Dienstag, 30. September 2014

Der innere Schrei

Das Gefühl, keinen Boden unter den Füßen zu haben, wird nur von dem Gefühl, den Boden mit den eigenen Füßen nicht mehr spüren zu können, in den Schatten gestellt.
    Ich kann nicht im Detail rekonstruieren, wie ich die Zeit auf der Intensivstation verbracht habe. Manchmal haben sich Traum und Wirklichkeit so miteinander vermischt, dass ich sie nicht mehr unterscheiden konnte
    Ich liege in dem Bett, das man am ehesten als Monstrum bezeichnen kann. So wie mich auch. Es ist ein bißchen länger als ich groß bin und sehr breit, sodass ich auch hineinpasse. Ich bin 1, 80 groß und wiege so um die 165 Kilo. Dieses enorme Gewicht habe ich mir angesessen. Angegessen und angetrunken. In der Zeit unmittelbar vor meiner Erkrankung und auch in den Jahren davor war es für mich normal, zwölf bis sechzehn Halbliterdosen Bier zu trinken. Welche Marke, sage ich nicht, sonst verklagt mich der Hersteller noch oder macht mich zum Werbeträger und ich lande auf riesigen Plakaten. Und glauben Sie mir, so wie ich damals ausgesehen habe, müssten die wirklich gigantisch sein.
    So wie mein Bett. Es ist von einem weißen Metallrahmen umgeben, von dem ich bis heute nicht weiß, wofür der war. Niemand wußte das..Aber alle hassten es. Es ist schwer zu bewegen, fast so, als sei es selbst gelähmt. Ich liege auf einer blauen Luftdruckmatratze, die der Bildung eines Decubitus vorbeugen soll. Das ist ein wundgelegener, offener Rücken. Das tut sie auch. Dieses Problem habe ich nicht. Ab und zu ein paar Rötungen, aber nichts Gefährliches.
    Ich liebe diese Matratze. Im Laufe meines Krankenhausaufenthalts wird sie für mich zu einem Zufluchtsort werden, einem Pralleluniversum, das mir fast ganz alleine gehört und in dem ich mich sicher fühle. Zumindest einigermaßen.
    All die Menschen, die kommen, um mir wehzutun oder Todesangst einzujagen, auch, wenn sie mir helfen wollen, können nicht lange bleiben. Sie müssen sich unter dem Rahmen über das Bett beugen, und das verursacht Rückenschmerzen. Ich will mich darüber gar nicht lustig machen. Heute weiß ich, dass Krankenschwestern- und Pfleger wirklich darunter leiden.
Aber für mich ist dieses Bett mein Raumschiff, das mich durch ein unendlich dunkles Universum führt. Ich fühle mich wie verloren im Delta-Sektor, genauso wie die Besatzung der Voyager.
    So liege ich also in diesem Bett, von Geräten umgeben, an Schläucheni hängend, eine Sauerstoffbrille auf meinem Gesicht und jede Menge Kanülen in meinem Körper, meine Augen brennen, es juckt an verschiedenen Körperstellen und ich denke an früher, ans Schnorcheln im Meer in Kroatien. Ich rieche das salzige Meerwasser, spüre die Wellen an meiner Haut, spüre das Sonnenlicht, sehe die Zypressen und Pinien und die kleinen Häuser mit den roten Dächern, und im blaugrünen Wasser sehe ich die Steine, die Seeigel und das Seegras. Oft habe ich das erlebt, viele Stunden habe ich im Meer verbracht. Ich erinnere mich an diese Gefühle des absoluten Glücks und schreie innerlich, wenn ich daran denke, dass ich das nie wieder erleben werde. Nie wieder werde ich so unbeschwert und glücklich sein.

Samstag, 20. September 2014

Der schreckliche Ort

Manchmal kommen die Erinnerungen wie Flashbacks. Ich liege dann wieder in diesem Bett auf der Intensivstation und spüre, wie die Angst und die Verzweiflung in mir hochkriechen. Das Gefühl ist wie ein Brennen, das in der Brust beginnt und sich zum Kopf und auch in die Arme ausbreitet. Dann möchte ich am liebsten nur schreien. So wie auf den Selbstportraits von Gottfried Helnwein mit den Gabeln in den Augen.
    Aber ich schreie nicht. Nicht, weil ich nicht kann, sondern, weil ich mich nicht traue. Ich habe Angst, dann in eine geschlossene Anstalt zu kommen. Also verarbeite ich meine Furcht lieber innerlich. Heute weiß ich nicht mehr, was mir damals alles durch den Kopf gegangen ist. Ich erinnere mich nur noch an ein Gefühl der Perspektivlosigkeit und Minderwertigkeit. Das war vielleicht immer das Schlimmste an allem: dieser Eindruck, nicht mehr zu sein als das Opfer eines gleichgültigen Schicksals und in einem Universum zu leben, das mitleidlos auf mich herabblickt.
    Verloren zu sein. Ungeschützt in einen reißenden Strudel aus schwarzem Wasser zu fallen. Ich fühlte mich, als sei ich nichts mehr wert, als würde mich dieses Schicksal genauso treffen wie eine Ameise, die man zertritt, ohne sie überhaupt zu bemerken.
    Warum passiert mir so etwas? Womit habe ich das verdient? All,diese Fragen die sich wohl schon Milliarden von Menschen gestellt haben. Sicher, ich habe immer ein blödsinniges Leben geführt, zu wenig Sport gemacht, zu viel Bier gesoffen und nichts getan, um meine Zukunft zu sichern. Da bin ich aber nicht der Einzige. Andere machen das auch und noch viel Schlimmeres und erleben so etwas nicht. Warum also ich? Erklären kann ich es mir nur mit einem tatenlosen Universum, in dem wir Menschen auch nicht mehr wert sind als diese eine Ameise.
    So irre ich eben umher wie eine Figur in einer Erzählung von Lovecraft, bin den Elementen und den Ereignissen rund um mich herum hilflos ausgeliefert und frage mich, ob das alles einen Sinn hat. Antwort finde ich auf diese Frage keine. Auch auf viele andere Fragen nicht.
    Ich denke oft an das erzählerische Prinzip der Heldenreise wie es der amerikanische Mythologe Joseph Campbell formuliert hat. Ein junger Mann lebt in einer behüteten Umwelt, frei und sorglos. Dann bricht die Grausamkeit der Realität über ihn herein. Der Ruf des Abenteuers. Er findet einen Mentor, der ihn unterweist und ausbildet, er begegnet Schwellenwächtern, die ihn am Vorankommen hindern wollen und stellt sich schließlich seinen größten Ängsten. Er beginnt eine Reise in eine Region, die ihn zu verschlingen und zu töten droht:
    Die dunkle Nacht der Seele.
    Hier leben die Ungeheuer. Die Medusa. Der Minotaurus. Der Teufel in der Wüste. Die Ringgeister. Lex Luthor und Darth Vader. Der große und schreckliche Oz.
    Doch auch Blumen hat' s im Revier. Die Ärzte, die Ärztinnen, die Krankenschwestern und Pfleger, die Therapeutinnen und Therapeuten und alle Menschen, die sich den Schwellenwächtern entgegenstellen.
    So also, mit zuckenden, brennenden und stechenden Muskeln, angehängt an Schläuchen für die Blutwäsche und Medikamente, mit einem Stoma am Bauch, eine Darmsepsis samt Operation, einen Herzstillstand, Leberblutungen und ein fast vollständiges Nierenversagen überlebt, beginne ich, vom Hals abwärts gelähmt, meine Reise in die dunkle Nacht der Seele.
    Wenn Sie wollen, können Sie mich begleiten.
    Aber seien Sie gewarnt: Dieser Ort ist schrecklich.

Freitag, 19. September 2014

Kopfleben

Ich liege im Bett auf der Intensivstation, Abteilung Stroke Unit. Es ist ein warmer Julitag. Jetzt wäre es schön, schwimmen zu gehen, denke ich und sofort überfällt mich ein Anflug von Traurigkeit. Ich werde nie wieder schwimmen können, sagt mir meine Gefühlsstimme. Es ist manchmal eine sehr böse Stimme, die da zu mir spricht. Sie sagt Dinge zu mir, die ich nicht hören will. Die Vernunftstimme ist mir wesentlich lieber. Sie ist immer sachlich und logisch. Die Gefühlsstimme gleicht eher dem Meer. Oft ist es schön, spiegelglatt und klar. Es kann warm sein und nach Sommer und Lebensfreude duften, aber manchmal ist es unruhig, auufgewühlt und tobt im Sturm. Meine Gefühlsstimme ist jetzt fast immer so. Meine Gedanken überschlagen sich wie die Wellen im Sturm. Ruhig läuft da gar nichts. Es ist zwar alles im Fluss, wie diese neumodische Redewendung sagt, aber in meinem Fall ist es ein reißender Strom, der mich direkt in die Richtung eines Abgrunds spült.
    Zum Glück verschafft sich die Vernunftstimme immer wieder Gehör und ermahnt mich, ruhig zu bleiben. Es ist alles nicht so schlimm, sagt mir diese Stimme. Alles wird wieder gut. Es dauert nur. Ich weiß nicht, ob ich dieser Stimme vertrauen kann. Sie klingt doch ziemlich zaghaft und zittrig. Und leise ist sie auch, eigentlich ist sie gar keine Stimme, sondern eher ein Säuseln, ein Flüstern, fast nicht hörbar. Trotzdem hat sie die Kraft, meinen Verstand immer wieder zu retten - zu retten vor dem Ertrinken, dem Ersticken, dem Verbluten, dem Verdursten und dem Verzweifeln. Schade, dass dieses Stimmchen nicht etwas lauter ist, aber vielleicht macht gerade die geringe Lautstärke sie glaubhaft. Die Gefühlsstimme ist laut genug, polternd, stechend, bebend und kalt.
Natürlich sind es nur meine Gedanken, die da in meinem Inneren rumoren. Zum Glück höre ich nicht wirkliche Stimmen. Auch das ist ein Umstand, der mich tröstet und nicht vollkommen verzweifeln läßt. Vielleicht wäre für mich alles leichter zu ertragen, wenn ich verrückt wäre, wenn ich nicht klar denken könnte, wenn ich wirklich Stimmen hören würde, die zu mir sprechen und mich in einen alles vernebelnden Wahnsinn treiben. Aber verrückt bin ich nicht.
    Nur gelähmt. Vorübergehend. Aber das wird schon wieder. Es dauert nur. Du mußt geduldig sein. Immer wieder höre ich die Worte der Ärzte, Krankenschwestern, Pflegern und Therapeuten. Die Chancen stehen gut. Bis hin zur vollkommenen Heilung. Ich weiß, es ist ein harter Weg, höre ich immer irgendjemanden sagen, aber, wenn du geduldig bist und mitarbeitest, wird’ s schon wieder. Das wird. Das wird. Wie ein Echo, das ein Wahnsinniger an eine Bergwand brüllt, hallen diese Worte immer wieder durch meinen Kopf.
    Das wird wieder. Das wird wieder.
    Und während ich darauf warte, dass es wieder wird, liege ich imBett, auf dem Rücken und schaue in die Luft oder zum Fenster hinaus. In meinen Träumen sehe ich an der Zimmerdecke Gemälde von mir, die sich ständig verändern. Es sind verzErrte Körper, furchtbare Grimassen, obszöne, pornographische Bilder. Ich habe sie vor einigen Jahren als Auftragsarbeit für dieses Krankenhaus angefertigt. Die Bilder über mir und den Köpfen der anderen Patienten passen sich immer der Stimmungslage an. Manchmal sehe ich lustige Comicfiguren. Von Asterix und Obelix, Lucky Luke und Jolly Jumper und vielen anderen sind sie alle dabei. Die Simpsons, Micky Maus, Superman, all die Helden meiner Kindheit. Und immer wieder Clowns. Böse Clowns. Clowns mit spitzen Zähnen, die mich angrinsen.
    Das alles habe ich erschaffen. Für dieses Krankenhaus hier in Linz. Oder in China? Sie sagen ja nur zu mir, ich sein im Krankenhaus Vöcklabruck in Oberösterreich, aber in Wirklichkeit bin ich abwechselnd in Linz und in China. Das chinesische Krankenhaus ist ein gigantischer Wolkenkratzer, der bis weit in die Wolken hineinreicht. Ich liege im obersten Stockwerk, sehe zum Fenster hinaus, sehe die Stadt, die Häuser, die Wolken, vorbeifliegende Flugzeuge, die rotflammende Sonne. Zwischendurch betrachte ich mir die verdrehten und mutierten Körper, die sich an der Zimmerdecke in bunten Farben räkeln und sexuelle Handlungen vollziehen, zu denen echte menschliche Körper gar nicht fähig wären. Sie beziehen ihre Lust, indem sie ihre Leiber schmelzen und ineinanderrinnen lassen. Auch Clowns sind dabei. Und Goofy. All das passiert über meinem Kopf.
    In meinem Kopfleben.



Mittwoch, 10. September 2014

Das Guillain-Barré-Syndrom (GBS)

Anstatt diese kaum bekannte Erkrankung laienhaft zu beschreiben, habe ich hier einige Textstellen des Wikipedia-Artikels zum Guillain-Barré-Syndrom verwendet. Meine Kürzungen habe ich durch drei Punkte in eckigen Klammern [...] gekennzeichnet.

Das Guillain-Barré-Syndrom (GBS; Aussprache: ɡiˈjɛ̃ baˈʁeː zʏnˈdʀoːm), auch Landry-Guillain-Barré-Strohl-Syndrom, ist ein akut auftretendes neurologisches Krankheitsbild, bei dem es zu entzündlichen (inflammatorischen) Veränderungen des peripheren Nervensystems kommt. Betroffen sind vor allem die aus dem Rückenmark hervorgehenden Nervenwurzeln (Polyradikulitis) und die dazugehörigen vorderen oder proximalen Nervenabschnitte. Die genaue Ursache ist nicht bekannt. In einigen Fällen werden vorausgegangene Infektionen und andere mutmaßliche Auslöser verantwortlich gemacht. Es können verschiedene Verläufe mit unterschiedlicher Länge auftreten, GBS kann sich von Stunden oder Tagen bis hin zu Monaten entwickeln.

Beim Guillain-Barré-Syndrom kommt es zu entzündlichen (inflammatorischen) Veränderungen der Markscheiden (Myelinscheide) mehrerer aus dem Rückenmark hervorgehender Nervenwurzeln (Polyradikulitis) und der dazugehörigen vorderen oder proximalen Nervenabschnitte. Die Entzündung führt zu einer Entmarkung (Demyelinisierung) in den genannten Abschnitten. Die die Nervenfasern umgebende Myelinschicht wird dabei durch das Immunsystem angegriffen und zerstört. Dies wird durch eine Autoimmunreaktion verursacht (Neuropathie). [...] Die Zerstörung der Myelinschicht hat zur Folge, dass die Nerven Impulse nur noch schwach oder gar nicht mehr übertragen können. Dadurch kann die Muskulatur keine Nervenimpulse mehr empfangen und dies erklärt die Lähmungserscheinungen (Störung der motorischen Nervenbahnen). Sensorische Einschränkungen (zum Beispiel Tastsinn, Doppelbilder der Augen, Hörstörungen) erklären sich durch die Demyelinisierung der sensorischen Nervenbahnen.

Das Guillain-Barré-Syndrom ist durch die Entwicklung einer Schwäche gekennzeichnet.
Lähmungen entwickeln sich typischerweise zuerst in den Beinen, und breiten sich über den Rumpf und die Arme zum Kopf hin aus. Dabei werden die zuerst betroffenen Muskeln in der Regel schwerer beeinträchtigt als die später befallenen. Üblicherweise sind die Muskeln symmetrisch geschwächt oder gelähmt. Lähmungen der Atem- und Schluckmuskulatur sind lebensbedrohlich und erfordern eine intensivmedizinische Therapie. Das Maß der Lähmungserscheinungen ist sehr variabel, d. h. das Spektrum reicht von kaum merkbaren Bewegungseinschränkungen bis hin zu schweren Lähmungen großer Teile des Körpers. Bis zu 25 % der Patienten erleiden eine Atemlähmung und müssen zur Erhaltung des Lebens beatmet werden. Viele dieser Patienten leiden dann unter einer Form von Albträumen (Oneiroid-Syndrom).

Das Syndrom kann vollständig geheilt werden, wenn die Diagnose rechtzeitig gestellt wird. Als Basistherapie für leichtere Verlaufsformen kommen vor allem Verhinderung von Infektionen und Thrombosen sowie Physiotherapie zur Vorbeugung gegen Kontrakturen in Frage. Bei akuten und schweren Fällen ist eine Immuntherapie angezeigt. Dabei können entweder Immunglobuline verabreicht oder eine Plasmapherese angewendet werden.

Zum Wikipedia-Artikel über GBS

Dienstag, 9. September 2014

Die Angst ist ein Alien

Ich weiß nicht, wie ich mich selbst am besten beschreiben soll. Nach außen hin wirke ich ziemlich ruhig, innerlich bin ich aber meistens angespannt und oft nervös, insbesondere, wenn es mir schlecht geht und dann irgenwelche Kleinigkeiten schief laufen. Leider neige ich auch dazu, ein ängstlicher Mensch zu sein. Gerade was meine Krankheit betrifft, erlebe ich immer noch Momente, in denen ich nicht besonders zuversichtlich bin. Ich habe richtige Angstanfälle erlebt, und auch jetzt passiert das gelegentlich.
Ich bin kein besonders mutiger Mensch, nicht sehr unternehmungslustig und eher verschlossen. Das liegt zu einem großen Teil natürlich an den Erlebnissen meiner Jugend. Dass ich mich immer unverstanden und nie richtig akzeptiert gefühlt habe, hat mich  seit meiner Kindheit geprägt und dazu geführt, dass ich mich immer mehr nach innen gekehrt habe. Auch heute noch lebe ich mit dem Gefühl, dass andere Menschen mich irgendwie seltsam finden und nicht wirklich mögen.
   Was bin ich für ein Charakter? Ich würde sagen, ich bin geduldig, kreativ, manchmal etwas weltfremd und gelegentlich ganz witzig, obwohl mir das Lachen im Laufe des letzten Jahres gründlich vergangen ist. Ich bin manchmal fröhlich, manchmal traurig, aber ein Gefühl, das mich ständig begleitet und mir das Leben oft schwerer macht, als es meine Krankheit jemals geschafft hat, ist Angst. Etwas ängstlich war ich immer schon, aber ein halbes Jahr im Krankenhaus und über ein ganzes Jahr mit dem Guillain-Barré-Syndrom haben mich zu einem überängstlichen Menschen gemacht. Dabei waren es nie konkreten Ängste, die mich plagten. Meine Vernunft funktioniert einwandfrei, das rationale Denken hat meine Krankheit nicht beeinflusst.
Nein, es war eine diffuse Angst, die mich immer wieder quälte. Dabei sind es immer kleine, bedeutungslose Auslöser, die mich in solche Phasen stießen, die oft tagelang andauerten. Ein bißchen Blut im Katheterschlauch reichte da schon aus. Zwar vergingen diese Momente wieder, aber wenn sie da waren, verdarben sie mir den ganzen Tag.
Auf der Neuro in Vöcklabruck war es eine junge Psychologin, die mir gegen meine Ängste half. Mit Entspannungsübungen und dem Visualisieren von Problemlösungen konnte ich die schlimmsten Ängste in den Griff kriegen. Angst hat die Eigenschaft, einen Menschen vollkommen zu vereinnahmen. Zumindest war es bei mir so. Es waren Existenzängste. Wie und wo soll ich leben? Werde ich bei einer Operation sterben? Wird meine Mutter sterben? Was, wenn ich nie wieder gehen kann oder meine Hände nie wieder bewegen? Kommen noch weitere Krankheiten hinzu? Werde ich an den Folgen der Thrombose sterben und und und.
Eine der Übungen, die mir meine Psychologin empfohlen hat war, mich zu entspannen, ruhig zu atmen und mir innerlich immer wieder vorzusagen: »Ich beobachte meine Angst und bin dadurch mehr als meine Angst.« das hat zuerst ein bißchen und dann immer mehr geholfen. Auch heute wende ich diese Technik unter anderen an.
Es kann schon sein, dass meine Angstzustände eine unterbewusste Selbstbestrafung waren, aber diese schrecklichen Angstanfälle sind meinem bisherigen Lebenverlauf nicht angemessen. Sicher bin ich kein guter Mensch, aber so ein schlechter, dass ich so bestraft werde, bin ich auch nicht.
Ich hatte diese ständige Angst unglaublich satt. Sie hat mich von einem Menschen in ein zitterndes Tier verwandelt. Das wollte ich nicht mehr sein. Ich wollte mein Selbstbewusstsein zurückhaben und endlich der Mensch sein, der ich immer schon sein wollte: selbstbewusst, stark, frei von Angst, kreativ, erfolgreich und beliebt.
So ganz geschafft habe ich das noch nicht. Ich weiß nicht, ob ich es jemals schaffen werde, aber ich sehe jetzt wenigstens den Weg, den ich beschreiten muss. Ich weiß, dass ich das alles sein kann, aber es ist leider keine Willensentscheidung. Die Angst kommt einfach und legt sich auf mich wie ein Leichentuch. Ich habe mir die Angst nicht ausgesucht, sie hat mich ausgesucht.
Die Angst ist ein Alien. Sie setzt sich auf mein Gesicht, dringt in mich ein und platzt aus mir hervor. In Form von Angstattacken zerreisst sie mich von innen. Danach ernährt sie sich von mir, wächst, verfolgt und bedrängt mich und droht, mich aufzufressen.
Ich weiß, dass man die Angst nur überwinden kann, wenn man sich ihr stellt. Aber das tue ich ja. Ich stelle mich seit Juni 2013 allen meinen Ängsten. Die schlimmste davon war die Angst vor dem Tod meiner Mutter. Schon seit frühester Kindheit gab es nichts, vor dem ich mich mehr gefürchtet habe, als vor dem Tag, an dem Mama stirbt. Dieser Tag ist gekommen, und er ist wieder gegangen. Die Angst auch. Diese Angst ist zusammen mit meiner Mutter gestorben, aber die anderen Ängste leben weiter. Sie leben in mir weiter, solange ich selbst lebe. Ich habe nur die Chance, sie unter Kontrolle zu bringen und vielleicht sogar zu vertreiben.
Die einzigen zwei Werkzeuge, die ich kenne, um die Angst zu zerschlagen sind Information und Vernunft. Ich habe nicht damit gerechnet, dass ein undichter Ballon die Ursache meiner Katheterprobleme sein könnte. Ich habe zwar vermutet, dass er nicht genug geblockt ist, aber 10 Milliliter sind ausreichend. Diese Information, es könne nur ein undichter Ballon sein, die mir der Arzt gegeben hat, hat ausgereicht, meine Angst kleiner zu machen. Und letztlich ist es nur noch die Vernunft, die über die Angst triuphieren kann. Die rationale Erkenntnis, dass diese Probleme, die mir der Katheter beschert hat, letztlich nichts Gefährliches sind. Zwar unangenehm, aber ungefährlich.
Information und vernünftige Schlussfolgerungen sind das Ergebnis einer genauen Betrachtung des zugrundeliegenden Phänomens. Diese Betrachtung verändert das Ereignis. Sie verändert es in seiner Form, seinem Gewicht und seinem Energiegehalt.
Die Beobachtung meiner Angst macht mich größer als die Angst.

Freitag, 5. September 2014

GBS - Verzweiflung und Tod

"I see the bad moon arising 
I see trouble on the way 
I see earthquakes and lightnin' 
I see bad times today."

Creedence Clearwater Revival, "Bad Moon Rising"


Es gehört nicht zu meinen Angewohnheiten, in fremden Betten aufzuwachen, aber auf der Intensivstation machte ich eine Ausnahme.
    Zuerst dachte ich, es wäre nur ein Traum, aber dann hörte ich eine männliche Stimme. Sie sprach ruhig und besonnen, aber was sie sagte, war alles andere als beruhigend:
    "Sie sind auf der Intensivstation im Landeskrankenhaus Vöcklabruck. Sie sind vom Hals abwärts gelähmt, aber ihre Krankheit ist heilbar. Es wird nur sehr lange dauern."
    Ich sehe eine weiße Zimmerdecke über mir und aus den Augenwinkeln erkenne ich einige Geräte, einen Computermonitor und Schläuche mit einer roten Flüssigkeit. Mir ist klar, dass es sich dabei um mein eigenes Blut handelt.
    "Außerdem hatten Sie ein Nierenversagen und hängen an der Dialyse. Aber auch das werden wir in den Griff bekommen. Ihre Mutter haben wir verständigt." Der Mann stellt sich vor, aber ich verstehe kaum ein Wort.
    "Mama", denke ich. "Warum bist du nicht da? Wo bist du?"
    Ich erinnere mich an die letzten Tage und daran, dass ich auf keinen Fall ins Krankenhaus wollte. In meiner Erinnerung sehe ich unser Wohnzimmer. Ich liege am Boden auf dem schönen dunkelroten Teppich, den meine Eltern vor vielen Jahren im Urlaub in Jugoslawien gekauft hatten. Durch mein enormes Gewicht, meine Füße und den Fernsehsessel, auf dem ich die meiste Zeit meines Lebens verbracht habe, ist er ganz abgewetzt und an einigen Stellen durchgescheuert. Von dem kunstvoll gewobenem Muster ist nicht mehr viel zu erkennen.

    Vor einigen Tagen lag ich noch mit tauben Fingern und kraftlosen Beinen zu Hause im Bett. Ich erinnere mich daran, wie ich immer wieder versucht habe aufzustehen, aber einfach nicht konnte. Vor meinem inneren Auge sehe ich mich, wie ich mich vorsichtig aus dem Bett gleiten lasse und auf den Unterarmen ins Wohnzimmer robbe. Es ist mühsam, geht aber doch voran. Wenn ich erst einmal im Wohnzimmer bin, kann ich mich auf den schwarzen Ledersessel stemmen und dann viellueicht aufsteehen. Es muss ja irgendwie gehen. Ein paar Tage zuvor konnte ich das ja auch. Zwar nur schwer und dank meines Gewichts von 165 Kilo nur unter Schmerzen und mit einem Spazierstock, aber ich habe die dreißig Schritte vom Fernsehsessel bis zur Toilette geschafft. Da wußte ich noch nicht, dass meine Gehschwierigkeiten Anzeichen meiner Lähmung waren.

    "Sie haben eine Krankheit namens Guillain-Barré-Syndrom", sagt die Stimme neben mir.
    Ich kriege das nur irgendwie am Rande mit. Den Namen der Krankheit konnte ich mir lange nicht merken und schon gar nicht, wie man ihn richtig ausspricht. Aber da war ich nicht der Einzige.
    Vom Hals abwärts gelähmt.
    Diese Worte hallen wie ein Echo durch meinen Kopf.
    Ich versuche, mich zu bewegen. Meine Arme, meine Finger, meine Beine.
    Nichts.
    Keine Regung. Keine Bewegung, nicht einmal meine Zehen. Ich drehe meinen Kopf nach rechts, um den Mann zu sehen, der mit mir spricht. Heute weiß ich nicht mehr, wer es war. Vielleicht war es der Oberarzt der Intensivstation oder ein Pfleger. Jedenfalls beruhigt er mich, und mir kommt es so vor, als wäre alles gar nitcht so schlimm.

    Vom Kopf abwärts gelähmt.
    Ja, natürlich denke ich in diesem Moment an Stephen Hawking und Christopher Reeve. Superman ist tot. Er ist an seiner Lähmung gestorben. Superman. Wie soll ich da eine Chance haben?
    "Wie lange wird das dauern?" höre ich mich fragen. Meine Stimme klingt hoch, flach und heiser. Ich hoffe auf eine gute Nachricht, aber sie kommt nicht. Ein Erlebnis, das ich im Laufe der nächsten Monate noch oft haben werde. Sehr oft.
    "Das kann ich Ihnen nicht sagen, aber Sie haben einen langen Weg vor sich." Der weiß gekleidete Mann sieht mich an. "Sie können es schaffen, aber es wird Monate dauern. Vielleicht sogar länger. Die Lähmung hat sich von den Füßen aufwärts ausgebreitet und löst sich in umgekehrter Richtung wieder auf."
    Ich warte auf das nächste "Aber".
    "Aber das ist ein langwieriger Prozess", sagt er. Inzwischen weiß ich, dass es der Oberarzt war, und dass sich das Gespräch so oder sehr ähnlich abgespielt hat.
    Mehr weiß ich nicht. Irgendwannf schlafe ich wieder ein.
    Das Wort "Stoma" höre ich noch und "künstlicher Darmgausgang" und "starke Blutungen".
    Ich bin mir nicht sicher, ob das alles wirklich passiert.

    "Was habe ich gemacht?, frage ich mich, während alles um mich herum trüb wird, neblig und grau. "Was habe ich nur aus meinem Leben gemacht?"
    Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich überhaupt noch lebe.
    Ein Traum ist es jedenfalls nicht. Dazu ist alles zu realistisch. Der Krankenhausgeruch, der Hauch von Verzweiflung und Leid.
    Und der Tod.
    Die Träume kamen später. Die Schmerzen auch. Die Angst. Die Hoffnungslosigkeit.
    Und die Geister
    Und die Klingen.
    Und das Blut.