Samstag, 28. März 2015

Faktencheck GBS

Heute möchte ich das optimistische Denken in den Vordergrund stellen. Ich verwende bewusst diesen Ausdruck, weil ich die Bezeichnung Positives Denken nicht besonders mag. Das ganze dahintersteckende System hat für mich etwas Zwanghaftes. Wenn es mir schlecht geht und ich versuche, positiv zu denken, bewirkt das gar nichts. In Notsituationen und seelischen Krisenmomenten halte ich mich lieber an die Vernunft und führe mir die positiven Fakten vor Augen, anstatt mich mit Luftschlössern zu vertrösten
Vielleicht habe ich die Technik des Positiven Denkens aber noch nicht gründlich genug durchstudiert und ausprobiert und habe daher ein falsches Bild. Wenn es Ihnen hilft oder wenn Sie von Natur aus ein positiv denkender Mensch sind, bleiben Sie dabei. Und falls Sie zu den Menschen gehören, die stets das Gute sehen und das Schlechte gar nicht in ihr Bewusstsein vordringen lassen, wenn Ihre Grundnatur eine positive Lenbensphilosophie ist, sagen Sie mir bitte, wie Sie das machen. Hinterlassen Sie einfach einen Kommentar hier auf meinem Blog oder schreiben Sie mir eine E-Mail. Ich würde mich wirklich freuen.
Doch zurück zu meinen Optimismus-Fakten. Ich habe für diesen Artikel all das zusammengetragen, was ich über die Heilungsaussichten bei Guillain-Barré-Syndrom im Internet gefunden habe. Lassen Sie sich von Daten wie 8% Sterblichkeit nicht beunruhigen. Die Mortalität liegt in der Plateauphase, also am Höhepunkt der Erkrankung. Und 8% Sterblichkeit bedeutet ja auch, dass 92% der Erkrankten überleben. Einer davon bin ich. Und Sie, falls Sie dies hier im Diesseits lesen. Einige der Daten sind zudem widersprüchlich, aber ich zitiere ja nur. Insgesamt geben die hier genannten Zahlen einen guten Überblick.
Sinn dieses Artikels ist es, Ihnen Mut zu machen. Falls Sie selbst am Guillain-Barré-Syndrom erkrankt sind, einen betroffenen Angehörigen oder Bekannte haben, die an GBS leiden, kann Ihnen diese kurze Auflistung von positiven GBS-Fakten vielleicht Hoffnung spenden, besonders, wenn Sie im Anfangsstadiums der Krankheit sind oder, so wie ich, nach eineinhalb Jahren den Eindruck haben, dass Sie mit Ihrem E-Rolli in eine Sackgasse gefahren sind.
Die Sackgassen erschafft man sich selbst. Der Weg ist da. Man muss ihn nur entlangrollen, bis man am Ende des Krankheitsweges wieder gehen kann.
Hier ist das Ende der Sackgasse. Können Sie die Aufschrift am Asphalt lesen?
Exit.


GBS-Faktencheck:

• Die Erkrankung entwickelt sich zumeist über Tage und dauert Wochen bis Monate, mit langer Rekonvaleszenzphase. Bei einem Fünftel der Erkrankten bleiben Ausfälle bestehen, 

• Die Letalität beträgt ca. 5 %. 

• Rückfälle (Rezidive) werden nur ganz selten beobachtet.

• Ein Prognosefaktor ist die Beatmungsabhängigkeit während der Akutphase. Bei Patienten, die in der Akutphase beatmet werden müssen, liegt die Mortalität bei 5,5% in der Akutphase und bei 13,6% innerhalb einer Zeit von 52 Monaten.

• Die Krankheitssymptome verschlechtern sich definitionsgemäß nicht länger als vier Wochen (Lit.: Leitlinie). Zwei bis vier Wochen nach dem Höhepunkt der Symptome beginnt deren Rückbildung, die dann Monate oder Jahre dauern kann.

• Je ausgeprägter die Lähmungen und je länger der Verlauf, desto schlechter ist die Prognose. Das Guillain-Barré-Syndrom kann bis zu seiner maximalen Ausprägung voranschreiten, bei der die betroffenen Menschen zwar auch bei vollem Bewusstsein bleiben, aber komplett gelähmt werden. Sie können nur durch intensivmedizinische Behandlung am Leben erhalten werden.
(Quelle: https://de.m.wikipedia.org/wiki/Guillain-Barré-Syndrom)


• Weniger als 10 % der Betroffenen versterben infolge akuter Komplikationen:
     • kardiale Arrhythmien
     • respiratorische Insuffizienz infolge der Atemlähmung
     • schwere Lungenembolie nach Beinvenenthrombose (Bettlägerigkeit)

• Unter Behandlung bilden sich die Symptome bei ca. zwei Dritteln der Erkrankten vollständig zurück (Remission).
(Quelle: http://flexikon.doccheck.com/de/Guillain-Barré-Syndrom#Prognose)


• Die Erholung dauert Wochen bis Monate.

• Die neurologischen Ausfälle bilden sich in umgekehrter Reihenfolge zurück. Die Letalität (Sterblichkeit) liegt unter 5%.

• Prognostisch ungünstig ist eine über einen Monat dauernde Beatmungspflichtigkeit. 

• In ca. 70% der Fälle heilt das Guillain-Barré-Syndrom mit motorischen Schwächen und Reflexdefiziten aus, aber ohne Beeinträchtigung des Alltagslebens.

•  5 - 15% der Patienten behalten beeinträchtigende Behinderungen.

•  Ca. 4%  der Patienten erleiden nach Monaten oder Jahren einen erneuten Ausbruch der Krankheit (Rezidiv).
(Quelle: http://www.dr-gumpert.de/html/guillain-barre-syndrom.html)


• In der Plateauphase des GBS sind Bewegungseinschränkungen und sonstige Symptome zumeist schwer.

• Der weitere Verlauf der Erkrankung ist bei der großen Mehrheit der Patienten günstig: 

• Rückbildung der Symptome bei  ca. 70% der Patienten.

• Die vollständige Genesung kann viele Monate in Anspruch nehmen. In manchen Fällen kann die Rückbildung der Beschwerden unvollständig sein. Ein Jahr nach der Erkrankung klagen ein Drittel der Patienten noch über Schmerzen. 

• Ca. 20% der Patienten bleiben dauerhaft behindert. 

• Die Sterblichkeit liegt bei ca. 8% der Erkrankten.

• Für den Großteil der GBS-Patienten bedeutet die Erkrankung eine Einschränkung oder Umstellung ihres Lebens. 

• Schwere Langzeitkomplikation durch Atem- und Herz-Kreislaufprobleme sind möglich.

• Thrombosen (Blutgerinnsel) durch die lange Bettlägrigkeit, die die Gefäße verschließen kann (Tiefenvenenthrombose TVT, Lungenembolie). 

• Kinder und Jugendliche haben selten Langzeitschäden. Leichte Störungen können bestehen bleiben. Darum ist der Verlauf bei Kindern meist günstiger.

• Das Guillain-Barré-Syndrom kann wiederholt auftreten und Übergänge in eine chronische Verlaufsform sind auch Jahre später noch möglich.
(Quelle: http://www.netdoktor.de/krankheiten/guillain-barre-syndrom/#TOC6)


• Depressive Störungen sind häufig. Die Verarbeitung der akut aufgetretenen und schwer beeinträchtigenden Erkrankung, das Erleben der Hilflosigkeit und Pflegeabhängigkeit.

• Veränderungen durch die Erkrankung oder Bedrohung der beruflichen und familiären Zielsetzungen erforden psychologische Hilfe.
(Quelle: http://www.guillainbarre-syndrom.de/rehabilitation/)



Quellen:
https://de.m.wikipedia.org/wiki/Guillain-Barré-Syndrom
http://flexikon.doccheck.com/de/Guillain-Barré-Syndrom#Prognose
http://www.dr-gumpert.de/html/guillain-barre-syndrom.html
http://www.netdoktor.de/krankheiten/guillain-barre-syndrom/#TOC6
http://www.guillainbarre-syndrom.de/rehabilitation/

Samstag, 21. März 2015

Meine Seele hinkt

Heute möchte ich über ein Thema schreiben, das mich schon seit dem Beginn meiner Erkrankung am Guillain-Barré-Syndrom beschäftigt. Das war vor eineinhalb Jahren. Seitdem schwelt es unter der Oberfläche und will jetzt offenbar zum Vorschein kommen.
Es geht um die Scham.
Damit meine ich aber nicht die natürliche Scham vor Nacktheit. Nackt zu sein bin ich inzwischen gewöhnt. Seit Juni 2013 werden an mir Untersuchungen durchgeführt, einzelne Teile meines Körpers wurden zu Dokumentationszwecken fotografiert, und ich bin nach wie vor pflegebedürftig, zumindest teilweise. Ich kann mir den Oberkörper zwar selbst waschen, nicht aber den Intimbereich, den Rücken und die Beine. Ich könnte es zwar mit vielen Verrenkungen, bin aber froh, dass es für mich gemacht wird. Dazu kommen noch die Katheter- und Stomapflege.
All das hat es mir schon sehr früh auf der Intensivstation abverlangt, jegliches Schamgefühl abzulegen. Interessanterweise fiel mir das nicht einmal schwer. Ich hatte ja auch keine andere Wahl. Sollte ich mich genieren, wenn junge Krankenschwestern meinen nackten Körper sahen und wuschen? Nein. Das habe ich nie getan. Dafür war mein Nervenkostüm viel zu löchrig. Selbst das Wechseln oder Saubermachen des Stomas im Beisein der Zimmerkollegen hat mich nicht gestört. Es war nunmal notwendig. Das ist es auch heute noch, obwohl ich hier im Behindertendorf in Altenhof ein eigenes Zimmer habe.
Nein, es ist nicht die Scham vor der Entblößung meiner intimsten Körperstellen, es ist etwas anderes. Etwas, womit ich nicht gerechnet habe, als ich noch im Krankenhaus auf der Intensivstation und auf der Neuro lag. Es begann erst im Reha-Zentrum am Gmundnerberg, aber selbst dort war es noch nicht so ausgeprägt wie jetzt. Mittlerweile belastet es mich doch sehr, und ich mache mich dadurch selbst zum Aussenseiter.
Es ist die Scham vor der Genesung.
Ich habe in einem früheren Blogartikel schon über die Angst vor dem Gesundwerden geschrieben. Über die ganzen Veränderungen, die dann auf mich zukommen werden und die Ungewissheit, was mir die Zukunft bringen wird. Aber Angst ist nur ein Teil des Gefühls, das ich gegenüber meinem Heilungsprozess habe. Vielleicht ist sie nicht einmal der bedeutendste Teil.
Viel wichtiger, weil so schwer zu begreifen, sind die Schuldgefühle, die ich bei der Aussicht auf Gesundung habe. Ich habe die besten Chancen, aus dem Rollstuhl wieder rauszukommen. Ich müsste nur mehr und etwas härter trainieren, mich mehr bemühen und richtig anstrengen.
Aber das tue ich nicht.
Gut, in der Vergangenheit hatte es noch körperliche oder technische Gründe. Entweder fühlte ich mich noch nicht sicher genug oder hatte Probleme mit meinem Katheter, der mir dann äußerst unangenehme Gefühle bescherte. Das hat mich davor zurückschrecken lassen, mich vor die beiden Stützstangen im Bad zu stellen, aufzustehen und meine Schrittübungen zu machen. Inzwischen habe ich festgestellt, dass das Training keine Probleme körperlicher oder technischer Art verursachen. Auch meine Unsicherheit und die Angst zu fallen sind weg.
Ich glaube, dass ich unterbewusst mein Training sabotiert habe, weil ich befürchtet habe, zu schnell wieder auf die Beine zu kommen. Diese Befürchtung habe ich jetzt noch.
Aber warum?
Ich möchte noch einmal kurz meine gegenwärtige Lebenssituation und mein Umfeld beschreiben. Ich habe das zwar schon in anderen Blogartikeln getan, aber zum besseren Verständnis dieses Textes hier eine kurze Übersicht.
Ich, Markus Gregory Pärm, 45 Jahre alt und im Jahre 2013 am Guillain-Barré-Syndrom erkrankt, lebe in einem kleinen Dorf für Menschen mit Beeinträchtigungen in Altenhof am Hausruck in Oberösterreich. Offiziell wird das Wort Beeinträchtigung verwendet, aber Behinderung oder Behinderter darf man auch sagen. Seit gut einem Jahr bin ich jetzt hier, habe hier meine größten Erfolge, meine schlimmsten Ängste und den furchtbarsten Moment in meinem Leben erlebt.
Hier, in Altenhof, bin ich zum ersten Mal selbstständig und aus eigener Kraft aus dem Rollstuhl aufgestanden, hier habe ich meine ersten zögerlichen drei Schritte gemacht, hier habe ich viele wunderbare Menschen kennengelernt, die mich entweder pflegen oder therapieren oder aber selbst hier wohnen, hier habe ich Angstanfälle, Depressionen und Schmerzen kennengelernt, und hier habe ich über die Mailbox meines Handys von meinem Bruder erfahren, dass meine Mutter gestorben ist.
In den gesamten 44 Jahren davor habe ich nicht so viele außergewöhnliche, beängstigende, hoffnungsvolle, schöne, schreckliche und todtraurige Dinge erlebt wie hier, im Behindertendorf Altenhof.
Ich kann nicht sagen, dass das Dorf zu meiner Heimat geworden ist, ich fühle mich hier auch nicht als Fremder, aber ich unterscheide mich von allen anderen Bewohnern in Altenhof in einem wesentlichen Punkt:
Ich bin gekommen, um zu gehen.
Wortwörtlich.
Ich bin hier, um aus dem Rollstuhl aufzustehen und das Gehen wieder zu erlernen. Die anderen Menschen hier im Dorf haben diese Möglichkeit nicht. Zumindest nicht, soviel mir bekannt ist. Immer wieder versterben Bewohner. Fast jede Woche sehe ich eine schwarze Fahne am Fahnenmast vor dem Haus. Ich begegne hier vielen leidenden, aber auch unglaublich optimistischen und lebensfrohen Menschen. Mein Ergotherapeut Johannes hat mir kürzlich gesagt, dass er niemanden hier im Dorf kennt, der sich selbst als krank bezeichnen würde. Ich will es ihm glauben, obwohl es für mich sehr schwer vorzustellen ist.
Dieser Umstand, dass ich der Einzige hier bin, der wieder gesund wird, hat dazu geführt, dass ich mich doch weitgehend isoliere und in mich selbst zurückziehe. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch! Das liegt nicht an den Menschen hier, sondern ausschließlich an mir selbst.
Worüber soll ich mit einem schwer behinderten Menschen reden? Soll ich ihm von meinen Fortschritten erzählen und dass ich inzwischen problemlos aus dem E-Rolli aufstehen kann, vorausgesetzt ich habe etwas zum Abstützen und festhalten? Soll ich damit prahlen was ich wieder alles kann, wie zum Beispiel einen Viererpack 1, 5-Liter-Flaschen Cola aufzuheben, wo ich doch vor eineinhalb Jahren noch nicht einmal einen leeren Joghurtbecher auch nur einen Millimeter über die Tischplatte heben konnte, weil die Lähmung noch zu stark und die Muskeln noch zu schwach waren?
Das kann ich nicht. Und das will ich auch nicht. Aber früher oder später würde es in einem Gespräch wohl passieren, oder man würde mich fragen. Was soll ich dann erzählen? Was für ein unbeschreiblich schönes Gefühl es ist, wenn die Kraft in den Beinen wieder zurückkommt? Oder auch nur der Hauch eines Gefühls auf der Haut?
Eine Bewohnerin hat mich in den letzten Monaten mehrmals darauf angesprochen, ob ich Interesse hätte, dieses Jahr nach Lourdes mitzukommen. Es wird alles von Assista organisiert, und es fliegen ein paar Dutzend Krankenschwestern mit, die sich um Katheter, Stoma, Pflege und den Rollstuhl kümmern würden. Ich habe abgelehnt, mit der Begründung, ich hätte Angst vor dem Fliegen, und das Ganze sei mir zu anstrengend. Das stimmt zwar beides, aber es ist nur ein Teil der Wahrheit.
Um geheilt zu werden, muss ich nicht nach Lourdes fliegen, ich muss nur mit dem E-Rolli ins Bad fahren, mich an die Stützstangen stellen und mein Training machen.
Aber ich tue es nicht.
Oder zumindest nur selten.
Ich weiß nicht, wie verrückt es ist, einen Genesungsschuldkomplex zu haben, aber ich weiß, dass ich ganz bestimmt einen habe. Ich habe hier Menschen gesehen, denen es im Laufe des letzten Jahres immer schlechter ging, bis sie schließlich gestorben sind. Ich hingegen werde wahrscheinlich nicht mehr sehr lange brauchen, um nicht mit dem elektrischen Rollstuhl ins Esszimmer zu fahren und mein Ragout mit Semmelknödeln in mich hineinzulöffeln, sondern auf meinen eigenen Füßen mit dem Rollator hineinzugehen.
Im Grunde ist es nur eine Frage des Trainings. Im Schweiß liegt der Unterschied zwischen üben und trainieren, hat mein Physiotherapeut Wolfgang gesagt. Er hat recht. Genau das sollte ich tun: Täglich trainieren.
Aber ich tue es nicht.
Auch hier bitte ich Sie, mich nicht falsch zu verstehen. Ich will nicht herumjammern, wie arm ich doch bin, weil es mir so gut geht und was für ein schweres Schicksal es doch ist, vom vollständig gelähmt sein wieder aus dem Rollstuhl aufstehen zu können. Aus eigener Kraft und auf eigenen Füßen, um diese Floskel zu verwenden. Zugegeben, ein prall gefüllter Stomabeutel ist eine gewisse Belastung, aber eher für alle anderen Menschen, als für mich selbst. Natürlich will ich den Stoma wieder loswerden und die Nahrung auf natürliche Art dem Kreislauf der Natur übergeben, aber solange ich ihn habe bin ich dankbar dafür. Wie oft wünscht man sich schnell eine Toilette herbei, befindet sich aber leider mitten auf einem mit Menschen angefüllten Stadtplatz oder in einem Kino? Ich weiß, dass es tragbare Toiletten gibt, aber möchten Sie sich da draufsetzen, während Sie in Salzburg über den Residenzplatz schlendern oder sich im Kino "Shades of Grey" ansehen?
Ich habe meine Campingtoilette direkt am Bauch angebracht.
Leider geil.
Doch zurück zum wahrscheinlich dümmsten Komplex der Welt: dem Schuldkomplex des Genesenden. Heilungsscham. Ich weiß, wie absurd es ist, sich dafür zu schämen, dass man wieder gesund wird, während andere krank oder behindert bleiben müssen.
Aber genau das tue ich.
Ich habe bisher mit niemandem darüber gesprochen. Ich weiß ja, was man mir sagen würde. Dass es absurd ist. Und dass ich diese Schuldgefühle nicht haben muss.
Aber ich habe sie trotzdem.
Wie genau die unterbewussten Mechanismen der Heilungsverzögerung und der Selbstsabotage funktionieren, weiß ich auch nicht. Ich weiß nur, dass ich es nicht absichtlich tue. Natürlich will ich gesund werden. Natürlich will ich wieder das Gras unter meinen Fußsohlen spüren und das Wasser des Attersees und der Adria auf meiner Haut. Ich möchte wieder einen Schneemann bauen, ein Glas Wasser mit einer Hand halten und daraus trinken ohne hinsehen zu müssen. Ich möchte wieder im Supermarkt in der Schlange stehen und mich im Bett im Halbschlaf von einer Seite auf die andere drehen. Einfach so.
Aber ich will dabei keine Schuldgefühle haben.
Ich glaube, ich bin der einzige werdende Ex-Behinderte in Altenhof. Nicht, dass das ein besonders schweres Schicksal wäre, aber es ist eine Tatsache, die mich blockiert. Und so einfach ansprechen kann ich sie auch nicht. Es gibt zwar viele Helfer, denen ich voll vertraue, aber das ist doch ein heikles Thema. Außerdem bin ich mir noch immer nicht sicher, wie bedeutend es wirklich ist.
Mein größtes Problem im Moment ist, dass ich mich selbst als gesunden Menschen noch nicht sehen kann. Es erscheint mir viel zu irreal zu glauben, dass ich einfach über den kleinen Platz zum Hauptgebäude gehen kann, oder die Straßen zwischen den Häusern entlang, hinunter zu dem kleinen Teich mit den Fischen, die aussehen wie Kois, aber keine sind. Ich frage mich, ob ich jemals das Reha-Service betreten werde. Betreten. Nicht mit dem E-Rolli hineinfahren, um den Reifendruck messen oder eine Sitzkissenanpassung machen zu lassen. Einfach reingehen, locker in die Runde grüßen, ein bisschen plaudern und mich an die alten Zeiten erinnern, als ich im Winter hierherfuhr, Angst hatte, eine Blasenentzündung oder eine Nierenbeckenentzündung zu bekommen, weil es draußen so kalt ist und ich friere und zittere und keinen Schneemann bauen kann, weil ich im Rollstuhl sitze und weil es in diesem Winter nicht schneit, sondern regnet.
Wie werde ich mich fühlen, wenn ich an den Rollstuhlfahrern vorbeigehe? Wie werden sie mich ansehen? Was werden sie denken? Sie werden sicher nicht neidisch sein, dafür schätze ich die Bewohner von Altenhof zu hoch ein.
Aber vielleicht irre ich mich.
Werde ich glücklich sein, wenn ich wieder gehen kann?
Ja, das werde ich.
Werde ich glücklich auf dem Weg dorthin sein?
Vielleicht. Wenn ich Glück habe.
Und wie überwinde ich die Scham der Genesung? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich entweder die Scham überwinden muss, oder sie wird mich niederdrücken. In den Rollstuhl, in die Depression, in die Angst vor mir selbst.
Kein sehr optimistisches Schlusswort, oder? Übrigens schreibe ich diesen Text, weil Sie sich darin vielleicht wiedererkennen. Vielleicht leiden auch Sie am Guillain-Barré-Syndrom. Oder sie kennen die Schuldgefühle des Überlebenden aus einem anderen Grund. Viele Menschen sind am Guillain-Barré-Syndrom gestorben. Ich nicht. Bin ich deshalb etwas Besseres? Sicher nicht. Oder doch? Darf ich so denken? Darf ich mich den Anderen überlegen fühlen? Den Kranken und den Toten?
Als ich auf der Intensivstation aufwachte und nicht mehr war als ein Kopf, hätte ich nie geglaubt, dass mich jemals solche Gedanken plagen würden. Ich wollte nur Eines: wieder gesund werden. Jetzt ist dieses Ziel in greifbarer Nähe, ich spüre die Zielbanderole sogar schon an meinen Fingerspitzen.
Meine Füße wollen über die Ziellinie, aber meine Seele hinkt.
Habe ich es überhaupt verdient, gesund zu werden? Im Vergleich zu anderen Menschen, denen es viel schlechter geht, die viel mehr leiden und die viel bessere und umgänglichere Menschen sind als ich.
Ich weiß, dieser Blogbeitrag ist keine große Motivation für  GBS-Leidensgenossen und andere Betroffene. Aber ich wollte einen kleinen Einblick in die schräge Gedankenwelt eines werdenden Ex-Behinderten geben. Vielleicht lesen Sie diese Zeilen selbst in einem Rollstuhl oder einem Krankenbett. Oder sie bekommen sie vorgelesen. Wie auch immer, ich hoffe, diese Zeilen spenden Ihnen ein bisschen Trost und geben Ihnen etwas Hoffnung, weil Sie sich in meiner Welt wiedererkennen.
Ich habe keine Antworten auf all die Fragen, die mich beschäftigen. Noch nicht. Vielleicht finde ich sie unterwegs. Möglicherweise nicht. Vielleicht werde ich gesund, ohne die große Weisheit zu erlangen.
Aber wenn ich auch nur den Hauch einer Antwort auf meiner Haut spüre, lasse ich es Sie wissen.
Das tue ich ganz bestimmt!

Samstag, 14. März 2015

Antibiotika - Gegen das Leben?

Was tut man, wenn man sich als Patient überfordert fühlt? Wenn man nicht weiß, ob die Entscheidung eines Arztes richtig war? Nicht, weil er nichts von seinem Metier versteht, sondern, weil er einen als Patient gerade erst kennen gelernt hat.
Mir ging es kürzlich so mit einer jungen Ärztin, die als Vertretung meines Hausarztes zu mir kam. Sie war sympathisch, verständnisvoll und strahlte eine Aura der Kompetenz aus. Ich zweifle auch gar nicht daran, dass sie auf ihrem Fachgebiet sehr gut ist. Aber mein Hausarzt kennt mich mittlerweile schon seit einem Jahr, und er weiß nicht nur, dass meine Primärerkrankung das Guillain-Barré-Syndrom ist, sondern auch, dass ich doch immer wieder mit den einen oder anderen seelischen Problemen, sprich Ängsten, zu kämpfen habe.
Kurz zusammengefasst der Grund, warum diese Ärztin bei mir auf Visite war: Ich hatte einen leichten grippalen Infekt, kein Fieber, keine Kopf- oder Halsschmerzen, aber etwas Husten und ein allgemeines Gefühl der Abgeschlagenheit. Dazu noch einen leichten Harnwegsinfekt.
Nun ist es bei Harnwegsinfekten so, dass sie sich ausbreiten und über die Harnwege das Nierenbecken infizieren können, das sich dann entzündet. Das ist eine schwere Komplikation, die tödlich enden kann. Es war nicht mein erster Harnwegsinfekt, als Träger eines transurethralen Dauerkatheters ist das unvermeidlich. Eine latente Keimbesiedlung hat man dabei sowieso ständig. Solange man aber keine Schmerzen und kein Fieber hat, ist selbst ein HWI ungefährlich.
Dieser Harnwegsinfekt war nicht mein erster in den letzten eineinhalb Jahren, aber die Angst vor einer Nierenbeckenentzündung schwebt immer über mir. Im Zuge meiner GBS-Erkrankung wäre ich schon so oft fastgestorben, dass mich der Gedanke an den Tod sehr beängstigt. Er war mir schon viel zu oft viel zu nahe.
Also neige ich dazu, immer brav ja und amen zu sagen und alles abzunicken, was mir die Ärzte empfehlen oder verschreiben. Auch ein hochdosiertes Breitbandantibiotikum über einen Zeitraum von sieben Tagen.
Das Antibiotikum hatgewirkt, keine Frage. Sowohl der grippale Infekt als auch der Harnwegsinfekt verschwanden. Jeden Tag ein bisschen mehr.
Gleichzeitig aber passierte etwas, das ich als Nebenwirkungen des Antibiotikums betrachte. Ich wurde immer depressiver und verängstigter. Noch mehr, als ich es seit dem Ausbruch meiner Krankheit sowieso schon bin. Leider gehöre ich nicht zu den Menschen, die das Negative ignorieren und sich auf das Positivekonzentrieren können. Ich sehe das Gute durchaus, aber meine Freude an Genesung und Fortschritten wird immer von dunklen Gedanken überschattet.
Es ist, als würde ein nasskalter grauer Mantel über allem liegen. Er hüllt mich ein und nimmt mir meine Bewegungsfreiheit und die Luftzum Atmen. So fühle ich mich oft, aber dieses eine Antibiotikum hat diesen Zustand offenbar noch verschlimmert. Ich lag im Bett und wareingefangen in einem erdrückenden Gefühl der Beklemmung. Es war eine Bedrohung, die auf mich lauerte, die ich aber nicht in Worte fassen konnte. Ich wusste, dass ich an dem grippalen Infekt und dem HWI nicht sterben würde, aber trotzdem war diese Furcht allgegenwärtig. Dazu kamen noch kleinere Nebenwirkung wie der Verlust meines Geruchs- und Geschmackssinns, Müdigkeit, Benommenheit, Antriebslosigkeit, Hoffnungslosigkeit, Depressionen und eine Pilzinfektion an der Haut der Oberschenkel.
All das hätte mich nicht gestört, wenn ich nicht ständig die Sense des Todes im Nacken gehabt hätte.
Aber man riet mir, das Antibiotikum über die verordnete Zeitdauer zu nehmen, also tat ich es. Zwar nahm ich mir am Abend vor dem Einschlafen vor, es am nächsten Tag abzusetzen, aber Krankenschwestern- und Pfleger sagten, es wäre besser, es zu Ende zu nehmen, damit sich keine Resistenzen bilden
Die meisten von uns kennen das: Wir haben eine entzündliche Erkrankung leichter- bis mittelschwerer Art wie eine Erkältung oder einen Harnwegsinfekt. Die Symptome sind nicht besonders stark, aber wir bekommen trotzdem Antibiotika verordnet.
Gut, zugegeben, ich weiß nich, ob Sie das kennen, aber ich genne es zur Genüge.
Nach Empfehlung der Ärzte sollte man Antibiotika mindestens sieben Tage lang einnehmen. Das vorzeitige Absetzen der Medikamente könne dazu führen, dass es zu einem Rückfall kommt, oder, dass sich Resistenzen bilden, das heisst, dass sich die Keime, die man eigentlich bekämpfen will an das Antibiotikum gewöhnen und es bei der nächsten Einnahme nicht mehr wirkt.
Nun gibt es aber Experten für Infektionserkrankungen, die diese Ansicht nicht vertreten und sogar als falsch betrachten. Einer davon ist Jan Prins vom Academic Medical Center in Amsterdam. Seiner Ansicht nach reichen bei den meisten Erkrankungen drei Tage Einnahme aus. Längeres Einnehmen eines Antibiotikums könne sogar zur Bildung von Resistenzen führen.
"Die Angst, dass semi-resistente Krankheitserreger im Körper zurückbleiben, ist unbegründet", sagt Jan Prins.
So können Sie es auf der Webseite medizinauskunft.de nachlesen. Hier der Link:
http://www.medizinauskunft.de/artikel/diagnose/krankheiten/Infektionen/13_06_antibiotika.php
Verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Was ich in diesem Blogartikel schreibe ist kein Aufruf zum Absetzen der Antibiotika, die Ihnen verordnet worden sind! Sie würden grob fahrlässig handeln, weil Sie die Folgen des Therapieabbruchs nicht abschätzen können. Aber handeln Sie eigenverantwortlich. Wenn die Nebenwirkungen sie so sehr quälen, dass sie Ihnen ein normales Leben unmöglich machen, sollten Sie sich unbedingt bemerkbar machen.
Kontaktieren Sie Ihren Arzt, sagen Sie es den Krankenschwestern und Krankenpflegern, Ihren Therapeuten oder den Menschen in Ihrem privaten Umfeld. Wenn Sie sich im Krankenhaus oder einer ähnlichen Einrichtung befinden und unter medizinischer Aufsicht stehen, beziehungsweise professionelle Hilfe jederzeit erreichbar ist, haben Sie es natürlich leichter, als wenn Sie alleine leben. Da ich noch nie in der Situation war, in medizinischen Krisenmomenten allein zu sein, kann ich Ihnen nicht genau sagen, was Sie in diesem Fall tun sollten. Auf jeden Fall sollten Sie immer die Möglichkeit haben, einen Notruf zu tätigen. Halten Sie Ihr Handy aufgeladen und griffbereit. Es gibt auch Armbänder mit einem Notrufknopf. Da erkundigen Sie sich am besten bei Ihrem Arzt.
Wenn Nebenwirkungen eines Antibiotikums oder anderen Medikaments Ihnen über Gebühr zu schaffen machen, verheimlichen Sie das auf keinen Fall. Sie müssen keine Angst haben, den Krankenschwestern oder Ärzten deswegen in den Ohren zu liegen. Man wird Ihnen gerne helfen.
Verlieren Sie das Vertrauen nicht! Denken Sie immer daran, dass professionelle Hilfe immer für Sie da ist. Machen Sie sich also bemerkbar. Und wenn sie vom Kopf bis zu den Füßen gelähmt sind und keinen Notrufknopf drücken können, schreien Sie! Auch, wenn Sie in einem Krankenzimmer sind und die diensthabende Schwester direkt vor der Tür steht.
Leider ist es so, dass viele Menschen kein Problem damit haben, nach Schmerzmitteln zu fragen, aber wenn sie seelische Probleme haben und Ängste durchleben, die einem das Gefühl geben, als wäre man in einem Eisblock eingeschlossen, haben sie plötzlich Hemmungen. Man spricht eben nicht über psychische Nöte. Die Hemmschwelle ist groß. Das war auch bei mir so. Ich habe monatelang meine Angstanfälle und quälenden Depressionen mit Worten beschrieben, wie "ich bin schlecht motiviert" oder "ich kann mich schlecht aufraffen". 
In Wirklichkeit hatte ich eine unglaubliche undefinierbare Angst. Angst davor, dass mir doch noch etwas passiert, nachdem ich schon so viel überstanden hatte. Angst, nie wieder gehen zu können. Und natürlich Angst zu sterben. Todesangst. Nicht nur als Nebenwirkung von Antibiotika oder anderen Medikamenten, sondern als ständige Begleiter auf meinem sogenannten Genesungsweg.
Körperlich ging es mir immer besser und besser, aber seelisch ging ich langsam zugrunde.
Wussten Sie, dass Antibiotika als Nebenwirkung Todesangst auslösen können? Ich auch nicht. Jetzt weiß ich es. Es ist eigentlich ja auch kein Wunder, denn das Wort Antibiotikum bedeutet "gegen das Leben".
Vielleicht sind Ängste für Männer ein größeres Problem als für Frauen. Ich glaube, dass Frauen leichter darüber reden können, aber wir Männer wollen Cowboys sein, und darum greifen wir gerne zur Flasche statt zum Telefonhörer, um Hilfe zu suchen. Früher, als ich noch gesund war, habe ich meine latenten Ängste und Sorgen, die mich nie richtig belastet haben, mit Hektolitern Bier weggespült. Das hat nicht nur meiner Figur geschadet, sondern auch meinem Selbstwertgefühl. Als ich dann am Guillain-Barré-Syndrom erkrankte und aufder Intensivstation die weiße Zimmerdecke betrachtete, war nicht nur das Bier aus meinem Leben verschwunden, sondern auch jegliches Selbstvertrauen und der Glaube an meine körperlichen und mentalen Fähigkeiten.
Ich wurde zu eine verängstigten Tier, das gewaschen und gefüttert werden musste.
Verstehen Sie bitte auch das nicht falsch. Man hat mich nicht so behandelt. Behandelt wurde ich wunderbar, sowohl medizinisch als auch menschlich, und ich werde mein Leben lang all den liebevollen und fleißigen Menschen dankbar sein, die mein Leben und meine Seele gerettet haben.
Aber gefühlt habe ich mich wie ein schiffbrüchiger in einem tosenden Ozean der Hilflosigkeit. Ich war vollkommen machtlos. Mein Kontrollverlust war absolut. Ich konnte nichts tun, wollen, beitragen oder gar entscheiden. Nicht einmal, ob ich ein Glas Wasser trinken durfte. Wegen der Dialyse. Psychologen sagen, dass es der Kontrollverlust ist, der für viele oder sogar die meisten Ängste verantwortlich ist, und ich stimme damit überein. Egal, ob man in einem Flugzeug sitzt oder gelähmt auf der Intensivstation liegt, es ist das Gefühl, total ausgeliefert zu sein, das einen so fertigmacht.
Genau das war immer der Kernpunkt meiner Angst. Dieses Gefühl, absolut nichts machen zu können. Egal, wie ich mich drehen oder wenden will, an allen Seiten stoße ich gegen eine undurchdringliche Mauer aus Eis. Es umschließt mich, es fesselt mich, es lässt mich erfrieren. Selbst jetzt, in einer Phase meiner Krankheit, in der die letzten Reste der Lähmung fast vollständig beseitigt sind, habe ich dieses Gefühl noch. Zuletzt wurde es durch das Antibiotikum ausgelöst.
Spatzenfutter. Das ist mein neues Wort für Antibiotika bei Infekten ohne Schmerzen und Fieber. Sieben Tage hochdosierte Breitbandantibiotika, die Übelkeit, Angst, Depressionen, Geruchs- und Geschmacksstörungen sowie Pilzinfektionen und Müdigkeit auslösen, sind nichts anderes als die berühmten Kanonen, mit denen man auf Spatzen schießt. Der Patient wird mit den Tabletten gefüttert, und es ist, als würde man ein Zündholz zum Löschen in einen Orkan werfen.
Und allgegenwärtig ist das Schreckensbild der Resistenz! Das Absetzen eines Antibiotikums ohne Zustimmung des Arztes sei gefährlich, unverantwortlich und unvernünftig. Mich erinnert das an Francisco de Goyas berühmtes Bild "Saturn frisst seine Kinder". Als würde das unvernünftige Absetzen eines Antibiotikums, das einen mehr quält als die letztlich harmlose Krankheit, die es ausheilen soll, sofort das Ungeheuer Resistenz auf die Bühne zaubern, das damit beginnt, die Gesundheit und das Leben des Patienten zu verschlingen.
Wenn man in der Früh aufwacht und das Leben nur noch ein bodenloser schwarzer Sumpf ist, sollte man beginnen, mit den Armen zu rudern und um Hilfe zu schreien. Ich war kurz davor, dieses Antibiotikum eigenmächtig abzusetzen, und ich kann Ihnen genau sagen, was mir, meinen Bronchien, meiner Lunge, Meiner Harnblase und dem schreckenumrankten Nierenbecken passiert wäre:
Nichts.
Es wäre schlicht und ergreifend nichts passiert, ausser, dass ich früher wieder hätte klar denken und wenigstens eine Erinnerung an frühere Lebensfreude empfinden können. Wissen Sie, was das für ein Gefühl ist? Wenn Sie sich zwar daran erinnern können, dass es sowas wie Lebensfreude gibt, aber Sie wissen nicht mehr, wie sie sich anfühlt?
Nein? Gut.
Glauben Sie mir: Die entfernte Erinnerung an Glück ist der kälteste Ort im Universum.

Samstag, 7. März 2015

Dämonengesichter

Auf der Neuro im Krankenhaus, wo ich im Jahr 2013 vier Monate meines Lebens verbrachte, habe ich mit einer Psychologin verschiedene Entspannung- und Visualisierungsübungen gemacht.
Eine davon heisst "Das Innere Team". Man kann diese Übung mit einem Therapeuten, Freunden, Verwandten, aber auch alleine machen. Natürlich ist es am besten, wenn ein erfahrener Therapeut dabei ist. Diese Übung wird nur in Gedanken durchgeführt, man gibt also nichts von sich preis.
Hier eine kurze Zusammenfassung dieser Übung. Ich zitiere aus Wikipedia: "Das Innere Team ist ein Persönlichkeitsmodell des Hamburger Psychologen Friedemann Schulz von Thun. Die Pluralität des menschlichen Innenlebens wird darin mit der Metapher eines Teams und seines Leiters dargestellt. Das soll die Selbstklärung in zwiespältigen Situationen unterstützen und damit die Voraussetzung für eine klare und authentische Kommunikation nach außen bieten."
Und das geht so: Zuerst beginnt man mit Entspannungsübungen. Am besten ist es, dabei im Bett zu liegen, aber sicher kann man das auch im Sitzen machen. Wenn Sie meditieren, werden Sie ihre bevorzugte Körperhaltung kennen. Ich hatte damals keine Wahl, denn mit den Resten einer ausgeprägten Tetraparese hat man nicht die Wahl, ob man sitzen oder liegen will. Zumindest nicht aus eigener Kraft. Eine Tetraparese ist eine Lähmung aller vier Gliedmaßen. Die Arme konnte ich damals zwar schon bewegen, aber ich konnte weder greifen, noch hatte ich auch nur die geringste Rumpfstabilität, um frei sitzen zu können.
Also lag ich in meinem Krankenbett, zugedeckt, die Hände auf der Brust und tat, was die junge Frau Magistra mir sagte. Ich schloss meine Augen, atmete gleichmäßig und ruhig und konzentrierte mich vom Kopf bis zu den Zehen auf meinen Körper. Ich sollte ihn so gut wie möglich entspannen und wahrnehmen. Den Körper zu entspannen ist beim Guillain-Barré-Syndrom kein Problem, denn es ist eine schlaffe Lähmung, und Spastiken hatte ich nur in den Händen. Darum sind auch jetzt meine Finger noch etwas verkrümmt, während ich diese Zeilen mit zwei Zeigefingern in mein iPad tippe.
Mit der Wahrnehmung sah es schon ganz anders aus. Ich spürte so gut wie nichts von meinem Körper, außer Hüftschmerzen und den transurethralen Dauerkatheter in meiner Harnblase. Den habe ich immer noch. Nicht denselben, aber das gelbe Scheusal ist im Laufe der letzten eineinhalb Jahre zu meinem besten Feind geworden.
Zurück zur Therapieübung. Frau Magistra Josefa sagte zu mir, ich solle mir vorstellen, ich würde in einem Raum an einem Tisch sitzen. Ich stellte mir einen Konferenzraum vor, wie ich ihn noch von meiner Arbeit als Grafiker aus Werbeagenturen kannte. mir gegenüber befand sich eine Tür, im Raum herrscht eine angenehme Athmosphäre. Ach ja, der Tisch ist rund. Natürlich. Man will ja auf gleicher Ebene miteinander reden.
Aber worüber reden? Und mit wem?
In weiterer Folge stellt man sich vor, wie man selbst den Raum betritt.
Zuerst als Embryo. Dann als kleines Kind. Dann als Teenager. Dann in den Jahren um die Zwanzig. Dann im gegenwärtigen Alter und zum Schluss als alter Mann.
Nach und nach unterhält man sich mit sich selbst in den verschiedenen Stadien seines Lebens. Man befragt sich darüber, wie das Leben zu jenen Zeiten ist, welche Träume und Ängste man hat und wie man sich seine Zukunft vorstellt. Danach verabschiedet man sich von allen Versionen des eigenen Ichs, und die stehen auf und verlassen nach und nach den Raum.
Ich entspanne mich wieder, atme tief und ruhig, und irgendwann sagt Magistra Josefa, ich solle die Augen öffnen und wieder im Hier und Jetzt sein.
Diese Übung "Das Innere Team" hat mich beängstigt. Sehr. Ich habe es meiner Therapeutin nicht gesagt, aber die Vorstellung, mit mir selbst zu reden und die Geschichten meines Scheiterns, meiner verlorenen Illusionen und zerbrochenen Träume zu hören, zehrten mehr an meinen Nerven als das Guillain-Barré-Syndrom.
Besonders der Embryo ist unheimlich, wie er winzig und verkrümmt, mit einem Gesicht wie E. T. auf einem rollbaren hohen Kinderesstisch sitzt und mich anlächelt. Er gestikuliert mit seinen Ärmchen und sagt mir, dass er mich lieb hat. Trotz meiner Lähmung zittere ich am ganzen Körper.
Ich mag meine Therapeutin Josefa. Sie ist sympathisch und kompetent. Ich freue mich immer, wenn sie mich besucht und mir mehrere Übungen vorschlägt, von denen ich mir eine aussuchen kann. Aber an diesem Tag bin ich froh, als sie wieder geht.
Inzwischen führe ich die Übung mit dem Inneren Team auf meine eigene Art durch. Auch dabei liege ich im Bett. Ich stelle mir Momente aus meinem Leben vor, in denen ich traurig, verletzt oder enttäuscht war. Ich suche mir ein Lebensalter aus, zum Beispiel, als ich Volksschüler war.
Ich stehe auf dem Schulweg zur Volksschule in Seewalchen am Attersee. Ich bin acht oder neun Jahre alt. Da gibt es ein Mädchen, in das ich sehr verliebt bin. Sie heisst Yvonne, hat wunderschöne lachende Augen und brünette Zöpfe. Es ist ein Regentag. Natürlich. Here' s That Rainy Day. Der Schultag ist vorbei, und ich bin auf dem Heimweg.
Aus irgendeinem Grund drehe ich mich noch einmal um und blicke zurück. Ich glaube zwar nicht an Dämonen, aber falls es sie doch gibt, muss wohl einer neben mir gestanden und mir das eingeflüstert haben. Oder er hat mich umgedreht, damit ich das sehen konnte, was mich bis heute nicht mehr loslässt.
Trivial, vielleicht. Aber ein Teil des Risses in meinem Herzen, der sich bis tief in die Seele zieht.
Mein bester Freund legt Yvonne einen gelben Regenmantel um den Kopf und den Rücken, umarmt sie, und sie gehen beide in die Richtung zu Yvonnes Haus. Ich weiß nicht, ob sie sich unter dem Regenmantel geküsst haben, aber ich könnte schwören, dass sie es getan haben. Und wenn nicht da, dann sicher später. Mich hat Yvonne nie geküsst. Ich war ein dickes Kind. Und unsportlich.
Ich habe damals nicht geweint, sondern mich umgedreht und bin nach Hause gegangen. Es kann auch sein, dass ich beim Fleischhauer Hringer. Neben der Kirche einen Zwischenstopp eingelegt habe, um mir in dem kleinen Geschäft eine Semmel mit aufgeschnittenem kalten Leberkäse und Essiggurken zu kaufen. Fünf Schilling, damals. Die hatte ich immer in der Hosentasche. Ich war ein dickes Kind.
Aber mir kommen heute die Tränen, wenn ich als erwachsener Mensch dem kleinen Buben von damals gegenübertrete, seinen enttäuschten Blick sehe, in die Hocke gehe und ihn in die Arme nehme. Ich tröste ihn. Wir weinen beide.
Dann öffne ich meine Augen und liege wieder in meinem Krankenbett in meinem Zimmer im Behindertendorf in Altenhof am Hausruck und blicke in die Dunkelheit, die nur von der grünen Glühlampe des Akkus an meinem elektrischen Rollstuhl erhellt wird.
Die Tränen sind tröstlich. Manchmal ist weinen schön. Es ist heilsam.
Es gibt viele Versionen von mir in verschiedenen Lebensaltern mit vielen ähnlichen und viel schlimmeren Erlebnissen. Viel schlimmer.
Also noch viele Markusse, die es zu trösten und Dämonen, die es zu bannen gilt.
Aber wissen Sie, was das Schlimmste an den Dämonen meines Lebens ist, an die ich ja gar nicht glaube?
Die Dämonen haben mein Gesicht.