Samstag, 27. Dezember 2014

Gezeichnet fürs Leben

Ich kann mir noch immer nicht vorstellen, aus dem Rollstuhl jemals wieder rauszukommen. Schließlich ist es ein Rollstuhl und kein Skateboard, von dem man einfach absteigt. Dabei bin ich doch schon draußen. Ich kann problemlos aufstehen, wenn ich mich dabei an einem Rollator oder Stangen an der Wand festhalte und hochstemme. Ich weiß, wie verrückt das klingt, aber ich glaube trotzdem nicht daran. Ich kann meine Beine hoch genug anheben, um wieder gehen zu können. Da habe ich einfach eine totale psychische Blockade.
Aus einem Rollstuhl kommt man nie wieder raus. Diese Überzeugung ist in meinem Denken so fest verankert, dass sie mich buchstäblich an den E-Rolli fesselt. Ich kann mir auch nicht vorstellen, wie einfach es ist. Ich kann gar nicht glauben, was ich in den letzten vier Wochen alles geschafft habe. Erstes, zögerliches Aufstehen mit hochgestelltem Sitz. Brauche ich nicht mehr. Der erste, angstvolle Versuch, mich ein Stück nach vorne fallen zu lassen, um überhaupt in den Richtigen Aufstehwinkel zu kommen. Mein Stratosphärensprung. Das ist allerdings schon etwas länger her. Heute frage ich mich, warum ich solche Angst hatte. Ich mache mir beim Aufstehen gar keine großen Gedanken mehr. Ich zögere nicht, und ich fürchte mich auch nicht. Ich glaube, das erste Mal habe ich das im September geschafft.
Jetzt ist Ende Dezember 2014. im Juni 2013 wurde ich krank, war lange Zeit vom Hals abwärts gelähmt. Länger als ein halbes Jahr. Ich habe zwei Monate auf der Intensivstation verbracht. Auf dem Rücken liegend. Danach vier Monate Neuro. Auf dem Rücken liegend. Nur zu den Therapien wurde ich mit einem Hebelifter aus dem Bett gehoben. Danach vier Monate Reha, den ersten davon größtenteils auf dem Rücken liegend. Ich konnte mich nicht kratzen, wenn es gejuckt hat, mir meine Haare nicht aus den Augen wischen, mich nicht schneutzen, nicht selber essen und trinken. Ich konnte mich nicht waschen und musste praktisch rund um die Uhr gepflegt werden.
Dann wurde es allmählich besser, und ich muss sagen, die Therapien waren nie besonders hart. Ich kann nicht behaupten, dass ich mich jemals geschunden habe. Darum glaubte ich auch lange nicht an die Wirksamkeit der Physio- und Ergotherapie. Ich dachte mir, es sei doch völliger Schwachsinn, ein Papiertuch auf einem Tablett millimeterweise herumzuschieben. Selbst, als ich dann am Gmundnerberg schon Kegeln übereinanderstapeln konnte, glaubte ich nicht, dass das einen Sinn hat.
Jetzt kann ich essen, trinken, schreiben, meinen ganzen Körper fast normal bewegen, jede Menge Schritte im Stand machen.
Und glaube es immer noch nicht.
Ich glaube noch immer nicht, dass ich aus dem Rollstuhl wieder rauskommen und normal gehen können werde. Obwohl ich am Rollator ja auch schon die ersten drei Fortbewegungsschritte gemacht habe. Ich bin einfach schon so lange krank und war so lange gelähmt, dass ich es nicht glauben kann.
Ich kann auch nicht glauben, dass ich inzwischen wieder ein halbwegs selbstständiger Mensch bin. Ich kann mit dem E-Rolli herumfahren, ich habe mit meinem iPad Zugang zum Internet, ich kann mit den beiden Zeigefingern lange Zeit flüssig und ziemlich schnell schreiben und so weiter.
Aber leider bin ich ein Pessimist und ein ziemlich ängstlicher Mensch. Zumindest bin ich das durch das Guillain-Barré-Syndrom geworden. Ich war zwar früher auch kein großer Held, aber die Krankheit hat meine Zaghaftigkeit und meine Skepsis noch verschlimmert. So sehr verschlimmert, dass ich mich nicht traue, die einfachen und nicht einmal besonders anstrengenden Aufstehübungen an den Stützstangen im Bad zu machen, aus Angst, sie könnten in meinem Dauerkatheter etwas auslösen, das dann nicht mehr aufhört. Lieber bleibe ich im Rollstuhl hocken und habe die Scherereien mit dem Katheter trotzdem.
Das ist doch verrückt. Das ist doch total verrückt.
Aber so bin ich. Es ist beschissen, dass ich so bin, aber so ist es eben. Ich bin Grafiker. Gezeichnet fürs Leben. Ich hoffe nur, dass ich nicht als unvollendetes Meisterwerk enden werde. Oder, dass die besten Farbschichten von mir abbröckeln.
Nur hoffen allein wird nicht reichen.

Samstag, 20. Dezember 2014

Kriegsfeind Körper

Mein Körper führt einen Krieg gegen mich.
Das war eine meiner ersten Erkenntnisse nach der Diagnose Guillain-Barré-Syndrom. Mein eigenes Immunsystem richtet sich gegen mich und zerstört meine Nerven. Es reagiert so stark auf einen unsichtbaren Angreifer, dass es den Kollateralschaden, den es anrichtet, nicht sieht.
Um den Feind zu töten, zerstört die Armee das eigene Heimatland. Genau das ist es, was das Guillain-Barré-Syndrom einem Menschen antut. Es hetzt das Immunsystem gegen den eigenen Körper auf. Die Leitfähigkeit der Nerven wird beeinträchtigt, und der Körper verfällt in Lähmung. Es ist eine Art Blitzkrieg, den das Immunsystem führt, und die gesamte Heimat verfällt in eine Schockstarre.
Beinahe auch meine Lunge. Nur durch künstliche Beatmung konnte ich am Leben gehalten werden. Durch eine Darmsepsis wäre ich fast verblutet. Monate später hatte ich eine Tiefenvenenthrombose, die eine Lungenembolie hätte auslösen können. Das ist sogar eine der häufigsten Todesursachen bei GBS-Patienten.
Monatelang habe ich an die Decke des Krankenhauszimmers gestarrt, eingesperrt in einem Kopfleben. Ich konnte sprechen, wurde aber sprachlos. Zum Teil bin ich es heute noch. Es handelt sich dabei zwar um keinen organischen Schaden, aber die Krankheit hat mir die Sprache verschlagen. Ich rede nicht gern. Ich schreibe lieber.
Ich liege im Bett in meinem Zimmer im Behindertendorf Altenhof und frage mich, was die Zukunft mir bringen wird. Tagsüber lese ich E-Books, liege im elektrischen Rollstuhl mit einem Kissen unter dem Kopf. Ich fahre mit dem E-Rolli in den kleinen Speisesaal. Zum Frühstück, zum Mittagessen, zum Abendessen. Auch dort rede ich nur, wenn ich etwas gefragt werde.
Ich bin oft sehr traurig, weil ich an meine tote Mutter denken muss. Sie ist im August gestorben. Ich bin hier von wunderbaren, hilsbereiten Menschen umgeben, und bin trotzdem allein. Das kann ich. Das ist ein spezielles Talent, dass ich schon seit Kindertagen habe. Ich kann unter vielen Menschen völlig allein sein.
In meinem Kopfleben.
Der Krieg nähert sich dem Ende. Die Einschläge sitzen tief in meiner Seele. Der Donnerhall der Bomben, die das Immunsystem auf mich abgefeuert hat, klingt noch nach. Er weird zwar leiser, aber der Pulverdampf liegt noch in der Luft. Ich werde wohl wieder gesund werden. Wieder gehen können. Wieder zeichnen. Wieder normal leben. Als hätte ich das jemals getan. Trotzdem gibt es noch keinen Waffenstillstand mit meinem Körper.
Meine Hände, mit denen ich mein ganzes Leben lang so viel gezeichnet, gemalt und geschrieben habe, haben mich verraten. Sie sind einfach desertiert. Im Krankenhaus habe ich mit ihnen geredet. Ich habe sie gefragt, ob sie nicht gerne gezeichnet haben. Ob das nicht wunderschöne Stunden waren, als die Zeit stillstand und nichts existierte außer uns, einem Blatt Papier und einem Bleistift. Sie haben nicht geantwortet.
Aber jetzt tun sie es. Sie sprechen zwar nicht, aber sie schreiben wieder.
Und sie zeichnen. Zwar noch wacklig und kritzlig, aber sie zeichnen.
Auch meine Beine bewegen sich wieder. Vorgestern konnte ich im Stand 160 Schritte machen. Ich hielt mich dabei an zwei an der Wand befestigten Stützstangen fest. Vor einem Jahr, als ich auf Reha am Gmundnerberg war, konnte ich meine Beine noch nicht einmal so weit anheben, dass ich sie auf den Fußplatten des Rollstuhls richtig platzieren konnte. Ich konnte auch noch lange nicht stehen.
Viele Stunden haben mich diese Beine früher durch das Meer getragen. Durch die Adria in Istrien und durch den Attersee. Ich habe meine Beine gefragt, ob sie nicht wieder schnorcheln möchten. Jetzt, wo es mit den Bewegungen und der Muskelaktivität so gut klappt, bin ich mir sicher, dass sie wollen. Sie sprechen halt nicht. Na ja, sind ja auch meine Beine. Ich bin ja auch kein großer Redner.
Und da auch in traurigen Geschichten oft ein Funken Humor glimmt, möchte ich noch erwähnen, dass der besondere Schweregrad meiner Erkrankung mit dem Guillain-Barré-Syndrom nicht daran liegt, dass mein Immunsystem so schwach war. Die vollständige Lähmung meines gesamten Körpers vom Hals bis zu den Zehenspitzen über einen Zeitraum von einem guten halben Jahr ist auf die Stärke meines Immunsystems zurückzuführen.
Je stärker das Immunsystem, desto schwerer die Auswirkungen des Guillain-Barré-Syndroms.
Das ist doch ein Witz, oder?
Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, wenn sie das lesen, aber mir bleibt das Lachen im Hals stecken. Mein Humor ist aber trotzdem noch da. Und die Funktionen meiner Arme und Beine ebenfalls, wenn auch noch nicht vollständig.
Also, wieder einmal mein Rat an alle GBS-Patienten:
Gebt nicht auf! Gebt niemals, niemals, niemals auf!
War is over, if you want it!

Samstag, 13. Dezember 2014

Zufriedenheit tötet!

"Man muss zufrieden sein."
Diesen dummen Spruch haben Sie sicher auch schon oft gehört, oder? Ich werde Ihnen jetzt erzählen, warum die Zufriedenheit Sie umbringen kann. Körperlich, aber insbesondere seelisch. Dabei beziehe ich mich nicht nur auf Patienten mit dem Guillain-Barré-Syndrom. Sicher gilt das auch für so manche gesunde Menschen.
Wenn man sich einmal auf das reine Überleben beschränkt, ist das Resultat die totale Resignation. So schreibt der Autor und GBS-Patient David Dakroub in seinem E-Book "Don’t Settle for Surviving - You can Overcome CIDP and GBS too!", dass GBS-Patienten oft kurz vor dem Durchbruch aufgeben. Wenn sich ihr Nervensystem wieder erholt und die Myelinschicht fast wieder aufgebaut hat, legen sie die Hände in den Schoß und brechen die Therapien ab. Sie versinken in einem routinierten Tagesablauf, der ihrem gegenwärtigen Gesundheitszustand angemessen ist.
Der Grund dafür ist laut Dakroub der langsame Genesungsverlauf. Die Fortschritte sind zwar da, lassen aber lange auf sich warten, und dazwischen gibt es lange Phasen des Stillstands. Ich kenne diese Phasen nur allzu gut. Es lagen gute drei Monate zwischen der ersten millimeterkleinen Bewegung meines linken Zeigefingers und der Fähigkeit mit Müh und Not und einem Plastikring als Tellerschutz einigermaßen eine Gabel halten und selbst essen zu können. Ich erinnere ich mich, als ich nach einem halben Jahr Krankenhausaufenthalt am letzten Therapietag eine Dreiviertelstunde brauchte, um ein paar Stückchen Lachsfilet und einige kleine Kartoffeln zu essen. Querbettsitzend, an einen Schaumgummiwürfel gelehnt und unterstützt von der geduldigen Motivation meiner wunderbaren Ergotherapeutin Julia.
Es geht also voran. Warum aber scheitern so viele GBS-Patienten?
Nach meiner Erfahrung sind die drei Hauptgründe für die Resignation vieler GBS-Patienten:

• Der langsame Genesungsverlauf mit langen Phasen des Stillstands.
• Die scheinbar unbewältigbaren Hürden, die es zu überwinden gilt.
• Die Angst vor dem Scheitern.

Gerade der Stillstand, wenn wochen- und monatelang nichts weitergeht, ist so deprimierend. In diesen Phasen fing ich an, an allem zu zweifeln, was mir geholfen hat: Ich zweifelte an der Kompetenz der Ärzte, der Therapeuten, der Menschen, die versucht haben, mich aufzumuntern und zu motivieren, aber am meisten zweifelte ich an mir selbst.
Ich fragte mich, ob ich es überhaupt verdient habe, gesund zu werden und ob ich es wert bin, alle Hürden zu überwinden und als neuer, gesunder Mensch meinen Lebensweg weiterzugehen. Ich war in meinem Leben vor GBS nie ein besonders fleissiger oder umgänglicher Mensch gewesen. Ich konnte nie Freundschaften halten, weil ich sie nicht gepflegt habe, ich habe den größten Teil meiner Jugend mit fernsehen verbracht, ich war ein Nichtsnutz mit großen Erwartungen. Gut, als Grafiker und Autor war ich immer ziemlich talentiert, aber nie fleissig und kommunikativ genug, um aus meinen Begabungen etwas zu machen.
Und so wuchsen meine Selbstzweifel und Versagensängste. Immer mehr wurde ich zum Einzelgänger, fast schon Einsiedler. Diese Selbstzweifel, gepaart mit einem sehr niedrigen Selbstwertgefühl, habe ich noch immer.
Aber inzwischen weiß ich, dass Selbstzweifel und mangelndes Selbstwertgefühl mich in die totale Resignation und Depression führen können, und so kämpfe ich dagegen an. Mit Affirmationen und den ständigen Blick auf meine Erfolge und Fortschritte. Ich weiß, dass es immer besser und besser wird. Aber oft kann ich nicht mehr daran glauben und verliere jede Hoffnung.
Immer noch. Nach eineinhalb Jahren Guillain-Barré-Syndrom. Ich glaube, dass es vielen Menschen mit dieser Krankheit so geht. Der Weg ist einfach so lang und scheint immer länger zu werden. Je weiter man kommt, desto mehr entfernt sich das Ziel.
Aber nur scheinbar. Die Hürden sind nicht unüberwindbar.
Liebe GBS-Leidensgenossen, denkt immer daran. Der Weg zurück ins Leben wird nicht länger, sondern kürzer und das Ziel entfernt sich nicht, sondern rückt immer näher heran. Das eigentliche Problem, das man bei der Krankheit Guillain-Barré-Syndrom hat, ist, dass man den Ausweg aus den Augen verliert.
Das Ziel verschwimmt, wenn man Tränen in den Augen hat.
Was, wenn es nicht klappt? Was, wenn ich nie wieder gesund werde?
Fragen, die ich mir oft gestellt habe und immer noch stelle. Was ist, wenn die Fortschritte so deutlich sind, die Nerven- und Muskelaktivität immer besser wird, alle sagen, dass "es wieder wird" und man eigentlich nichts mehr zu befürchten hat, sich aber trotzdem nichts zu ändern scheint und man glaubt, am Ende des Weges in den Abgrund zu stürzen?
Je mehr Fortschritte ich im Laufe der letzten eineinhalb Jahre gemacht habe, je besser ich mich bewegen konnte, je einfacher es für mich geworden ist, nach Gegenständen zu greifen und je leichter es mir im Moment, im Dezember 2014, fällt, aus dem Rollstuhl aufzustehen, desto größer wird meine Angst, dass doch noch etwas schiefgehen könnte. Aus diesem Grund, und weil sich zwischendurch alles so in die Länge zieht, geben viele Menschen mit Guillain-Barré-Syndrom kurz vor dem Ziel auf und resignieren. Sie verfallen in eine Lethargie und arrangieren sich mit ihrem Zustand.
Nach dem Motto "Besser ewig hoffen als schnell scheitern" geben sie sich damit zufrieden, im Rollstuhl zu sitzen und in Selbsthilfegruppen über ihre Krankheit zu reden, anstatt weiter dagegen anzukämpfen. So wollte und so will ich nicht enden.
Ich will wieder vollständig auf die Beine kommen. Ich will gehen und laufen und springen und schwimmen und stehen und mich hinsetzen und wieder aufstehen können.
Wieder aufstehen.
Oft plagen mich Ängste und Depressionen. Oft vermeide ich das Training außerhalb der Therapiezeiten, weil ich befürchte, ich könnte damit irgendetwas auslösen, insbesondere Probleme mit meinem Katheter. Dann aber wird mir sofort wieder bewusst, dass ich nicht in ein gesundes Leben zurückkehren kann, wenn ich so viele Umwege mache. Das gibt mir zwar nicht den nötigen Motivationsschub, um mich zu schinden, aber es hält mich wenigstens so weit aufrecht, dass die Fortschritte weitergehen.
Aufstehen und weitergehen. Das wünsche ich mir für mich selbst und allen Menschen mit Guillain-Barré-Syndrom.

Samstag, 6. Dezember 2014

Der Geisterarm

In meiner Zeit auf der Intensivstation hatte ich eine Menge unheimlicher Träume und möglicherweise sogar Halluzinationen. Das ist für Patienten mit Guillain-Barré-Syndrom typisch. Was die Albträume und Halluzinationen verursacht ist unbekannt. Es könnten die Medikamente sein oder einfach nur eine Begleiterscheinung der Krankheit.
Interessanterweise hörten diese Träume und Vorstellungen an dem Tag auf, als ich von der Intensivstation auf die Neuro verlegt wurde. Auch während meiner Reha am Gmundnerberg, sowie hier in Altenhof am Hausruck gab es keine Albträume und Halluzinationen mehr. Ich schlafe sehr gut, nur meistens viel zu kurz. Inzwischen habe ich mich aber an fünf Stunden Schlaf pro Nacht gewöhnt.
Den folgenden wiederkehrenden Traum schildere ich, weil er für GBS-Patienten typisch zu sein scheint. Der am Guillain-Barré-Syndrom erkrankte Autor Italo Giovanni Savella schreibt in seinem E-Book "Up from the Abyss  - A journey of personal redemption from the ravages of Guillain-Barre syndrome" über ähnliche Träume und Einbildungen wie ich sie hatte. Dazu gehört auch die im vollen Wachzustand gefühlte Empfindung, die eigenen Beine seien am Bettrand abgewinkelt und hingen auf den Boden. Ich war lange Zeit davon überzeugt, dass das die Wirklichkeit war. Als ich schließlich erfuhr und zur Kenntnis nahm, dass meine Beine ausgestreckt unter der Decke lagen, fühlte es sich für mich trotzdem noch immer so an. Vor meiner Erkrankung hatte ich diesen Traum nie. Zumindest erinnere ich mich nicht daran, glaube es aber nicht.
Das menschliche Bewusstsein und das Unterbewusstsein sind zwei merkwürdige Gesellen. Aber besonders faszinierend ist für mich, dass ich offenbar nicht der einzige Mensch mit Guillain-Barré-Syndrom bin, der solche Träume und Eindrücke hatte. Gerade, weil sie so spezifisch sind. Ich frage mich, ob auch andere GBS-Patienten davon träumten, mit einem zähflüssigen schwarzen Klebstoff mit bestimmten Dingen wie Kugelschreiber oder Handys verbunden zu sein. Auch diese Träume hatte ich oft, genauso wie diejenigen, in denen ich zu Notoperationen in irgendwelche Privatwohnungen gebracht wurde, wo dann an meinen Gedärmen herumgeschnitten wurde. Ich bekam dabei die Schmerzen mit und wurde jedesmal ohne Narkose operiert, weil ich entweder allergisch dagegen war oder sie einfach nicht wirkte. Da ich mich nicht bewegen konnte, war ich völlig hilflos.
Doch nun zum Geisterarm.
Ich glaubte, an meiner rechten Körperseite zwei Arme zu haben. Meinen richtigen, gelähmten und direkt darüber noch einen zweiten, den ich ein bisschen anheben konnte. Ich nannte ihn meinen "Geisterarm". Die Finger konnte ich ebenfalls bewegen. Ich war glücklich darüber, und mein richtiger Arm, den ich nicht einen einzigen Zentimeter anzuheben vermochte, geriet bald in Vergessenheit. Ich freute mich so sehr darüber, dass es mir besser ging und ich auf dem Weg zur Heilung war.
Heute weiß ich nicht mit Sicherheit, ob das nur Träume waren, oder ob ich Halluzinationen hatte. Ich konnte meine Muskeln spüren, die Bewegungen, die ich machte, die Gegenstände, nach denen ich griff. Ich sagte zu einer Krankenschwester, dass ich meinen Arm heben konnte und demonstrierte es ihr. Sie sagte: "Gar nichts können Sie. Sehen Sie doch hin, Ihr Arm liegt tot neben Ihnen."
Ich blickte nach rechts und sah meinen nackten Arm, wie er schlaff und leblos auf der Matratze lag. Der Geisterarm war verschwunden. Ich erschrak, und Traurigkeit überkam mich. Ich glaube, dass das Gespräch mit der Krankenschwester ein Traum war, aber ganz sicher bin ich mir nicht.
Der Geisterarm verschwand. Ich sah ihn niemals wieder. Auch die Lähmung in meinen Armen ist mittlerweile verschwunden.
Was bleibt ist die Erinnerung an eine Zeit des totalen körperlichen und seelischen Stillstands. Eine Statue aus Fleisch, Blut und toten Nerven zu sein.
Aber das Wichtigste, von dem ich mit Sicherheit weiß, dass es keine Halluzination ist, ist der Traum, wieder normal gehen zu können.
Der Traum vom Gesundwerden.

Donnerstag, 4. Dezember 2014

ICH KANN WIEDER GEHEN!

ICH KANN WIEDER GEHEN!

Der folgende Text ist ein Auszug aus meinem Tagebuch, heute, am 4. Dezember 2014, geschrieben. Es ist ein wichtiger Tag für mich, vielleicht sogar der wichtigste seit dem Ausbruch meiner Krankheit im Juni 2013.
     Ich veröffentliche diesen Text, um allen Menschen, die ebenfalls am Guillain-Barré-Syndrom erkrankt sind, Mut zu machen.

     Es gibt einen Weg aus dem Krankenbett und aus dem Rollstuhl!
     Glaubt daran! Arbeitet daran!
     Und das Wichtigste: Gebt niemals, niemals, niemals auf!

ICH KANN WIEDER GEHEN!
     Ich kann es gar nicht glauben, dass ich diese Worte schreiben kann. Heute in der Physiotherapie ist es mir gelungen, am Rollator stehend, den rechten Fuß anzuheben, ein Stück nach vor zu stellen, und dann den linken Fuß ein kleines Stück noch weiter nach vor.
     Nach den Schritten im Stand, die ich schon letzte Woche gemacht habe, waren das heute meine ersten zwei Schritte, die mich ein Stück voran gebracht haben. Sogar den Rollator konnte ich nach vor schieben.
Mein Therapeut Wolfgang hat applaudiert. Später sagte er, jetzt sei es nur noch Trainingssache.
     Heute ist also der große Tag gekommen, an dem ich nach eineinhalb Jahren zum ersten Mal wieder gegangen bin. Der letzt Schritt vor der Krankheit war der Sturz vor dem Bett im Juni 2013.
     Natürlich habe ich auch jetzt wieder meine Zweifel. Wird es mir wieder gelingen? Wird es noch besser werden? Werde ich wieder normal gehen können? Eine innere Stimme antwortet auf alle diese Fragen mit einem klaren Ja!
     Die Füße voreinanderzustellen war heute gar nicht so schwer, nur war ich sehr unsicher und hatte Angst zusammenzubrechen. Darum habe ich mich nicht getraut, noch weiter zu gehen. Aber ich bin mir ganz sicher, dass das noch kommt.
     Allerdings kann ich beide Vorfüße nicht anheben, wenn ich stehe. Ich weiß nicht, ob mir dazu die Kraft fehlt, oder, ob die Nerven noch gelähmt sind. Darum kann ich nicht mit der Ferse zuerst auftreten. Wenn ich im Bett oder im E-Rolli liege, kann ich die Fußrücken allerdings anheben.
     Seit heute ist für mich die Zeit vorbei, in der ich mich gefragt habe: "Werde ich jemals wieder gehen können?" Ab jetzt lautet die Frage für mich: "Wie gut werde ich wieder gehen können, und wie lange wird es dauern?"