gelangen, und dann begann ich, ins Wohnzimmer zu kriechen. Es fiel mir zwar schwer, ging aber doch ohne Schwierigkeiten. Auf den Fernsehsessel schaffte ich es aber nicht. Ich konnte mich nicht genug hochstemmen, aber es gelang mir, mich mit dem Rücken an den Sessel zu lehnen. So blieb ich sitzen, bis meine Mutter wieder nach Hause kam. Als ich sie hörte, rief ich ihr zu: »Ich sitze hier!«
Mama blickte durch den Torbogen, der das Wohnzimmer mit der Bauernstube verbindet. Sie war ganz überrascht und freute sich, dass ich das geschafft hatte. Ich war selbst optimistisch. »Ich versuche, später noch einmal aufzustehen. Wenn' s nicht geht, muss ich halt ins Krankenhaus«, sagte ich.
Mama war erleichtert, dass ich endlich zur Vernunft gekommen war, ich auch. In diesem Moment war ich so zuversichtlich wie schon seit Jahren nicht mehr. Jetzt würde sich endlich alles zum Guten wenden, die Zukunft sah wieder freundlich aus, und ich wusste, dass ich es schaffen konnte, wieder auf die Beine zu kommen und gesund zu werden.
Ich schaffte es nicht.
Stattdessen blieb ich einige Tage lang einfach am Boden vor dem Fernsehsessel liegen. Meine Mutter bereitete mir eine Schlafstätte mit einer untergelegten Decke, einem Leintuch, Kopfpolster und einer weiteren Decke zum Schlafen. Ich verbrachte die Zeit mit fernsehen, Bier trinken, wenig essen und den Wahnsinn meines Zustandes zu ignorieren und die Einlieferung ins Krankenhaus auf den jeweils nächsten Tag zu verschieben.
        Mama war verzweifelt, sagte immer wieder, sie würde die Rettung rufen und ich müsse unbedingt ins Krankenhaus. Ich weigerte mich zu gehen. Immer noch. Ich trank in dieser Zeit vielleicht drei Dosen Bier pro Tag und keinen anderen Alkohol. Daran kann es also nicht gelegen haben, dass ich so uneinsichtig war. Nein, es war etwas Anderes.
Ich hatte Angst. Ich hatte furchtbare Angst vor dem Krankenhaus und davor, dass dann in meinem Leben kein Stein auf dem anderen bleiben würde. Ich glaubte allen Ernstes, dass die Schwäche in den Beinen wieder vergehen würde. Dann würde ich aufstehen, mich auf den Ledersessel setzen und damit beginnen, mich mehr zu bewegen. So würde sich alles zum guten wenden.
Ich glaube, ich habe vier Tage so verbracht. Dann, eines Abends, schlief ich ein und dachte mir: »Morgen gehe ich ins Krankenhaus.«
Ich sollte Recht behalten. Nur kann ich mich an die Ereignisse nicht mehr erinnern. Ich kenne sie nur von den Worten meiner Mutter:
Am frühen Nachmittag des nächsten Tages verschlechterte sich mein Zustand dramatisch. Ich verkrümmte mich, zog Hände und Arme ein und war halb besinnungslos. »lass mich sterben, lass mich sterben«, sagte ich zu Mama, erinnere mich aber nicht daran.
Meine Mutter alarmierte sofort den Hausarzt und das Rote Kreuz, und so wurde ich ins Landeskrankenhaus Vöcklabruck eingeliefert. Ich glaube, es war der 11. Juni 2013. Seitdem habe ich mein Zuhause nicht mehr gesehen. 
Die Angst, die ich damals vor meiner Einlieferung ins Krankenhaus empfunden habe, wird jetzt wieder wach. Ich habe lange Zeit nicht mehr über die Ereignisse der letzten Jahre so intensiv nachgedacht. Es war mir beim Schreiben dieses Textes so, als würde ich alles noch einmal durchleben.
Ich kann nicht glauben, dass ich so gelebt habe, dass dies alles geschehen ist. Dass ich all das habe geschehen lassen. Jetzt befinde ich mich auf dem Weg der Heilung. Ich kann inzwischen aus dem Rollstuhl aufstehen, wenn ich mich mit den Händen abstütze. Mein Physiotherapeut meint, es se nur eine Frage des Muskeltrainings.
Mein Leben ist jetzt besser, als es je zuvor war. Ich werde wohl wieder gesund. Das liegt aber nicht nur an mir, sondern vor allem an der vielen Hilfe und Unterstützung, die ich seit dem Ausbruch erhielt. Mein Dank gilt  den Ärzten, Ärztinnen, Krankenschwestern- und Pflegern, Therapeutinnen und Therapeuten in den Krankenhäusern von Vöcklabruck, Gmunden, Wels und Ried, dem Neurologischen Therapiezentrum Gmundnerberg sowie allen Mitarbeitern des Dorfes Assista Altenhof am Hausruck. Ebenfalls verloren wäre ich ohne meinen Bruder Dr. Heimo Pärm und dessen Frau Gertraud, sowie allen Verwandten. Danke Euch allen!
Mein größter Dank aber gilt meiner Mutter und meinem Vater, ganz einfach, dass sie immer für mich da waren und das auch jetzt noch sind. 
Meine Mutter ist tot. Ich mache mir keine Vorwürfe, aber ich kann mir selbst nicht verzeihen, was ich ihr angetan habe. 45 Jahre lang. Trotzdem hat sie einige Wochen vor ihrem Tod noch zu mir gesagt: »Du bist ein lieber Sohn.«
Ich weiß, dass ich das nicht bin, aber das Geschehene kann ich nicht ungeschehen machen. Ich wünschte, ich könnte es. Diese Traurigkeit wird wohl immer ein Teil von mir bleiben. In solchen Momenten, wenn ich voller Abscheu auf den Menschen zurückblicke, der ich früher war, denke ich an ein Gedicht, das meine Mutter geschrieben hat:

"Zünd' eine Kerze an,
wenn du traurig bist.
Ihr Schein gibt Licht,
die größte Dunkelheit zu erhellen."

Mein Leben: Persönlichkeit

Was bin ich für ein Charakter? Ich würde sagen, ich bin geduldig, kreativ, manchmal etwas weltfremd und gelegentlich ganz witzig, obwohl mir das Lachen im Laufe des letzten Jahres gründlich vergangen ist. Ich bin manchmal fröhlich, manchmal traurig, aber ein Gefühl, das mich ständig begleitet und mir das Leben oft schwerer macht, als es meine Krankheit jemals geschafft hat, ist Angst. Etwas ängstlich war ich immer schon, aber ein halbes Jahr im Krankenhaus und über ein ganzes Jahr mit dem Guillain-Barré-Syndrom haben mich zu einem überängstlichen Menschen gemacht. Dabei waren es nie konkreten Ängste, die mich plagten. Meine Vernunft funktioniert einwandfrei, das rationale Denken hat meine Krankheit nicht beeinflusst.
Nein, es war eine diffuse Angst, die mich immer wieder quälte. Dabei sind es immer kleine, bedeutungslose Auslöser, die mich in solche Phasen stießen, die oft tagelang andauerten. Ein bißchen Blut im Katheterschlauch reichte da schon aus. Zwar vergingen diese Momente wieder, aber wenn sie da waren, verdarben sie mir den ganzen Tag.
Auf der Neuro in Vöcklabruck war es eine junge Psychologin, die mir gegen meine Ängste half. Mit Entspannungsübungen und dem Visualisieren von Problemlösungen konnte ich die schlimmsten Ängste in den Griff kriegen. Angst hat die Eigenschaft, einen Menschen vollkommen zu vereinnahmen. Zumindest war es bei mir so. Es waren Existenzängste: Wie und wo soll ich leben? Werde ich bei einer Operation sterben? Wird meine Mutter sterben? Was, wenn ich nie wieder gehen kann oder meine Hände nie wieder bewegen? Kommen noch weitere Krankheiten hinzu? Werde ich an den Folgen der Thrombose sterben und, und, und.
Eine der Übungen, die mir meine Psychologin empfohlen hat war, mich zu entspannen, ruhig zu atmen und mir innerlich immer wieder vorzusagen: »Ich beobachte meine Angst und bin dadurch mehr als meine Angst.« das hat zuerst ein bißchen und dann immer mehr geholfen. Auch heute wende ich diese und andere Techniken an.
Ich leide unter einem mittelstarken Minderwertigkeitskomplex, besonders in Gegenwart von Akademikern. Ich habe es nie überwunden, dass ich mein volles Potential nicht ausgeschöpft habe. Nicht einmal annähernd. Ob ich jetzt noch Zeit dafür habe oder ob es nicht zu spät ist, weiß ich nicht. Ich überlege mir oft, was aus mir alles hätte werden können, und dann führe ich mir vor Augen, was tatsächlich aus mir geworden ist.
Ich habe Vertrauen in andere Menschen, leide nicht unter Phobien, habe keine Angst vor Ärzten oder Medikamenten und weiß, dass sich mein Zustand nach und nach bessert. Weitere Interessen von mir sind Wissenschaft (insbesondere Hirnforschung und Quantenphysik), Philosophie, das Weltgeschehen und Bildung im Allgemeinen.
Mit Eifer hab' ich mich der Studien beflissen, zwar weiß ich viel, doch möcht’ ich Alles wissen. So würde ich meine Persönlichkeit beschreiben. Eine Mischung aus Wombat und Dr. Faust.

Mein Leben: Jugend

In der Hauptschule Schörfling begann eine Zeit, die ich zwar nicht als paradiesisch bezeichnen würde, aber es war auf jeden Fall die schönste Zeit meiner Jugend, wenn nicht sogar meines Lebens. Wenn ich mir aussuchen könnte, welche Phase meines Lebens ich noch einmal erleben möchte, dann wären es diese vier Jahre. Ich fühlte mich auf Anhieb wohl, erbrachte gute schulische Leistungen und fand Freunde, die ich besuchte und die mich besuchten. Keine dieser Freundschaften hat bis heute gehalten, aber das liegt wohl an mir und nicht an meinen Freunden. Auch damals hatte ich das Gefühl, nirgends richtig dazuzugehören, aber es war trotzdem eine schöne Zeit mit großen Plänen für die Zukunft.
Es gibt nur wenig, was ich an diesen Jahren ändern würde. Wenn ich mutiger gewesen wäre, hätte ich vielleicht damals die Liebe fürs Leben gefunden, aber ich traute mich nicht, diesem Mädchen meine Gefühle zu gestehen. Meine Freunde waren mir da auch keine Hilfe. Na ja, es waren Pubertätszeiten, was soll' s? Aber sie war hübsch. Schlank, hatte langes brünettes Haar, das schönste Gesicht, das man sich vorstellen kann, blaue wache Augen und ein Lächeln das mich umgehauen hat. Trotzdem denke ich nicht gerne an sie zurück. Es tut weh.
Nach der Hauptschule kam ich auf die Wahnsinnsidee, in die Handelsakademie Vöcklabruck zu gehen. Einer meiner Schulfreunde war auch dort, und mit dem Zug war es nur eine Fahrt von zwanzig Minuten. Während meiner Hauptschulzeit hatte ich die ganzen vier Jahre lang Mathematik-Nachhilfeunterricht und zusätzlich den Förderunterricht in der Schule selbst. Und ausgerechnet ich wollte in die Handelsakademie. Na ja, zwei Jahre habe ich es dort ausgehalten und mich mit Buchhaltung und Steno gequält, dass ich gar nicht so viele Sünden begehen könnte, wie ich damals schon abgebüßt habe. Allerdings hatte die Zeit in der HAK einen unerwarteten Nebeneffekt: Ich ging gerne hin. Ich kann mich nicht daran erinnern, jemals in der Früh aufgewacht zu sein und mir gedacht zu haben, oh nein, nicht schon wieder. Ich verstand mich mit den Klassenkollegen gut und muss heute sagen, auch diese zwei Jahre muss ich noch zu den sorglosen zählen. Ich hätte mich damals mehr anstrengen und in dieser Schule bleiben, oder auf meine Mutter hören und die Fachschule für Gebrauchsgraphik in Linz besuchen sollen. Ich aber wollte später auf die Hochschule für Fernsehen und Film in Wien. Mit zwanzig Jahren habe ich dann dort die Aufnahmeprüfung gemacht, bin aber nicht über die erste Runde hinausgekommen, und mein Traum, Filme zu machen platzte für immer.
Es muss wohl damals im Jahr 1990 gewesen sein, als ich das Vertrauen in mich selbst verlor. Ausgerechnet auf dem Gebiet, das ich besonders liebte, dem Filmemachen, war ich gescheitert. Das führte sogar so weit, dass ich seitdem nicht mehr im Kino war.
        Die Monate bis zum September 1991 verbrachte ich zu Hause mit lesen, zeichnen und fernsehen. Dann besuchte ich in Vöcklabruck im Berufsförderungsinstitut einen zweijährigen Lehrgang zu Ausbildung zum Werbedesigner. Das war eine schöne Zeit, sie war von Kreativität und Ideen geprägt. Aber ich habe damals nicht mehr an mich selbst geglaubt, und so sah ich trotz ausgezeichneter Erfolge und Kontakten zu Werbeagenturen für mich keine wirkliche Zukunftsperspektive in diesem Beruf. Ab 1993 arbeitete ich als freier Werbegrafiker für einige Agenturen der Umgebung. Ich hatte keinen Führerschein, und so führte mich mein Vater zu den jeweiligen Auftraggebern. Damit fehlte mir, obwohl ich das Talent und die Ausbildung hatte, die wichtigste Grundlage für einen Beruf wie diesen: Mobilität. Ich hatte nie viele Aufträge und war sehr schlecht darin, welche zu requirieren. Wenn ich einen Auftrag hatte, verdiente ich zwar gut, aber leben konnte ich davon nie.
        Der Rest meines Lebenslaufes ist schnell erzählt. Eine Werbeagentur sperrte zu, die Arbeit wurde weniger, und so verbrachte ich meine Zeit zu Hause. Das war etwa ab 1995. ich widmete mich vorrangig dem Schreiben und lag meinen Eltern auf der Tasche. Zwar habe ich nie große Sprünge gemacht, brauchte also nie viel Geld, war im Grunde aber nichts anderes als ein Nichtsnutz.
2001 starb mein Vater, und ich war mit meiner Mutter allein. Ich ging zwar für sie einkaufen, aber ansonsten war ich ein Taugenichts, der zuviel gegessen und Bier getrunken hat. Zwar wurde ich nicht zum Alkoholiker, aber im Jahr 2007 bezahlte ich meinen Versuch, mein Übergewicht von mehr als 140 Kilo mit einer Flasche Wodka und ein paar Flaschen Bier pro Tag zu reduzieren, mit fünf Tagen im Koma und sieben Punkten auf der Glasgower Komaskala. Die wird von fünfzehn rückwärts gezählt, und ab Stufe fünf gilt man als praktisch tot. Es waren also nur zwei Punkte, die mich damals vom Tod trennten. Nachdem ich aus dem Koma aufgewacht war, verbrachte ich drei Wochen auf der internen Abteilung des Landeskrankenhauses Vöcklabruck. Danach ging ich wieder nach Hause und erholte mich schnell. Schon bald konnte ich wieder problemlos gehen und verbrachte ein sehr schönes Jahr 2008, in dem ich im Sommer fast jeden Tag am Attersee war und viel schnorchelte. Mit meiner Mutter besuchte ich oft ein kleines Gasthaus, wo wir zu Abend aßen, und das ganze Jahr verbrachte ich viel Zeit mit schreiben, zeichnen und malen.
Ich weiß nicht, wie ich mich selbst am besten beschreiben soll. Nach außen hin wirke ich ziemlich ruhig, innerlich bin ich aber meistens angespannt und oft nervös, insbesondere, wenn es mir schlecht geht und dann irgendwelche Kleinigkeiten schief laufen. Leider neige ich auch dazu, ein ängstlicher Mensch zu sein. Gerade was meine Krankheit betrifft, erlebe ich immer noch Momente, in denen ich nicht besonders zuversichtlich bin. Ich habe reichtige Angstanfälle erlebt, und auch jetzt passiert das noch gelegentlich. Eine schwere Krankheit ist auch eine Egokränkung.
Ich bin kein besonders mutiger Mensch, nicht sehr unternehmungslustig und eher verschlossen. Das liegt zu einem großen Teil natürlich an den Erlebnissen meiner Jugend. Dass ich mich immer unverstanden und nie richtig akzeptiert gefühlt habe, hat mich natürlich seit meiner Kindheit geprägt und dazu geführt, dass ich mich immer mehr nach innen gekehrt habe. Auch heute noch lebe ich mit dem Gefühl, dass andere Menschen mich irgendwie seltsam finden und nicht wirklich mögen. Eigentlich war ich immer ein Außenseiter. Das lag auch an meinem Interesse für Film, Literatur, Kunst, Filmmusik, zeichnen und malen. Niemand, den ich in meinem Leben kennengelernt habe, interessierte sich auch nur annähernd für diese Dinge. Zumindest nicht im selben Ausmaß wie ich.
So war ich allein mit meinen Interessen, nur zu Hauptschulzeiten traf ich mich mit Freunden, und wir sahen uns Videos an. Filme, die ich damals sehr liebte und die ich heute nicht mehr sehen will, weil sie mich an schöne, unbeschwerte Zeiten erinnern, die unwiederbringlich verloren sind. »Krieg der Sterne«, »Jäger des verlorenen Schatzes« und »Blade Runner« sind einige meiner damaligen Lieblingsfilme. Aber besonders identifiziert habe ich mich mit James Bond, und der Film, der bis heute für mich der Film ist, in dem ich mich wiederzuerkennen glaube ist »Der Elefantenmensch«. Früher wollte ich Regisseur werden und solche Filme drehen. Einer der vielen verlorenen Träume.
In der Literatur ist es besonders Ernest Hemingways Roman »Der alte Mann und das Meer«, den ich schon als Kind gelesen habe und dessen Geschichte vom alten Fischer Santiago, der in Wahrheit gar nicht gegen einen Schwertfisch kämpft, sondern gegen sich selbst, erscheint mir heute wie ein Symbol meines eigenen Lebens. Ich habe dieses Buch auf deutsch und auf englisch gelesen, und heute lese ich es wieder und habe es immer bei mir. Als E-Book auf meinem Handy.

Mein Leben: Schulzeit

Ich sitze in einem elektrischen Rollstuhl und warte auf meine Genesung nach einer langwierigen Erkrankung mit dem Namen Guillain-Barré-Syndrom. Näheres dazu gibt es auf meiner Webseite www.gbsblog.at. Die Seite ist zwar noch im Aufbau, aber ein paar Artikel sind schon drauf. Es fällt mir schwer, über die Zeit meiner Krankheit zu schreiben. Noch bin ich nicht gesund, und ich weiß nicht, ob ich es überhaupt jemals sein werde.
Die Tatsache, dass ich im Alter von zwei Jahren von der Steiermark nach Oberösterreich gekommen bin und der Riss in den Beziehungen zu den Menschen um mich herum, haben dazu geführt, dass ich niemals ein Heimatgefühl entwickelt habe. Ich fühle mich zwar da und dort irgendwie zu Hause, aber ich weiß nicht, was Heimat ist.
Ich habe seit frühester Kindheit die Welt und die Menschen immer als Bedrohung empfunden. So fand ich in meiner Phantasie, in Büchern, Hörspielen und im Fernsehen meine Zufluchtsorte. Als ich noch jünger und gesund war, hat mir das nicht viel ausgemacht. Ich habe nach dem Motto gelebt »Meine Heimat bin ich selbst«. Aber da lag das Leben noch vor mir, die Welt war neu, und der Tod war weit entfernt.
Obwohl ich in meiner Kindheit eine schöne Zeit mit meinen Freunden verbrachte und einen halbglücklichen Glanz in den Augen bekomme, wenn ich an die Volksschule zurückdenke, habe ich doch nie ein Dazugehörigkeitsgefühl entwickelt. Ich war zwar kein Außenseiter, aber auch nie ein vollwertiger Teil einer Gruppe. Ich hatte keinen Freundeskreis, sondern eher einen Freundeshalbkreis. Auch das hat sich nie geändert.
Die Volksschulzeit kann ich kurz zusammenfassen: lernen, basteln, schnapsen. Aber in diesen drei Wörtern steckt der ganze Glanz eines wundervollen Kinderlebens. Trotz allem. Danach kam ich ins Gymnasium in Vöcklabruck, und das war ein Moment den ich aus heutiger Sicht als das Ende meines Lebens bezeichne. Man sagt ja, das Sterben beginne mit der Geburt, aber zumindest jetzt habe ich das Gefühl, dass mein Sterbeprozess mit dem Eintritt ins Gymnasium begann. Nicht körperlich, aber seelisch.
Ich fühlte mich in dieser Schule nicht nur nicht wohl, ich war dort vollkommen verloren. Ich fand keine neuen Freunde, konnte mich nicht auf den Lehrstoff konzentrieren, war dick und unsportlich und wurde schnell zum Außenseiter. Zu allem Überfluss erkrankte ich noch an etwas, das nie einwandfrei diagnostiziert wurde. Ich entwickelte Kopfschmerzen, Übelkeit, Angst- und Zwangsvorstellungen und eine Unfähigkeit, leserlich zu schreiben. Das begann praktisch über Nacht. Ich hatte auf einmal Vorstellungen, wie die Befürchtung, etwas Schreckliches würde passieren, wenn ich nicht ein paar Schritte zurückgehe. Ich dachte mir, ich könne mit meinen Blicken Menschen die Köpfe abschneiden oder es würde Unglück bringen, wenn ich über das Unglück rede. Wodurch diese Erkrankung ausgelöst wurde, weiß ich nicht. Aber ich erinnere mich daran, dass ich damals als Haustier eine Tanzmaus hatte. Dieses Tier muss sich selbst einen Virus oder ein Bakterium eingefangen haben. Die Maus begann plötzlich zu zittern, unkoordinierte Bewegungen zu machen, sie wie im Wahn im Kreis zu drehen und ist schließlich nach einigen Tagen gestorben. Ich habe mit der Tanzmaus oft gespielt und sie in die Hände genommen. Zwar kann ich mich nicht daran erinnern, von ihr gebissen worden zu sein, aber vielleicht hat sie mich gekratzt oder den Krankheitserreger auf eine andere Art übertragen.
       Meine Krankheit ging zwar wieder vorbei, aber sie führte dazu, dass ich drei Monate nicht zur Schule gehen konnte. Obwohl ich danach wieder gesund war und schließlich die erste Klasse Gymnasium wiederholte, ging es so weiter wie gehabt, nur ohne Krankheit. Ich war schlecht in der Schule, und eines Tages empfahl ein Mathematik-Narchhilfelehrer, ich solle doch in die Hauptschule wechseln. Gesagt, getan.

Mein Leben: Kindheit

Über das eigene Leben schreiben. Eine große Herausforderung.
        Ich habe mir vorgenommen, den Verlauf meines Lebens in einer kurzen Übersicht zu schildern und stelle fest, dass es mir sehr schwer fällt, obwohl ich seit 25 Jahren Tagebuch schreibe. Meine Tagebücher habe ich noch alle, aber es wäre zu umständlich, sie zusammenzufassen und vor allem, sie zu lesen und das Wichtigste herauszufiltern. Also habe ich mich dazu entschlossen, von vorne anzufangen.
Genau genommen beginne ich in der Gegenwart. Heute ist der 4. September 2014, es ist 15:26. Ich sitze in einem elektrischen Rollstuhl an einem langen Schreibtisch in meinem Zimmer im Behindertendorf Assista Altenhof am Hausruck in Oberösterreich. Draußen ist es bewölkt, aber die Sonne scheint ein bißchen, ich höre in den Bäumen vor meinem Balkon einen Vogel zwitschern, und irgendwo in der Ferne wird gehämmert.
Während ich hier sitze und mit dem Zeigefinger meiner linken Hand diese Zeilen in die Bildschirmtastatur eines Tablet-Computers tippe, weiß ich, dass ich gute Chancen habe, aus dem Rollstuhl wieder rauszukommen, obwohl ich seit über einem Jahr am Guillain-Barré-Syndrom erkrankt bin. Das ist eine Lähmung, die durch eine bakterielle Infektion entstanden ist, und die durch eine zu starke Reaktion meines Immunsystems die Isolierschicht der Nerven beschädigt hat. Als Folge wachte ich Anfang Juni 2013 auf der Intensivstation des Landeskrankenhauses Vöcklabruck auf und war vom Hals abwärts vollständig gelähmt.
Hier ist eine Zusammenfassung meines Lebens von meiner Geburt bis heute. Es fällt mir selbst schwer, alles zu glauben und zu verstehen, was auf den folgenden Seiten steht, aber ich versichere: Alles, was hier steht ist wahr. Ich habe nichts beschönigt oder verharmlost.
Geboren wurde ich am 29. August 1969 in Mariazell in der Steiermark. Meine ersten zwei Lebensjahre verbrachte ich dort in einem kleinen Haus mit Garten. Erinnerungen habe ich daran natürlich keine. Es muss ein Idyll gewesen sein, denn meine Mutter, Elfriede Pärm, hat es mir so geschildert. Ich war ein fröhliches und aufgewecktes Kind, und meine Mutter hat mich, meinen Vater und unser Leben in Mariazell sehr geliebt. Damals müssen wir alle sehr glücklich gewesen sein.
        Mein Vater war Arzt und ein gebürtiger Este aus Tallinn. Meine Mutter war aus Fohnsdorf in der Steiermark.
Papa arbeitete als Arzt im Krankenhaus von Mariazell, aber 1971 bekam er das Angebot, eine eigene Praxis auf dem Land in Oberösterreich zu betreiben. Meine Eltern entschlossen sich, mit mir Mariazell zu verlassen, sehr zum Leidwesen meiner Mutter, die die Trennung von dieser kleinen Stadt und der Steiermark nie überwunden hat. Auch mein Vater hat in Seewalchen nie Freunde gefunden.
Meine Kindheit verbrachte ich in Seewalchen am Attersee in Oberösterreich, wie auch den größten Teil meines Lebens. Mein Vater war praktischer Arzt und meine Mutter Diplomkrankenschwester. Papa hatte eine Praxis in Seewalchen, und ich bin in meiner Kindheit und Jugend oft mit ihm zur Patientenvisite gefahren. Das habe ich geliebt. Besonders auf den Bauernhöfen hat es mir gefallen. Ich mochte aber auch seine Patienten sehr gerne, besonders die älteren Damen, die einen viel zu hohen Blutdruck hatten, weil sie so gerne Kaffee tranken und salzigen Speck aßen. Ich erinnere mich noch gut an die einfach eingerichteten Stuben mit den Küchentischen, den Sprüchekalendern an der Wand, den Kredenzen mit buntem Geschirr und Kaffeetassen und den alten holzbetriebenen Öfen, auf denen oft eine Schüssel mit kochender Milch stand.
        Ich sah meinem Vater beim Blutdruckmessen mit Stethoskop und einem alten Apparat mit Pumpe und Quecksilbersäule zu. Ich fand seinen Beruf sehr interessant, aber Arzt werden wollte ich nie.
Zu Hause spielte ich in unserer Mietswohnung mit Legosteinen, Schlümpfen und im Hof zwischen den Häusern mit meinen Freunden und Big-Jim-Figuren. Wir spielten Winnetou und bauten Burgen in der Sandkiste. Wir holten uns im Sommer Eis aus dem Wirtshaus, und im Winter bauten wir Iglos.
Es wäre eigentlich eine normale Kindheit gewesen, wenn nicht ein Schatten über meinem sorglosen Leben gelegen hätte. Es war der Schatten böser Menschen. Zumindest empfand ich sie damals als böse, und daran hat sich bis heute nichts geändert. Meine Mutter hatte eine Feindin. Es war eine Nachbarin, die mit ihrem Mann in der Wohnung über uns lebte. Diese Frau hat meine Mutter jahrelang verfolgt, verleumdet und andere Nachbarn gegen sie aufgehetzt. Das hat zwar nicht bei allen geklappt, aber bei manchen fiel der Hass dieser Frau auf meine Mutter auf fruchtbaren Boden. Woher dieser Hass kam, weiß ich bis heute nicht, nur, dass diese Frau bei uns als Aufräumerin gearbeitet und ein paar Dinge gestohlen hat. Kleinigkeiten, wie Teile von Schmuck und Bücher. Als ich noch sehr klein war hat diese Frau auf mich aufgepasst, während Mama in der Ordination meines Vaters als Krankenschwester arbeitete. Eines Tages kam sie zu Mittag von der Arbeit nach Hause. Ich saß in meinem Gitterbett, weinte und war mit einem Berg Spielsachen überhäuft. Meine Mutter war entsetzt, zerstritt sich mit der Nachbarin, und so begann die Zeit der Verfolgung, die dazu führte, dass sich meine Mutter das Leben nehmen wollte. Ich erinnere mich daran, wie Mama immer geweint hat, wenn ich von der Volksschule nach Hause kam. Lange Zeit war sie nervlich völlig am Ende.
Hier ein paar Beispiele der Geschichten, die unsere Nachbarin über meine Mutter in Seewalchen und rund um den Attersee erzählt hat: Sie hätte Verhältnisse mit mehreren Männern, sei Kommunistin, spioniere in Fabriken, würde beim Nachhilfeunterricht, den sie zeitweilig gegeben hat, Schüler verführen, handle mit Drogen und Medikamenten, führe Abtreibungen durch und zerstückele kleine Kinder.
Ich glaube, ich muss nicht extra erwähnen, dass nichts von all diesen Anschuldigungen wahr war.
        All das, die Verzweiflung meiner Mutter, die Machtlosigkeit meines Vaters, dagegen etwas zu unternehmen und die enge Freundschaft vieler Leute zu dieser Nachbarin und ihrem Mann, führte dazu, dass ich in einem Klima der Entfremdung und Bedrohung aufwuchs. Ich hatte zwar nie Probleme mit meinen Freunden oder anderen Menschen aus der Gemeinde, ich würde meine Kindheit sogar als glücklich bezeichnen, aber ich fand nie ein Urvertrauen in die Gemeinschaft, in der ich lebte. Das ist bis heute so geblieben. Die einzigen beiden Menschen, denen ich bedingungslos vertraute, und von denen ich mich verstanden und geliebt fühlte, waren meine Mutter und mein Vater. Beide haben mich in meinem Leben nur ein einziges Mal enttäuscht: Als sie gestorben sind. Mein Vater am 6. September 2001 nach einem Herzinfarkt und einer Darmoperation und meine Mutter am 15. August 2014 an den Folgen eines Herzklappenfehlers. Mein Vater wurde 79, meine Mutter 81 Jahre alt. Ich bin jetzt 45. Es ist erst drei Wochen her, dass Mama gestorben ist, und heute ist Papas Todestag.

Samstag, 4. Oktober 2014

Wenn Sie an GBS leiden

Wenn Sie an GBS leiden, kann ich Ihnen nur raten: Verzweifeln Sie nicht! Ich weiß, wie abgedroschen und allgemein dieser Rat ist, aber das ist es, worauf es hinausläuft: Nicht aufzugeben, geduldig zu sein und den Mut nicht zu verlieren. Wenn Sie Sätze wie »Es wird schon wieder!« oder »Kopf hoch!« schon nicht mehr hören können, wenn Ihnen die Blase vom Dauerkatheter weh tut, wenn Ihre Hände sich einfach nicht bewegen wollen, obwohl Sie ihnen gut zureden und sie darum bitten, ja sogar anflehen, sich endlich zu bewegen, denken Sie daran, dass sich Ihr Zustand bessern wird. Ganz bestimmt. Denken Sie vielleicht auch daran, dass diese Zeilen ein GBS-Patient mit seinen beiden Zeigefingern auf einem Tablet schreibt. Nicht in der Affengeschwindigkeit, in der er früher im Zehnfingersystem auf dem Laptop getippt hat, aber doch so schnell, dass 500 Wörter in einer halben Stunde für ihn kein Problem sind. Vor etwa acht Monaten konnte ich noch nicht einmal normal essen und brauchte eine Ewigkeit, um ein bißchen Kartoffelstampf oder zurechtgeschnittene Fleischstücke mit einer Gabel oder einem Löffel zu essen. Dabei saß ich, halb liegend, in einem Krankenbett mit aufstellbarem Rückenteil, und an meinem Teller war ein Plastikring befestigt, damit ich die Nahrung besser aufnehmen konnte. Damals war ich auf Reha, hatte also das Schlimmste schon hinter mir.
   Jetzt sitze ich in einem elektrischen Rollstuhl an einem breiten Schreibtisch in meinem Zimmer in einem Behindertendorf in Österreich. Ich kann schreiben, problemlos essen, Flaschen zur Hand nehmen und daraus trinken, und fast jeden Tag entdecke ich an mir neue Fähigkeiten, über die ich vor einem Jahr noch gelacht hätte, wenn alles nicht so traurig gewesen wäre. Wenn mir damals jemand gesagt hätte, du wirst in einem Jahr mit einem Handrolli ins Esszimmer fahren und mit einem E-Rolli in der Gegend herumdüsen und das schöne Wetter genießen, hätte ich ihm den Vogel gezeigt. Wenn ich gekonnt hätte.
   Heute Nacht, kurz nach Mitternacht, konnte ich mich in meinem Bett zum ersten Mal selbstständig aufsetzen. Ohne technische Hilfsmittel, wie Hebelifter, Gurt oder aufstellbares Rückenteil. In den tagen davor hatte ich schon einige Male daran gedacht, es einfach einmal zu versuchen. Eine junge Frau von einer Versicherung hatt mich gefragt, ob ich mich im Bett alleine aufsetzen könne. Ich verneinte und dachte mir in diesem Moment: »Das könnte ich eigentlich einmal probieren.«
   Heute habe ich es probiert, und es gelang mir mühelos, ohne die geringste Anstrengung. Auf einmal - einfach so - saß ich in meinem Bett, die Arme nach vorne ausgestreckt und konnte es nicht glauben. Wie oft bin ich als Kind so im Bett gesessen und habe mit Legosteinen gespielt oder in Bilderbüchern geblättert? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich es länger als ein Jahr nicht mehr konnte, und jetzt kann ich es wieder. Nachdem ich vor einem Jahr noch nicht einmal meine Arme neben mir ausstrecken konnte, wenn sie auf meiner Brust lagen. Wie sehr habe ich es monatelang immer wieder versucht, habe meine Schultern so gut ich konnte angespannt, um meine Arme neben meinen Oberkörper zu wuchten. Es war vergeblich. Ich hatte nicht die geringste Chance. Oft ist mir ein Arm über den Rand der Matratze gefallen. Dann wachte ich entweder durch den Ruck auf oder schlief so weiter, während das Blut in meine Finger floss. Dann träumte ich, meine Hände normal bewegen zu können. Ich zeigte es einer Krankenschwester, und die sagte zu mir im Traum: »Gar nichts können Sie. Schauen Sie hin. Ihr Arm liegt gelähmt neben Ihnen.« dann blickte ich auf meine Körperseite und sah, dass ich zwei rechte Arme hatte. Einer war angehoben und bewegte sich, der andere lag regungslos unter ihm und sah aus, als sei er tot. Diesen Traum hatte ich oft. Jetzt deute ich ihn so, dass mein Optimismus, meine Hoffnung, wieder gesund zu werden, sofort von einem negativen Gedanken zerstört wurde.
   Nein, nicht zerstört, aber weggedrängt. Die Angstgedanken hatten bei mir die Macht, jede aufkeimende Freude, jeden kleinen Hoffnungsschimmer sofort mit ihrem abgrundtiefen dunklen Maul zu verschlingen. Trotzdem habe ich die Hoffnung nie aufgegeben. Sie kam aus dem Rachen der Furcht immer wieder hervor. Wie Jonas aus dem Bauch des Wals. Oder Pinocchio.
   Tun Sie alles, was Sie können, um nicht in diesen Abgrund der Angst zu fallen. Nehmen Sie jede Hilfe an. Reden Sie über ihre Ängste, bitten Sie um Hilfe. Es gibt Entspannungstechniken, mit der man die Angst behandeln kann. Ganz verschwinden wird sie wohl nie, aber man kann diesem Ungeheuer die Zähne ziehen. Ich werde später mehr über den Umgang mit Angst und Panikattacken schreiben.
   Was mir oft geholfen und meine Angst gelindert hat, ist ein Rat, den mir eine Psychologin gegeben hat: Schließen Sie Ihre Augen, entspannen Sie sich, atmen sie ruhig und denken Sie sich dabei immer wieder den Satz »Ich beobachte meine Angst und bin dadurch mehr als meine Angst.« wenn man diese Technik einige Male übt, nicht locker läßt und nicht anzweifelt, dass sie funktioniert, ist sie ein gutes Werkzeug, um die Angst in den Momenten, in denen sie einen aufzufressen droht, kleiner zu machen. Die Angst verliert dadurch ihre allumfassende Macht und das Gefühl der völligen Hilflosigkeit verschwindet. Vielleicht nicht sofort und ganz sicher nicht für immer, aber es wird so trübe und unscheinbar wie ein Flirren auf heißem Asphalt. Und je mehr man sich der Angst nähert, desto mehr löst sie sich auf.
   Diese Methode der neutralen Angstbeobachtung hat mich immer zumindest ein Stück von meiner Angst entfernt. Die Angst war dann nicht mehr größer als ich, sie schwebte nicht mehr über mir wie ein Damoklesschwert, sonder war irgendwo vor und unter mir, und wenn ich die Angst mit Formen und Farben beschreibe, würde ich sage, die Angst war nicht mehr eine große, fast schwarze Wolke, die sich über mich legte, sondern sah eher aus wie eine schmutzige graue Rauchschwade. Und sie war nicht mehr undurchdringlich, sondern wurde an vielen Stellen durchsichtig.
   Und glauben Sie mir: Ein durchsichtiges Monster verliert viel von seinem Schrecken.

Markus Gregory Pärm
(Geschrieben am 13. August 2014 in Altenhof, Oberösterreich)