Montag, 21. August 2017

Der Knirpsgänger

       
 

Er blickt zum Fenster hinaus und sieht in der Wolkendecke ein hellblaues Band am Himmel. Einige Leute haben gesagt, dass es am Nachmittag schön wird. Wenn das stimmt, und wenn es nicht zu kalt ist, wird er in den Park hinaus fahren. Das blaue Band wird jetzt breiter, und die Wolkendecke bricht auch an anderen Stellen auf. Er vergißt immer, dass hinter den Wolken die Sonne scheint und der Himmel klar ist. Dabei hat er es schon so oft erlebt. Die Wetterprognosen waren falsch. Sie wurden mit sehr viel Sorgfalt erstellt, aber die Ignoranz gegenüber den schon seit vielen Jahren schwankenden Klimazone hat die Vorhersagen verfälscht. Allerdings ist es sinnlos, das den sturen Meteorologen zu sagen. Sie bleiben bei ihrem Standpunkt, denn da fühlen sie sich sicher.

Jede Veränderung der Prognoseerstellung wird abgelehnt, und wenn der Regen nicht einsetzt, obwohl er schon seit einer gefühlten Ewigkeit in der Luft steht, terrorisieren sie den Spaziergänger mit dem aufgespannten Knirps, indem sie ihm Blitze, Sturm und Hagelschlag androhen. Dabei meinen sie es nur gut, die Wetterfrösche mit ihren Unkenrufen. Sie wollen uns dumme Menschlein vor dem allerschlimmsten bewahren, und darum kündigen sie lieber Schlechtwetter an, als Sonnenschein.

Der Blick auf den fernen Himmel war klar, aber dann kam doch wieder eine Wolke und hat das Bild getrübt.

Doch wenn der Feuersturm nicht kommt, obwohl sie ihn schon vor zwanzig Jahren geweissagt haben, wenn der aufgeriebene Boden von selber wieder heilt und das Herz der Erde weiter schlägt, sagen sie, die Aufzeichnungen von früher seien bedeutungslos. Alles was zählt ist der aktuelle Wetterbefund. Und der lässt das Hereinbrechen von Katastrophen befürchten.

Was sie in den Seelen der Wetterfühligen damit anrichten, ahnen sie nicht. Sie haben kein Verständnis für ihn. Jenseits ihrer Wahrnehmung sind die Befürchtungen des Knirpsgängers, die Sonne nie wieder sehen zu können. Fast verzweifelt er und will sich ergeben, damit ihn der Hagel nicht allzu hart trifft. Er hat Angst vor den Blutegeln. Sie sind widerliche Kreaturen, die sich ihre Leiber mit dem süßen Blut vollschlagen. Sie laben sich am Lebenssaft des verängstigten Knirpses.

Eine Heilung für schlechtes Wetter gibt es nicht. Behaupten sie. Dabei verschweigen sie, dass man nur das Gestrüpp entfernen muss, und der Regen kann wieder in die Zellen der Erde eindringen. Das aber darf nicht sein. Wie sollen sie denn da dem Knirpsgänger die Samen des Unkrauts verkaufen, die - einmal geschluckt - das Unterholz noch schneller und üppiger sprießen lassen, bis das Organ des Erdbodens so erschöpft ist, dass es auseinanderfällt.

Dabei müssten sie den Wildwuchs nur ausrupfen und dem Knirpsgänger nahelegen, etwas schneller zu laufen. Wenn er seine Last abwirft, kann auch sein Blut wieder aufatmen.

Doch der Knirpsgänger ist nicht so blöd, wie sie denken. Er reißt sich die Blutsauger einfach von der Haut und wirft sie zurück in den Morast ihres manifesten Paradigmensumpfes. Er beschließt, den Kampf gegen die Vampire aufzunehmen und vertraut ganz fest darauf, dass die Sonne ihre vermeintliche Macht überstrahlt.

Eigentlich ist der Knirps ein Freund des Sonnenscheins. Er neigt nicht dazu, im Regen zu tanzen. Trotzdem rechnet er auf all seinen Wegen immer damit, völlig durchnäßt zu werden. Diese Lebensphilosophie verfinstert zwar oft sein von Haus aus sonniges Gemüt, aber dafür kann ihn ein plötzlicher Regenschauer nicht überraschen. Regentropfen sind eigentlich gar nicht so schlimm. Obwohl sie ihn an seine ungezählten Tränen denken lassen, reinigen sie doch alle Straßen.

So werden alle Himmelsrichtungen - nicht nur die blauen - wieder begehbar und erinnern ihn daran, daß der Weg immer noch da ist. Momentan hat sein Leben wieder einige Stolpersteine vor ihm ausgestreut, aber die werden von seinen Freudentränen weggespült.

So schnell schlägt das Wetter manchmal um, und die Wetterberichte mit ihren Langzeitprognosen und Folgeschäden erweisen sich als Schall und Rauch, an einem Lebenstag voll blauer Himmelsbänder.


Sonntag, 20. August 2017

Ausgerechnet Bananen!

Es war ein verregneter Samstag. Um halb zwölf war die letzte Therapie vorbei, danach habe ich den Rest des Tages damit verbracht, im Foyer im E-Rolli zu sitzen und zu versuchen, mich zu entspannen. Ich war müde, wollte im Foyer aber nicht einschlafen. Ein paar mal wäre ich fast eingenickt, konnte mich aber wach halten und habe dann in ein Notizbuch meine Gedanken über den Verlauf dieser Reha am Gmundnerberg niedergeschrieben. Ich habe einen Cappuccino aus dem Automaten getrunken, gelesen und weiterhin gegen die Müdigkeit angekämpft. Ich habe in der Nacht nur drei Stunden geschlafen. 

Um sechs Uhr werde ich jeden Morgen zum Blutdruck messen aufgeweckt. Ergebnis, wie so oft: 120/ 80. Einmal habe ich mich darüber beschwert und bekam zur Antwort, das sei die Gepflogenheit des Hauses. Ach so. Na dann weiter mit dem Schlafentzug. Wenigstens die unnötige Umlagerung meiner Schlafposition mitten in der Nacht um zwei Uhr konnte ich dem Haus abgewöhnen. Ich bin nicht mehr gelähmt, meine lieben Pflegerinnen und Pfleger, Diplom hin oder her.

So anstrengend die Therapien auch manchmal waren, so langatmig waren die Wochenenden. Leider gehöre ich nicht zu den Menschen, die leicht Kontakte knüpfen oder Freunde finden. Ich habe beobachtet, wie sich andere Patienten miteinander unterhalten und anfreunden. Dafür brauchten sie nur ein- oder zwei kurze Smalltalks. Ich war natürlich wieder einmal völlig unfähig, mich einer Gruppe anzuschließen oder mich wenigstens an einem Gespräch zu beteiligen. Ich rechne schon mit Ablehnung, noch bevor ich überhaupt versuche, Kontakte zu knüpfen. Früher war das oft so, und das verfolgt mich bis heute und sitzt mir tief in den Knochen.

Ich glaube aber, dass der Grund dafür, mich abzusondern und in mich selbst zurückzuziehen, ist, dass die Probleme mit meinem Blutzucker mein Selbstbewusstsein extrem angeschlagen haben. Diskussionen darüber, aber auch über andere Themen, die ich mit einigen der Pfleger, Ärzte und der Physiotherapeutin hatte, haben dazu geführt, dass ich mich von Anfang an in die Enge getrieben gefühlt habe. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass sie mich nicht mögen, weil ich mich ihren Kommandos widersetzt habe. Zudem habe ich einen Langzeitblutzuckertest verweigert, und so wurde nichts aus der Verschreibung von Medikamenten. Werde ich aber nachholen. Zumindest den HbA1c-Test. Für das Geschwader der Pillenbomber stehen die Siegeschancen aber schlecht. 

Und noch ein Wort zum Thema engmaschige Blutzuckerkontrolle: Es ist mein Blut. Es ist mein Zucker. Es ist meine Kontrolle.

Never go effect, sagen die Amerikaner. Werde niemals zur Wirkung. Sei die Ursache, nicht die Wirkung. Ob ich das immer schaffen werde, weiß ich nicht, aber in den letzten vier Jahren mit dem Guillain-Barré-Syndrom habe ich mich strikt daran gehalten. Mir wurde von einem Arzt geweissagt, dass ich vielleicht den Rest meines Lebens von Kopf bis Fuß gelähmt bleiben würde. Leider wusste er nicht, dass es in der medizinischen Fachliteratur hinsichtlich des Guillain-Barré-Syndroms keinen einzigen dokumentierten Fall dieser Art gibt. Hätte er recht behalten, wäre ich in die Medizingeschichte eingegangen. Mist. So ein Pech. Fast wäre ich ein Star geworden. Ich mache auch wirklich alles falsch...

Hier am Gmundnerberg mag es niemand, wenn ein Patient einen eigenen Willen hat und nicht zu einem dankbaren Mitläufer wird. Die Ansicht, die absolute Elite unter allen Rehainstituten zu sein, macht insbesondere einige der Therapeuten arrogant und rechthaberisch. Meine Physiotherapeutin ist der Ansicht, dass meine Stabilität und Ausdauer besser geworden sind. Für ihren Endbefund hat sie hoch präzise standardisierte Tests durchgeführt, wie Hände drücken ohne und mit Widerstand. Na gut, vielleicht hat sie ja einen Chip mit Sensor unter der Haut, der die Daten meines Fortschrittes sammelt, analysiert und ihren Daumen schließlich nach oben oder nach unten dreht. 

Was meine Ausdauer betrifft, gebe ich ihr Recht, eine Verbesserung der Standfestigkeit, wenn ich versuche, frei zu stehen, kann ich aber nicht feststellen. Wenn ich mit dem Gehbock aus dem E-Rolli aufstehe und die Griffe loslasse, habe ich größte Schwierigkeiten, nicht nach hinten umzukippen. Sie meint aber, ich würde nicht mehr so schnell umfallen. Wo sie da einen Fortschritt erkennen will, verstehe ich nicht. Mir fällt sowohl das stehen als auch das gehen schwerer als vor der Reha. Aber na ja, wie man hier in Oberösterreich sagt. Es feigit. A so a Schmoarr' n, a so a bleda.

Für die Statistiken habe ich Fortschritte gemacht, für mein Alltagsleben aber nicht. Bei dem Endbefund der Physiotherapie spielte nur der direkte Vergleich vor und nach der Reha eine Rolle. Beim Blutzucker ebenfalls. Meinungen und Befunde früherer Untersuchungen und Therapien wurden einfach ignoriert. Kein Wort über alternative Diabetes-Therapien ohne Medikamente. Keine Stärkung der Muskelkraft in meinen Beinen durch rein mechanisches Training. Dabei gibt es in der hoch effektiven und unerlässlichen Physiotherapie so schöne Spielsachen: Motomed zur Stärkung der Beinkraft. Beinpressen.

Beides wurde übrigens schon vor vier Jahren während meines Krankenhausaufenthalts in Vöcklabruck angewandt. Damals konnte ich nur meinen Kopf und die Schultern bewegen, aber meine Therapeuten haben mich trotzdem an den Motomed gesetzt, weil sie der Meinung waren, es würde mir viel bringen. Und recht hatten sie. Danke, Olli und Rutti, falls ihr das lest.

Aber jetzt, vier Jahre später, wo ich bei dem Pedaltreter selbst mitstrampeln könnte, geht es aus irgendeinem Grund nicht. Das hätten wir früher einplanen müssen. Da hätten wir von Anfang an ganz anders vorgehen müssen. Da ist Ihr E-Rolli im Weg. Wie bitte? Ja, normale Stühle gibt es schon, ach so, Sie meinen, sie könnten mit dem Gehbock den Transfer in einen Stuhl machen und dann mit dem Motomed. Ja. Gut. Wollen Sie das ausprobieren? Heute geht es aber nicht mehr, und nächste Woche schaut' s auch schlecht aus. Ich würde sagen, wir machen mit dem Gehbock weiter. Möglichst weit, oder? Oder was sagen Sie?

Die Gehversuche am Gang waren purer Stress für mich. Viele Ablenkungen. Leute kamen mir entgegen oder standen im Weg. Die Therapeutin rief mir ständig Kommandos zu. Aufrecht gehen. Brustbein raus. Ganz locker bleiben. Nicht zu sehr am Gehbock abstützen. Gleich lange Schritte machen. Linken Fuß weit vor den rechten setzen. Mit den Absätzen zuerst auftreten. Vorfüße anheben. Becken nach vorne bringen. Ruhig und entspannt atmen. Geht das schneller?

Wie soll ich das bitte alles machen, wenn meine volle Aufmerksamkeit darauf gerichtet ist, nicht hinzufallen? Meinem Physiotherapeuten in Altenhof fällt so etwas sofort auf. Dann passt er die Übung meiner Sicherheit an. Einige Gmundnerberger Übungen, wie das hochstemmen einer 2 kg schweren Hantel hoch über den Kopf und so tief wie möglich in Richtung Boden. hingegen waren sehr effektiv. Da hat mir nicht einmal die Anstrengung etwas ausgemacht. Meine Kraft und Stabilität sind eindeutig besser geworden. Meine Gehübungen waren nichts anderes als reine Sturzvermeidung. Wenigstens das ist mir gelungen.

Aber egal. Die strapaziösen Therapien sind vorbei, die Reha auch. Am Montag werde ich wohl noch einige Therapien auf dem Plan haben, aber besonders anstrengen werde ich mich nicht mehr. Ich werde mich mit meiner Turnlehrerin aber auch nicht weiter über die Frage Fortschritte oder Rückschritte unterhalten. Ich will wenigstens am letzten Rehatag keinen Ärger haben.

Da man mich vor meiner Abreise am Dienstag sicher fragen wird, wie es mir gefallen hat, kann ich den zuständigen Organen meine Enttäuschung und Kritik nicht ersparen. Ich werde mich bei meinen Beschwerden kurz fassen und niemandem die Schuld zuweisen. Trotzdem muss ich sagen, dass ich von dieser Reha enttäuscht bin. Fortschritte habe ich für die Statistiken gemacht, aber nicht für mein Leben im Alltag. Mit den Krücken komme ich nicht einen einzigen Schritt weiter.

Die wichtigsten Kritikpunkte:

•Keine Fortschritte in der Physiotherapie
•Fortschritte durch andere Therapien fraglich (Redcord, Koordinationsgruppe)
•Keine Steigerung bei der Gangsicherheit
•Arroganz und Ignoranz gegenüber meiner Vorgeschichte
•Inkompetenz bei der Stomaversorgung
•Blutzucker-Warnungen haben mich total verunsichert
•Blutzucker-Warnungen haben Optimismus und Zuversicht zerstört
•Kopf nicht frei für Therapien 
•Kein Hinweis auf natürliche Diabetes-Therapien ohne Medikamente 
•Schwächung durch Diät
•Generalisierte Angststörung wurde am Gmundnerberg restimuliert
•Aussicht auf gesundheitliche Verschlechterung 

Nun aber zum Positiven, zum verdienten Lob für die Reha am Gmundnerberg:

Super Aussicht!

Echt jetzt. Berge, Hügel und ein See. Grüne Graserln. Blauer Himmel mit Schäfchenwolken drauf. Das erholsame Idyll des herrlichen Almpanoramas klebt wie Stomapaste am himmelblauen Hintergrund. Kein lästiges Vogelgezwitscher. Keine keifenden Weiber. Nein, ich korrigiere mich: doch keifende Weiber. Sehr viele sogar. Nicht nur, aber taubstumm war keine. Wobei, stumm alleine hätte auch gereicht. Die Herren der Alm waren dafür ziemlich smooth, unaufgeregt und gelassen.

Es gab aber auch liebreizende Damen. Auch Blumen gab' s im Revier, würde Goethe vielleicht sagen. Besonders die Krankenschwestern und Pflegehelferinnen. Nicht, dass die jetzt glauben, sie wären im vorangegangenen Absatz gemeint. Die Pflege am Gmundnerberg war großartig. Wirklich. Ganz ohne Ironie. Pünktlich, schnell und sauber. Trotz Zeitnot und Überarbeitung. Danke!

So. Mir reicht' s. Moment, einen hab' ich noch.

Reha ist meines Wissens nach die Abkürzung für Rehabilitation. Und das bedeutet soviel wie "Wiedererlangung von Fertigkeiten". Gegoogelt habe ich auch. Die WHO meint: „Rehabilitation umfasst den koordinierten Einsatz medizinischer, sozialer, beruflicher, pädagogischer und technischer Maßnahmen sowie Einflussnahmen auf das physische und soziale Umfeld zur Funktionsverbesserung zum Erreichen einer größtmöglichen Eigenaktivität zur weitestgehenden Partizipation in allen Lebensbereichen, damit der Betroffene in seiner Lebensgestaltung so frei wie möglich wird.“

Na ja. Knapp daneben ist auch vorbei.

Und weil' s so schön war, hab' ich noch einen. Das Beste kommt ja bekanntlich immer zum Schluß. Es ist ein besonders süßes Schmankerl aus dem E-Book "Diabetes Adé" von Markus Brandt (cooler Vorname):

Kann die Ausbreitung von Diabetes Typ-2 durch eine Lebensstiländerung gestoppt werden? Die Deutsche Diabetes Stiftung formuliert dazu wie folgt: „Zahlreiche Studien haben gezeigt, dass durch einen veränderten Lebensstil nicht nur die Entwicklung eines Typ-2 Diabetes verhindert werden kann. Mehr noch – mit einer konsequenten Lebensstiländerung kann man  Typ-2 Diabetes sogar loswerden. Mediziner sprechen in so einem Fall von einer Remission, bei der die Blutzuckerwerte – ohne Medikamente – im Normbereich liegen.“

Hmm. Klingt interessant. Normbereich ohne Medikamente. Hat mir hier keiner gesagt.

Oh, nein! Meine Generalisierte Angststörung klopft gerade an und brüllt mir ins Ohr: "Hilfe! Was soll ich jetzt machen? Bin ich rettungslos verloren? Wetzt der Chirurg schon seine Amputationsklinge? Kann nur die Schulmedizin mit ihren Pillen mein Leben retten? Werde ich ein Opfer der dunklen Seite der Macht und muss den Rest meines Lebens Tabletten schlucken, mit denen man jeden Menschen problemlos in ein hypoglykämisches Koma versetzen kann? Ist die medikamentöse Diabetestherapie gar eine Form der Sterbehilfe? Also, Du lebst doch gerne, Markus, oder? Na klar.

Also hör auf, Süßigkeiten und Kohlehydrate in Dich hineinzustopfen, dann brauchst Du keine Medikamente. Diabetes vom Typ 2 ist nichts anderes als eine Kohlehydratintoleranz. Wenn ein laktoseintoleranter Mensch auf den Verzehr von Kuhmilchprodukten verzichtet, passiert ihm nichts.

Wenn ein kohlehydratintoleranter Mensch auf Weißmehl, Reis und Semmeln verzichtet, sich insgesamt gesund ernährt und Sport betreibt, freut sich seine Bauchspeicheldrüse und funktioniert wieder ganz normal. 

Diabetes mellitus Typ 2 ist nichts anderes als eine Unverträglichkeit von Kohlehydraten!"

Das behauptet zumindest die lästige Stimme meiner Generalisierten Angststörung. Oder spricht das Cola aus mir? Versucht es mich gegen die Schulmedizin mit ihren Rezeptblöcken aufzuhetzen?

Ich weiß es nicht. Ich bin ja nur der blöde Patient und muss zittern und bibbern und alles tun, was der Onkel Doktor sagt, weil sonst werden mir alle paar Wochen scheibchenweise die Füße amputiert. Das ist doch ein überzeugendes Argument, oder? Das habe ich kürzlich in einer sogenannten Diabetesschulung gehört. Und auch, dass der Aufbau von Muskelmasse zu einer stark verbesserten Insulinaufnahme führt. Und dass es reicht, den HbA1c-Wert um nur 1% zu senken, um die gröbsten Spätfolgen zu verhindern. Der Vortragende hat auch gesagt, dass er kein Freund der Diabetestabletten ist. 

Also, was mache ich jetzt?

Rehabilitation oder Remission?

Ich bin eindeutig für die Remission. Typ-2-Diabetes loswerden und ohne Medikamente in den Normbereich bringen. Normbereich scheint das neue Wort für Heilung zu sein. Denn Heilung darf es in unserer Welt, die von Wirtschaftsinteressen und unterdrückerischen Personen aller Art regiert wird, ja bekanntlich nicht geben. Wo kämen wir denn da hin? Wie soll man denn, bitteschön, das Machiavellische Prinzip anwenden? Teile und herrsche. Das geht nur, indem wir zuerst einen scharfen Keil in die Gesellschaft treiben. Wir verbieten den Menschen, frei zu denken und frei zu sprechen. Wir ersetzen ihre natürliche Art zu denken und zu reden gegen ein Neudenk und Neusprech. So wie bei George Orwell.

Wehe, es spricht jemand von Heilung! Das heißt jetzt gesundheitlicher Normbereich. Die Lebensfreude haben wir gleichgeschalteten und gehirngewaschenen Sklavenherden längst verloren, aber dafür haben wir jetzt umso mehr Lebensqualität.

Ach was, sollen sie doch. Hauptsache, sie denken nicht nach. Sonst könnten sie ja auf die Idee kommen, die abgrundtiefe Kluft in unserer Gesellschaft mit Heilerde aufzufüllen. Man stelle sich das einmal vor! Alt und jung, klug und dumm, arm und reich, schwarz und weiß, dick und dünn, krank und gesund, füllen das Drecksloch der modernen Zivilisation gemeinsam mit der Erde, die voller Freundschaft, Gemeinschaft, Liebe und Heilung ist.

Wie soll man solchen Querdenkern und Quersprechern denn da noch Gift verkaufen, das sie für Medizin halten? Wussten Sie, dass Metformin die Bauchspeicheldrüse dazu anregt, immer mehr Insulin zu produzieren? Dadurch wird sie noch schneller erschöpft und quittiert schließlich ihren Dienst. Nein? Aber jetzt wissen sie es. Metformin schadet der Bauchspeicheldrüse mehr als der Diabetes selbst.

So. Bin müde. Spät geworden. Das letzte Wort hat meine Diätologin, die mir viel Mut und Hoffnung gemacht hat. Sie hat zu mir gesagt, ich darf ab und zu eine halbe Banane essen.

Ausgerechnet Bananen! 





Freitag, 18. August 2017

Im Reich der Bergaffen

"Uns hält der Arzt, auf dass er lebe,
zwischen Tod und Krankheit in der Schwebe."
- Karl Kraus

Ich werde mich bemühen, in dem Fazit zu meiner Reha am Neurologischen Therapiezentrum Gmundnerberg so sachlich und fair wie möglich zu sein. Das ist für einen Betroffenen nicht leicht, aber ich verstehe, dass die Verantwortlichen, die mich in den vergangenen vier Wochen betreut haben, nur das beste im Sinn hatten. Es liegt wohl vor allem an meiner alten, tief in mir sitzenden Angst vor negativen Konsequenzen, die es mir so schwer macht, meine Probleme und Beschwerden zu schildern. So ist die Kommunikation mit den Pflegekräften, Therapeuten und Ärzten nicht so, wie ich sie gerne hätte.

Hier also eine kurze Zusammenfassung der Ereignisse während meiner Reha:

Die Probleme begannen für mich, als man damit begonnen hat, mir an den Fingerspitzen Blut abzunehmen, um den Blutzucker zu testen. Dabei hat sich herausgestellt, dass er deutlich erhöht ist. In den folgenden Tagen hat man die Prozedur wiederholt und es gab einen ersten Versuch, bei mir ein Tagesprofil zu erstellen. Dabei wird dem Patienten fünf mal an einem Tag Blut aus einer Fingerspitze entnommen und von einem kleinen Messgerät analysiert. Bei diesen Messungen hat mein Blutzucker zwar geschwankt, war aber doch zu hoch. Dieses Tagesprofil habe ich schließlich abgebrochen.

Hier sind die Gründe, die sicher nicht leicht zu verstehen sind:

2015 wurde bei mir eine Generalisierte Angststörung (GAD) diagnostiziert. Ich habe in meinem Blog schon oft über das Thema Angst geschrieben. Zwar hatte ich nie richtige Panikattacken, aber viel hätte sicher nicht mehr gefehlt. Mit Hilfe einer Therapeutin habe ich durch eine Klientenzentrierte Gesprächstherapie meine Ängste sehr gut in den Griff bekommen.

Es ist schwer, die Symptomatik der Angst zu beschreiben. In meinem Fall war es so, dass sich im Verlauf meiner Krankengeschichte ein ständiges, äußerst beklemmendes Gefühl einer ständigen Bedrohung entwickelt hat. Mehrere Faktoren haben dies verursacht.

•Meine Grunderkrankung: Guillain-Barré-Syndrom
•Tetraparese. Die vollständige Lähmung meines Körpers vom Hals abwärts bis zu den Zehen
•Die Ungewissheit über meine Heilungschancen
•Zwei Monate Intensivstation
•Vier Monate Neuro
•Vier Monate Reha
•Probleme mit einem Dauerkatheter
•Eine Tiefenvenenthrombose mit für mich bis dato ungekannter Todesangst
•Der Beginn eines völlig neuen Lebens in Altenhof am Hausruck
•Der Tod meiner Mutter 
•Der Verlust meiner Mietswohnung in Seewalchen am Attersee
•Die Aussicht darauf, den Rest meines Lebens in einem Rollstuhl und in einem Heim verbringen zu müssen
•Ein starker Einbruch meines Selbstwertgefühls und meines Selbstvertrauens

Das sind die wesentlichen Auslöser meines ständigen, wie ein Druck auf mir lastenden Angstgefühls. Die Folge ist, dass schon die kleinsten Veränderungen meine nicht spezifizierbare Angst noch verstärken. Mittlerweile ist das nicht mehr annähernd so schlimm, wie vor vier Jahren, aber dieses Grundgefühl der Angst, das hinter meiner Brust vibriert, ist immer noch da. Immer. Auch jetzt, während ich dies schreibe, obwohl alles in Ordnung ist. Ich liege gerade, leicht aufgerichtet, in meinem Bett im Therapiezentrum Gmundnerberg und versuche, meine Empfindungen und Probleme der vergangenen vier Wochen verständlich zu machen.

Obwohl ich in absoluter Sicherheit bin, habe ich das Gefühl, dass schon in der nächsten Minute etwas schreckliches passieren könnte. Es ist nichts bestimmtes, vor dem ich Angst habe. Die Angst ist einfach nur da. Sie erklärt mir nichts, sie tut nichts, sie hat keinen tatsächlichen Grund. Sie ist einfach nur da und quält mich an manchen Tagen mehr und an manchen Tagen weniger.

Die Blutzuckertests der letzten vier Wochen haben die alten Ängste und Befürchtungen wieder aufgeweckt. Zwar kann ich die Angst durch die Gesprächstherapie und durch Achtsamkeitsmeditation, die ich mir selbst beigebracht habe, gut unter Kontrolle halten, aber sie verhindern bei mir doch ein Grundgefühl der Lebensfreude. Aber ich erinnere mich daran. Und ich weiß, dass ich es wiederfinden werde.

So ungefähr fühlt sich das an. Ich war in den letzten drei Jahren nicht nur auf dem Weg der Besserung, sondern war schon so optimistisch und zuversichtlich, dass ich glaubte, ich stünde kurz vor der endgültigen Heilung. Meine Erwartung war, dass ich hier, am Gmundnerberg, den Feinschliff bekommen würde, um meine sehr erfolgreichen Gehübungen noch zu perfektionieren.

Dann kam die Zuckerfee und hat mir eins übergebraten. Sie hat meine Angst sozusagen karamellisiert. Wer sich schon einmal die Finger an geschmolzenem Zucker verbrannt hat, weiß, wie sich das anfühlt.

Natürlich tun die Ärzte ihr bestes, um mir eine ausgezeichnete Therapie zu ermöglichen, und ich möchte nicht, dass der Eindruck entsteht, ich würde den Ärzten nicht vertrauen. Zu Ärzten habe ich ein generelles Urvertrauen. Mein Vater war praktischer Arzt in Seewalchen am Attersee, meine Mutter war Diplomkrankenschwester, und mein Bruder ist Facharzt für Urologie in Graz.

Trotzdem habe ich die ständigen Blutzuckertests hier als sehr irritierend und beängstigend empfunden. Wir haben uns schließlich darauf geeinigt, noch einmal ein Tagesprofil zu erstellen, mir die Werte aber nicht zu sagen. Daran haben sich dankenswerterweise auch alle gehalten. So hatte ich den Kopf wenigstens einigermaßen frei für die Therapien.

Aber selbst diese Methode konnte nicht verhindern, dass bei der Physiotherapie bei jedem Schritt, den ich mit dem Gehbock und den Krücken machte, die Gedanken an Amputationen, Schlaganfälle und Blindheit mit mir mitgingen. Meine Physiotherapeutin hat mich mehrmals gefragt, warum ich mich unsicher fühle. Ich habe ihr gesagt, dass mich Veränderungen nervös machen. Am Gang kommen mir Leute entgegen, die Therapeutin ruft mir Anweisungen zu, wie meine Schritte länger zu machen, mich nicht zu sehr am Gehbock abzustützen, locker zu atmen, das Brustbein rauszustrecken, mich aufzurichten, ganz groß, noch größer und gerade zu gehen. Und, wenn' s geht, alles noch ein bisschen schneller. Und auf' s schnaufen nicht vergessen.

Mit all dem hat sie ja recht, und es stimmt auch, dass eine verbesserte Rumpfstabilität die Gehfähigkeit verbessert. Dennoch geht bei jedem Meter, den ich zurücklege, mein alter Freund mit der Sense neben mir her und legt eine Hand auf meine Schulter. Und er flüstert mir mit einem Lächeln ins Ohr:

"Geh' weiter, Markus. Geh immer weiter, und gib nie auf. Je mehr du trainierst, desto schneller kommst du zu mir. Und falls du es nicht schaffst, ich bin immer für dich da und mache dir Beine. Schokolade?"

Eine der Stationsärztinnen sagte bei einer Visite zu mir: "Ihr Blutzucker war a bisserl hoch. Aber es besteht kein akuter Handlungsbedarf." Das war ein wörtliches Zitat. Blutzucker ein bisschen hoch, aber kein akuter Handlungsbedarf.

Bei einer Visite letzte Woche, sagte der Primar zu mir: "Ihr Blutzucker war etwas hoch, aber nicht dramatisch." Auch dies ist ein wörtliches Zitat.

Auf die Einschätzung zweier Ärzte werde ich mich ja wohl verlassen können. Das tue ich auch. Den Langzeitzuckertest werde ich nachholen. Selbstverständlich habe ich vor, den HbA1c-Wert bestimmen zu lassen und notwendige Therapien zu machen. Aber ich will zuerst mein Gewicht von 135 Kilo deutlich reduzieren. Ich war bei drei Vorträgen zur Diabetesschulung. In allen drei Veranstaltungen war der Kanon der Information: Man kann den Diabetes mellitus vom Typ 2 durch die Anwendung Dreier Maßnahmen auf das Niveau eines gesunden Menschen bringen. Diese drei Maßnahmen sind, Bewegung, Gewichtsreduktion und Medikamente. Dies wurde auch als Drei-Säulen-Modell bezeichnet.

Ich werde mich vorläufig auf die ersten zwei Säulen stützen und dabei auf' s schnaufen nicht vergessen. Wenn sich dadurch mein Blutzucker nicht unter einen Wert von 7% senken lässt, werde ich auch die Medikamente nicht verweigern.

Meine Zuckerwerte schwanken schon seit zwanzig Jahren mit meinem Gewicht auf- und ab. Je fetter ich bin, desto fetter sind meine Blutzuckerwerte, und je schlanker ich manchmal werde, desto niedriger ist der Blutzucker. Leider ist es mir nie gelungen, ein deutlich niedrigeres Gewicht langfristig zu halten. Man könnte es als das Drama meines Lebens bezeichnen.

Ach ja, noch etwas. In den letzten drei Jahren habe ich meine Ängste, Depressionen und Horrorszenarien in meinem Kopf mit Schokolade und anderen Süßigkeiten bekämpft. 150 bis 300 Gramm pro Tag waren die normale Dosis. Das Resultat war für mich eindeutig. Die Niedergeschlagenheit, das ständige Angstgefühl und die Trauer um meine Mutter ließen mit der Zeit nach. Genauer gesagt, hat die Trauer um meine Mutter nie nachgelassen, ich habe mich nur daran gewöhnt.

Als leichtsinniger Laie halte ich es durchaus für möglich, dass meine jahrelange hochdosierte Schokoladetherapie (oral) zu einer Art chronischer Blutzuckerentgleisung geführt hat. Seit dem 20. Juli habe ich keine Schokolade und auch keine anderen Süßigkeiten mehr gegessen und keine zuckerhaltigen Limonaden mehr getrunken. Heute, während ich diesen Blogpost schreibe, ist der 18. August 2017. Meine aktuellen Blutzuckerwerte will ich noch immer nicht wissen, zumindest nicht, bis ich wieder in Altenhof bin. Ich werde ja sehen, ob mein Süßigkeitenverzicht, meine Diät und viel Bewegung meinen Blutzucker senken.

So ungern ich das sage: Die drei Wochen Reha am Neurologischen Therapiezentrum Gmundnerberg haben mich sowohl physisch als auch psychisch weit zurückgeworfen. Meine Hoffnung, bald den Rollstuhl nicht mehr zu brauchen und wenigstens einigermaßen mit Krücken oder sogar nur einem Stock gehen zu können, ist zerstört. Niemand wollte das. Am allerwenigsten ich.

Gerne würde ich sagen, die Reha war eine schöne Zeit, und ich fahre mit großen Fortschritten und gestärkter Zuversicht wieder nach Altenhof zurück. Das Gegenteil ist der Fall. Meine gesundheitliche Zukunft ist wieder ungewiss, ich fühle mich beim Gehtraining so unsicher wie schon seit zwei Jahren nicht mehr, und mein Traum von Heilung hat sich in einen Albtraum aus Schlaganfällen, Amputationen und Blindheit verwandelt.

In der Hoffnung, dass dieser Traum nicht wahr wird, werde ich in Altenhof bestimmt wieder neue Freude an meinem Dasein gewinnen. Bestimmt wird der Glaube daran, dass für mich noch immer alle Wege offen und begehbar sind, wieder zurückkommen. Ich lasse mich von ein paar finster dreinblickenden Weißkitteln doch nicht fertigmachen und meine Hoffnung zerstören. Bisher ist immer alles wieder gut geworden, und die schlimmsten Prognosen der Ärzte in Bezug auf meine Krankheit Guillain-Barré-Syndrom haben sich alle als falsch erwiesen. Ich habe mich mit sehr viel Hilfe der Menschen in Altenhof wieder auf die Beine gekämpft. Sicher habe ich viele Fehler gemacht, aber die Angst in meinen Knochen hat ein besseres Verhalten verhindert.

Die Angst war weg. Jetzt ist sie wieder da. Aber das ist mir egal. Solche Schwankungen bin ich gewöhnt. Die kommen und gehen wie die Weißkittel mit ihren Pharmaprodukten. Merkwürdigerweise habe ich von alternativen Heilmethoden für Diabetes hier am Gmundnerberg nichts gehört. Woran das wohl liegen mag? Ich will gar nicht darüber nachdenken. Dem Buch "Diabetes adé" entnehme ich jedenfalls, dass Diabetes mellitus auf natürlich Art und ohne Tabletten oder Insulinspritzen vollständig heilbar ist. Auch davon hat man mir nichts gesagt. Na, das wird schon einen Grund haben. Alles ziemlich verwirrend.

Nichts ist aus meinem Traum geworden, durch die Heilkräfte des sagenumwobenen Gmundnerbergs fröhlich über die Almwiesen mit ihren saftigen Graserln und Kräuterln zu tanzen und vierblättrigen Klee zu pflücken. Dreiblättriger hätte mir schon gereicht, aber nicht einmal dafür hatte ich genug Glück. 

Na ja, so verlasse ich das Gebirge mit seinen Wetterumschwüngen wieder. Komisch finde ich, dass ich hier nirgendwo Kühe, Ziegen oder Hirsche gesehen habe. Oder habe ich nicht genau genug hingeschaut? Vielleicht haben sie mich ja geradezu umzingelt, aber ich habe es zu spät bemerkt. Egal. Hauptsache, sie beißen nicht. Sie wollten mich ja nie in ihre Hackordnung eingliedern, mich zu einem Mitläufer ihres Rudels machen oder mir Disziplin vor den Leitwölfen einbläuen. Ich hatte auch nie das Gefühl, dass einige der blauen Kragenbären mich bevormunden oder einfach nur wegbeißen wollten. Davor haben mich die wundervollen himmelblauen Schutzengel bewahrt. Nicht, dass ich mich nicht verteidigen könnte.

Aber eines beruhigt mich dann doch: Gut, dass es im Gebirge keine Bergaffen gibt, sonst hätte ich bei meiner Abreise das Gefühl, in die menschliche Zivilisation zurückzukehren.

Sonntag, 13. August 2017

Der Optimistkäfer

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Heute berichte ich von meinem aktuellen Rehaaufenthalt. Es ist eine kurze Geschichte über Träume, wie man sie erfüllt und wie man sie platzen lässt. Über Hoffnung, Aufmunterung und unglaubliche Fortschritte. Schweiß und Blut sind auch dabei. Und Sie erfahren etwas über Mistkäfer und warum sie zu Recht den Ruf haben, Glücksbringer zu sein.


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Physiotherapie. Hoffnung der Gelähmten. Ein Behindertensport. Zeitreise zurück an die Sprossenwand. Ich glaube, ich muss gar nicht erst versuchen, diese Heilkunst zu definieren. Außerdem verstehe ich zu wenig davon.


Aber eines weiß ich besser als alle Physiotherapeuten der Welt.


Ich weiß, was Physiotherapie nicht ist, was keine Fortschritte bringt und Hoffnung zerstört. Mit Therapeuten zu diskutieren ist sinnlos. Jeder Vorschlag wird abgewehrt, jede Frage ignoriert. Der Therapeut hat immer recht. Die Meinung des Patienten ist bestenfalls dazu da, belächelt zu werden.


Durch das viele aufstehen und hinsetzen in der Physiotherapie hat sich bei mir am linken Unterschenkel die Haut aufgerieben. Das ist nicht erst hier am Gmundnerberg passiert. Das Problem kenne ich schon aus der Physiotherapie in Altenhof. Meine Therapeutin auf der Gmundner Alm hat zwar Verständnis, macht aber keine Anstalten, meinen Übungsplan zu ändern. Alles, was sie mir sagt, ist, ich solle aufpassen. Ob ich die Stelle regelmäßig ansehen lasse, hat sie mich gefragt. Ja, habe ich gesagt, sie wird immer bei der Morgenpflege und der Abendpflege überprüft.


Was ich in weiterer Folge während dieser Reha machen werde, weiß ich noch nicht. Ich sollte am besten keinen Therapien mehr zustimmen, bei denen ich mich am Bein aufreiben könnte, bis es durch den Stützstrumpf blutet. Das würde aber für alle Übungen in der Physiotherapie gelten. Ich wetze mit dem Bein ja nicht nur beim aufstehen an der Kante der Fußschiene aus Metall. Bei den Übungen in der Gruppentherapie Koordination ist es ähnlich, nur mit dem Unterschied, dass ich dabei sitze und wetze. Wenn ich in der Physiotherapie nicht mehr aufstehen kann, kann ich gleich ganz damit aufhören. Dazu sei noch gesagt, dass meine Therapeuten hier von der blutenden Wunde nichts wussten.


Wenn ich die Beinkraft anders trainieren könnte, hätte ich weniger Probleme und Frust. Der Motomed wäre ideal, aber auch die Beinpresse. Bei der Presse ist es schwierig, mich draufzusetzen. Das ist ein kleiner Sitz, umgeben von Sicherungen, wie Haltegriffen oder erhöhten Rändern. Da komme ich nicht drüber. Das war schon in Altenhof ein großes Problem. Beim Motomed sind die Fußstützen meines E-Rollis im Weg. Die kann man zwar auf sehr umständliche Art abnehmen, aber ich bin mir nicht sicher, ob es dann funktionieren würde. Oder ich setze mich auf einen normalen Sessel, doch da werde ich sicher nicht hineinpassen oder er würde zusammenbrechen.


Es bleibt also aussichtslos, hier auch nur den geringsten Fortschritt zu machen.


Nach 20 Minuten Physiotherapie bin ich schon so erschöpft, dass es mir oft nicht gelingt, noch einmal aufzustehen, um eine letzte Übung zu machen. Besonders, wenn ich mit den Krücken trainiere, ist es so gut wie unmöglich. Ich fühle mich unsicher, habe wieder meine alte Angst hinzufallen, die mich schon seit vier Jahren verfolgt. Ich kann niemandem richtig verständlich machen, dass das wackelige aufstehen aus dem E-Rolli mit dem Gehbock für mich auf extreme Art und Weise beängstigend ist. Und dadurch, dass meine Sicherheit bei dieser Reha nach und nach abgenommen hat, weil ich nur Misserfolge erlebe, wird es noch schlimmer.


Ich schwitze, atme schwer, schnaufe, verziehe mein Gesicht und möchte am liebsten im Erdboden versinken. Vielleicht versteht auch das niemand. Es ist mir einfach unangenehm und überaus peinlich, einen derartig jämmerlichen Anblick zu bieten. Zusätzlich gehen in unmittelbarer Nähe ständig Leute vorbei. Patienten und Therapeuten. Und ich mitten drin: zittrig, unsicher, mit rotem Kopf, ängstlich wie der allerletzte Feigling und schweißgebadet, dass es mir aus dem Gesicht auf den Boden tropft. Ich muss sogar noch darauf achten, nicht auf den eigenen Schweiß am Boden zu treten. Einmal wäre ich fast ausgerutscht, konnte mich aber noch fangen.


Auf diese Art lege ich zuerst fünf Meter zurück, mache eine Pause, indem ich mich in den E-Rolli setze, wuchte mich wieder hoch und schürfe mir dabei meinen linken Unterschenkel noch mehr auf. Meine zu weite Trainingshose rutscht immer weiter nach unten. Ab und zu sagt die Therapeutin zu mir, sie müsse mir die Hose wieder raufziehen. Meine Hosenträger habe ich in Altenhof vergessen, und die beiden engeren Trainingshosen, die gut sitzen, sind nicht immer für mich verfügbar, weil sie in der Wäscherei sind. Ich mache weiter, schleppe mich so gut wie möglich voran. Wieder fünf Meter. Wieder hinsetzen. Wieder aufschürfen.


Dann die nächste Etappe, abermals mit aufreiben des Unterschenkels. Gehen, aufpassen, nicht hinzufallen, Schweiß, Unsicherheit, immer wieder Schrecksekunden, wenn ich glaube, nach hinten umzukippen. Um den jeweils nächsten Schritt zu machen, muss ich mich zuerst so gerade wie möglich hinstellen und mein Gleichgewicht finden. Ansonsten würde ich wahrscheinlich stolpern oder einfach nur nach hinten umkippen. Also weiter. Ich überwinde mich zu jedem neuen Schritt und bemerke, dass meine Bewegungen kein richtiges gehen oder trainieren sind, sondern lediglich Unfallverhütung.


Meine Physiotherapie ist reine Sturzvermeidung. Genau so habe ich mich vor eineinhalb Jahren in Altenhof gefühlt, als ich mit dem Gehbock angefangen habe. Mein Therapeut hat mich immer wieder ermutigt, nicht aufzugeben, und mit seiner Hilfe habe ich es dann geschafft, mit großer Anstrengung aber ohne Sturzangst, von meinem Zimmer bis in den Speisesaal zu gehen. Das sind ungefähr 150 Schritte. Jetzt ist für mich wieder jeder Schritt, als würde ich über einen Abgrund balancieren.


Dazu kommen die ständigen Ermahnungen meiner Turnlehrerin, ich solle gleich große Schritte machen, einen Fuß weit und dann noch weiter vor den anderen setzen, mich so wenig wie möglich am Gehbock abstützen, aufrecht gehen, das Brustbein rausstrecken, nach vorne schauen und nicht auf den Boden, gleichmäßig und tief atmen, das Becken nach vorne strecken, die Knie und die Vorfüße anheben, und zwar richtig, kein Hohlkreuz machen, mit der Ferse zuerst am Boden auftreten, die Schuhspitze nicht über den Boden schleifen, und als krönenden Abschluss stellt sie mir noch die Frage, ob das alles vielleicht ein bisschen schneller geht.


Irgendwie schaffe ich auf diese Art knapp 30 Meter. Und da ich mich sehr anstrenge, sogar noch ein bisschen schneller. Dann falle ich wieder zurück in meinen E-Rolli und überprüfe meinen Aggregatzustand: flüssig. Ohne Scherz. Nach zwanzig Minuten Physiotherapie könnten Sie mich in Flaschen abfüllen und in den Traunsee schütten.


Und noch etwas: Die Therapeutin perfektioniert meine heutige Physioeinheit mit der Empfehlung, ich solle das alles doch zu Hause auch machen. Denn, wenn ich nur einmal im Jahr auf der Reha trainiere, war alles nutzlos. In Wirklichkeit ist es aber genau umgekehrt. In meinem neuen Zuhause in Altenhof am Hausruck funktioniert das alles einwandfrei. Dort hat man mich wieder auf die Beine gebracht, nicht hier. Meinen Therapeuten und allen Mitarbeitern bei assista Altenhof gebühren die Lorbeeren.


Hier, auf der Reha, ist es nutzlos.


Ohne Zweifel, diese Therapeutin hat mit allen ihren Anregungen und Vorschlägen sicher recht. Ich habe keine Probleme damit, ihre Kompetenz zu akzeptieren und zweifle sie auch nicht an. Ich kenne die Techniken der Bewegung und die Tipps der Physiotherapeuten inzwischen zur genüge. Aber für mich ist das alles, als würde man einem Ertrinkenden den Rat erteilen, sich doch bitte gerade aufzurichten, die Brust rauszustrecken, die Füße anzuheben und einfach über das Wasser zum rettenden Ufer zu wandeln.


Ich schaffe das alles nicht so einfach. Dazu fehlen mir die Kraft, die Koordinationsfähigkeit, die Feinmotorik, aber vor allem die Motivation. Darum habe ich große Hoffnungen in das Pedaltreten am Motomed gesetzt. Jetzt aber stellt sich heraus, dass das in dem supermodernen, weltweit höchst angesehenen und kurz vor der Heiligsprechung stehenden Neurologischen Therapiezentrum Gmundnerberg nicht möglich ist. Egal. Ich nehme andere, aber dafür effektive, Therapievorschläge gerne entgegen. Ich will wieder auf meinen eigenen Beinen stehen und gehen können. Das ist alles, was ich mir vom Gmundnerberg erhofft habe. Daran arbeite ich jetzt schon seit Juni 2013.


Die vollständige Heilung und Wiederherstellung der Gehfähigkeit ist bei der Krankheit Guillain-Barré-Syndrom absolut möglich. Viel habe ich schon erreicht, aber ohne die Hilfe, die Unterstützung, die Aufmunterung und den Humor der Belegschaft von assista Altenhof hätte ich keinen einzigen Schritt gemacht. Eine Pleite wie jetzt habe ich in den letzten vier Jahren noch nicht erlebt. Daran trägt niemand die Schuld. Auch ich nicht.


Aber ich bleibe optimistisch. Eigentlich mag ich diesen Ausdruck nicht, weil in ihm das Wort Mist steckt. Eine zuversichtliche Einstellung zum Leben ist aber auf jeden Fall gut. In Ägypten war der Mistkäfer heilig. Er hat nie aufgegeben, sondern seine Kugel immer weiter und weiter gerollt. Dabei hat er sich im Rückwärtsgang bewegt, aber die Kugel stetig vorangebracht. Er folgte dem Lauf der Sonne und half ihr so, im Osten wieder aufzugehen.


Der Mistkäfer Skarabäus war die Verkörperung des Ptah, dem Gott der Erneuerung. Skarabäus war das Symbol der Auferstehung und des Lebens. Er symbolisierte Re, den Sonnengott und dessen Erscheinungsform Cheper, die Morgensonne. Als Herr aller Götter und höchster Schöpfergott, der Allvater, war Ptah-Skarabäus in anderen Kulturen identisch mit Brahma, Zeus, Teutates, Jupiter und Odin.


Was soll ich noch sagen? Ich bleibe Optimist. Beim Teutates!

Donnerstag, 10. August 2017

Still sitzen

Still sitzen
Nichts tun
Der Frühling kommt
Das Gras wächst

Aus dem Zen-Buddhismus
(https://www.aphorismen.de/zitat/23810)

Anfang dieses Jahres habe ich begonnen, eine Form der Meditation auszuprobieren, die als Achtsamkeit bekannt ist. Man könnte sagen, dass die Achtsamkeit momentan in aller Munde ist. Seit einigen Jahren schon breitet sich diese Entspannungstechnik, ausgehend von den USA, auch in Europa aus. Der eigentliche Ursprung liegt natürlich in Asien. Entsprechende Methoden, seinen Körper und seinen Geist von negativen Einflüssen zu reinigen, sind schon in den Veden beschrieben, Jahrtausende alten indischen Weisheitsbüchern. Formen der Achtsamkeit findet man im Hinduismus, Taoismus, Buddhismus, im Zen und in der verwestlichen Form, die man in Amerika als Mindfulness kennt.

Sehr vereinfacht dargestellt, geht es bei der Achtsamkeit darum, seine volle Konzentration auf den gegenwärtigen Augenblick zu richten. Wenn mich jemand fragen würde, was Achtsamkeit ist, würde ich sagen: Konzentriere dich nur auf das, was jetzt gerade passiert. Alles andere muss dabei außer acht gelassen werden, insbesondere die Bewertung des Geschehenden. Sie verlieren im Augenblick der Beurteilung an Achtsamkeit. Die Überwindung der persönlichen Interpretation und die Hinwendung der Aufmerksamkeit auf das, was gerade ist. Das ist Achtsamkeit.

Wenn du gehst, geh. Wenn du lachst, lache. Wenn du liebst, liebe. Wenn du stirbst, stirb.

Die Bewertung eines Geschehens als gut oder schlecht, angenehm oder unangenehm, schön oder hässlich, entfremdet den Geist von der Achtsamkeit. Die Ereignisse geschehen einfach. Das ist alles. Und alles andere ist Ablenkung. Irritation. Geistige Fehlsichtigkeit. Achtsamkeit ist der konzentrierte punktuelle Blick auf das Jetzt.

Und all das ist falsch. Glauben Sie mir nicht. Achtsamkeit lässt sich nicht definieren, denn das wäre bereits eine Bewertung. Nichts ist wertvoller als etwas anderes. Es ist auch nicht schrecklicher oder jünger. Es ist einfach da, und das ist Achtsamkeit. Und all das ist falsch.

Wenn Sie Achtsamkeit ausprobieren wollen, versuchen Sie es so: Setzen oder legen sie sich so entspannt wie möglich hin. Lockern Sie Ihren Körper, Ihre Gedanken und Ihren Geist. Atmen Sie tief, langsam und ruhig. Sie brauchen weder eine Yogamatte, noch Räucherstäbchen, noch Meditationsmusik und auch keine Aufnahmen von zirpenden Grillen, nächtlichem Regen oder Meeresrauschen. Es sei denn, Sie wollen sich bewusst und achtsam genau darauf konzentrieren.

Nützlich ist ein Fixpunkt, auf den Sie Ihre Aufmerksamkeit richten können. Ich schließe am liebsten die Augen und suche mir ein kontinuierliches Geräusch, das sich nicht verändert. Während ich dies schreibe, weht draußen ein Wind und lässt die Leine einer Flagge an einen Fahnenmast schlagen. Ideal für Achtsamkeitsmeditation. Was ich auch mag, ist jede Form von undefinierbarem Klang. Wenn Sie sich einmal bewusst darauf konzentrieren, werden Sie feststellen, dass in Ihrer Umgebung irgendetwas surrt, zischt oder piept. Vielleicht tropft ein Wasserhahn oder Sie hören das Geräusch einer Klimaanlage. 

Verwenden Sie das. Konzentrieren Sie Ihre Achtsamkeit auf den Rasenmäher vor Ihrem Haus. Mit der Zeit werden Sie bemerken, dass Sie noch ruhiger werden. Verharren Sie in diesem Zustand. Hören Sie ein entferntes Donnergrollen oder eine Kreissäge, ein vorüberfahrendes Auto, einen bellenden Hund und so weiter. Spüren Sie die Empfindungen an Ihrer Haut. Kühl, heiß, egal was. Wenn Sie im Frühling die Geräusche, die Gerüche und den Anblick der Natur um sich herum wahrnehmen, tun Sie nur das. Nehmen Sie wahr. Bewerten Sie den Augenblick nicht als schön, erholsam oder friedlich. Mit etwas Übung können sie das Geräusch eines Bohrers in der Wand Ihres Nachbarn genauso neutral beobachten.

Es geschieht einfach, und das ist alles.

Und wozu das alles? Wenn Sie regelmäßig Ihre Übungen in Achtsamkeit machen, werden Sie feststellen, dass Sie insgesamt gelassener, ruhiger und zuversichtlicher werden. Sogar in extremen Situationen. Das klingt wie die Lösung für alle Probleme, oder? Natürlich ist sie das nicht, da es keine Lösung für alle Probleme gibt. All das ist übrigens falsch.

Mit der Zeit können Sie auf diese Art lernen, körperliche Schmerzen besser zu ertragen. Wenn Sie nächstes Mal einen unangenehmen, vielleicht sogar starken, aber harmlosen Schmerz spüren, beobachten Sie ihn einfach nur achtsam. Aber ignorieren Sie den Schmerz nicht. Bewerten Sie den Schmerz nicht als stark, schrecklich, bohrend, ziehend oder stechend. Auch nicht als bedrohlich, gefährlich oder schicksalshaft. Wenn Sie sich sicher sind, dass der Schmerz zwar stark, aber ungefährlich ist, lösen Sie Ihre persönliche Anteilnahme von ihm.

Beobachten Sie den Schmerz als Schmerz. Nichts weiter.

Achtsamkeit führt zu Gelassenheit in allen Lebenslagen. Es gibt nur eine Gefahr, auf die Sie achten sollten. Schon nach wenigen Wochen könnten Sie bemerken, dass Sie sich selbst, aber auch anderen Menschen gegenüber, gefühllos werden. Wenn Sie Ihre Sorgen, Probleme und Krankheiten damit lindern können, ist das gut. Gefährlich wird es, wenn Ihnen vollkommen gleichgültig ist, was mit Ihnen passiert. Glauben Sie mir, diesen Zustand gibt es. Es ist ein gefährliches Land. Ich war dort.

Leiden Sie? Natürlich. Jeder leidet. In unserer verrückten Zeit haben wir nur verlernt, unser Leid einzugestehen. Das ist übrigens nicht dasselbe wie jammern. Wobei, auch das kann ab und zu ganz gut tun. Vielleicht leiden Sie an einer undefinierbaren, Sie umklammernden Angst. Oder an Schmerzen, körperlichen wie seelischen. Möglicherweise leiden Sie an einer chronischen Krankheit, die Sie Ihr Leben kosten könnte. Oder auch nur unter einer Fliege in Ihrem Schlafzimmer. Allerdings ist das unmöglich. Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, dass es eine Fliege gar nicht gibt? Es sind immer zwei oder drei oder mehr. Aber es ist nie eine einzige, denn die wäre ja erträglich.

Ich schweife ab. Sie auch, weil Sie noch immer weiterlesen. Genau das passiert auch während der Achtsamkeitsmeditation. Die Gedanken bewegen sich in alle möglichen Richtungen. In der Psychologie bezeichnet man das als Freie Assoziation. Und das ist das genaue Gegenteil von Achtsamkeit.

Achtsamkeit schenkt Frieden.

Nehmen Sie einfach nur wahr, was geschieht und denken Sie nicht weiter darüber nach. Fünf Minuten am Tag reichen. So lange Sie wollen.

Nehmen Sie einfach nur wahr, was um Sie herum und in Ihrem Körper geschieht. Denken Sie nicht weiter darüber nach. Sein Sie einfach nur. Haben Sie schon einmal versucht, einfach nur zu sein? Nicht da sein, nicht präsent sein, nicht achtsam sein.

Einfach nur sein.

KWATZ!


       
  


Mittwoch, 9. August 2017

Der Schwarm

In einem Punkt habe ich mich in den vergangenen drei Jahren sehr verändert: Ich kippe psychisch nicht mehr sofort um, wenn mir ein Arzt eine schlechte Nachricht übermittelt. Im aktuellen Fall geht es um Diabetes Mellitus. Es gibt zwar keine Diagnose, aber aufgrund eines erhöhten Blutzuckerspiegels im nüchternen Zustand liegt der Verdacht zumindest nahe.


Alles kein Drama. Die Ärzte bestätigen meine Vermutung, dass ich meine Blutzuckerwerte durch Ernährungsumstellung, Gewichtsreduktion und intensives Training deutlich verbessern kann. Eine drastische Senkung des Blutzuckers, in Milligramm pro Deziliter gemessen, wäre dadurch sicher möglich. Mein Blutzucker hat sich schon immer meinem Gewicht entsprechend verändert. Je dicker ich war, desto höher der mg/dl-Wert. Je mehr Gewicht ich verloren habe, desto niedriger war er. Ich habe zwar keine alten Befunde griffbereit, erinnere mich aber daran, dass das schon vor zwanzig Jahren so war. Langzeitschäden eines erhöhten Blutzuckers habe ich keine. Meine Wundheilung ist sogar außergewöhnlich gut.


Bisher habe ich die Bestimmung des Langzeit-Blutzuckerwertes (HbA1c) verweigert. Ich weiß, dass es nicht üblich ist, dass ein Patient versucht, die Diagnose zu verhindern, aber hier geht es um nichts anderes als mein Seelenheil. Das klingt vielleicht dramatisch, ist aber so. Mein Selbstwertgefühl war durch meine eigentliche Erkrankung, dem Guillain-Barré-Syndrom, lange Zeit am Boden.


Ich war vom Hals abwärts bis zu den Zehen vollkommen gelähmt. Etwa ein Jahr lang. Innerhalb der folgenden drei Jahre ist es mir durch die Hilfe meines Physiotherapeuten, meines Ergotherapeuten sowie der wunderbaren Mitarbeiter in dem Behindertendorf in Altenhof am Hausruck gelungen, meinen Oberkörper, meine Arme und Hände wieder normal bewegen zu können. Ich kann Gegenstände ergreifen, aufheben, verwenden, und auch das heben einer Packung mit sechs 1,5-Liter-Flaschen Coca-Cola Zero ist kein Problem mehr für mich.


Ich habe Lebensmut, Freude an meiner kreativen Arbeit als Grafiker und dem Schreiben von Blogartikeln, Kurzgeschichten und Romanen wiedergewonnen. Ich bin zu einem neuen Menschen geworden, der gelernt hat, gesundheitliche Probleme, persönliche Katastrophen sowie eine diagnostizierte Generalisierte Angststörung zu bewältigen.


Kennen Sie den Zustand einer Generalisierten Angststörung?


Stellen Sie sich folgendes vor: Sie erwachen frühmorgens mit einem Gefühl einer beklemmenden Bedrohung. Selbst, wenn es Frühling ist, die Sonne scheint, die Vögelchen in den Nussbäumen vor Ihrem Fenster zwitschern und die ganze Welt ein riesiger vor Schmalz triefender Kitschbrocken ist. Hinreißende Krankenschwestern säuseln Ihnen ins Ohr, was heute doch für ein herrlicher Tag sei und nur Mut und wir schaffen das und das wird schon wieder. Eigentlich müsste Ihnen die Lebensfreude aus sämtlichen Poren Ihrer Haut tropfen.


Sie haben aber keinen Sinn für die wunderschöne Welt und das zauberhafte Idyll rund um sie herum. Sie liegen in Ihrem Bett, starren an die Zimmerdecke, und es kommt Ihnen so vor, als würde Ihre Brust vibrieren. Sie spüren ein helles und kaltes Zittern hinter Ihrem Brustkorb, wissen aber, dass Ihr Herz völlig in Ordnung ist. Trotzdem fühlt es sich so an, als würde unter Ihrer Haut ein Schwarm von Insekten wuseln. Und selbst, wenn die Krankenschwestern Ihr Zimmer wieder verlassen haben, sind Sie nicht allein. Ein alter Freund besucht Sie.


Ihr Freund kann fliegen. Er ist sogar ein wahrer Meister in dieser Disziplin. Mit kühler Eleganz schwebt der Tod über Ihnen. Er legt sich sanft auf Ihre Haut und begrüßt Sie. Er will Sie aber nicht umbringen, zumindest jetzt noch nicht. Er will Ihnen nur zu verstehen geben, dass er immer für Sie da ist.


Sie wollen ihn abschütteln, den Tod, aber das lässt er nicht zu. Nicht, weil Sie gelähmt sind. Sie könnten zappeln und um sich schlagen als hätten Sie die Tollwut. Es hat nichts mit Ihrer Lähmung zu tun.


Der Tod lässt Ihnen die Angst in die Knochen kriechen. Eigentlich gibt es gar keinen Grund, sich zu fürchten. Sie sind auf dem Weg der Besserung, und wir schaffen das, und das wird schon wieder. Nur Mut. Nur Geduld. Aber es ist schwer, geduldig und mutig zu sein, wenn sich die eigene Haut um den Körper spannt wie ein Leichentuch.


Das Guillain-Barré-Syndrom hat Sie zu einem Geschöpf gemacht, das nur aus Haut und Hirn besteht. Sie können denken, aber sie spüren nichts. Sie spüren nicht, wie Ihre Mutter Ihre Hand streichelt und zu Ihnen sagt: "Nicht verzagen. Nicht verzagen." Hoffnung und Trost. Ein Jahr später stirbt Ihre Mutter. Von da an untröstlich.


Dieser Insektenschwarm der Angst lebt die folgenden Jahre in Ihnen weiter und legt Eier. Es ist nicht nur ein beklemmendes Gefühl am frühen Morgen, direkt nach dem aufwachen. Diese Bedrohung, diese Angst zu sterben, begleitet Sie mit jedem Atemzug. Es ist ständig da. Ununterbrochen, vierundzwanzig Stunden am Tag. Selbst im Schlaf.


Das einzige, was Ihre Angst gelegentlich unterbricht, ist das blanke Entsetzen, das sie empfinden, wenn Sie am nächsten Tag aufwachen und noch immer leben. Dabei wollten Sie doch weiterschlafen. Für immer.


Wenn der Gedanke an das Leben schrecklicher ist als der Tod.


DAS ist eine Generalisierte Angststörung.


Ach so, fast hätte ich es vergessen: Die Lähmung, die Angst und der Tod waren schon fast verschwunden. Mein alter Freund ist zum nächsten Patienten weitergezogen und hat seine Helfershelfer mit ihren Nadeln, Kanülen und Diagnosen ratlos zurückgelassen. Aber die lassen sich nicht einschüchtern. Mit einem scharfen zischen aus ihren insektoiden Tracheen rufen sie die Angst und den Tod wieder zurück.


Und der Sensenmann atmet zufrieden auf. Er freut sich, dass er noch nicht zum alten Eisen gehört. Seine Klinge wetzt er wieder und singt sein altbekanntes Lied.


Ich bin immer für dich da.


 

Montag, 7. August 2017

Reha der Rückschritte

Ich bin ein Mann aus den Bergen. Im steirischen Mariazell geboren, bin ich zwar nie zu einem richtigen Bergfex geworden, aber alle paar Jahre zieht es mich auf die Alm. So auch in diesem Jahr.

Ich wohne in einer heimeligen kleinen Almhütte nahe eines im Sonnenlicht funkelndes Sees und im drohenden Schatten eines großen und finster dreinschauenden Berges namens Traunstein, dessen unzählige Todesopfer diesem majestätischen Brocken eine unheimliche Wirkung verleihen.

Trotzdem, die Aussicht ist fucking awesome. Der Kotzklumpen und der darunterlegende Tümpelteich bieten einen grotesk-schönen Anblick. Das einzige, was mich daran stört, ist, dass man den Traunstein und die umliegenden Berge nicht schon längst weggesprengt hat, damit ich das Meer sehen kann. Geht aber nicht. Die nötigen Sprengmittel gibt es zwar, aber die Himmelsrichtung stimmt leider nicht. Da helfen selbst Neutronenbomben nicht weiter. Die Adria ist im Süden.

Und ich bin auf Reha.


Mein Tagesablauf sieht etwa so aus:


6:00 Ich werde aufgeweckt, und mir wird der Blutdruck gemessen. Gepflogenheit des Hauses, hat man mir gesagt. Ich frage, ob man die Gepflogenheit nicht auf ein paar Stunden später verlegen könnte. Nein, sagt die nette Diplomschwester, das machen wir bei allen Patienten so. Die Anregung, die Gepflogenheit des Hauses bei allen Patienten auf ein paar Stunden später zu verlegen, stelle ich lieber nicht. Diplomschwestern sind meistens mit einem Blutzuckermessgerät bewaffnet. Und darauf habe ich wirklich keinen Bock mehr, Freunde. Okay?


7:30 Frühstück im Bett. 1 Grahamweckerl mit zwei Scheiben Schinken und zwei Scheiben Käse. Geht so. Trocken und körnig. Frisch, saftig, steirisch wäre mir lieber. Ist aber nicht gut für mich. Zu fett. Ich. Vollkornprodukte sind die Empfehlung meiner Diätologin. Hoffentlich verhungert die nicht irgendwann.


8:15 Morgenpflege. Je nach Personal mehr oder weniger chaotisch. Ich bin dabei zwar ausgesprochen gestresst, aber dafür wird alles ausgezeichnet gemacht. Danach bin ich zwar erschöpfter als nach der Physiotherapie, aber dafür gut versorgt und fit wie ein Stützschuh.


9:00 1. Therapieeinheit. Meistens Ergo. Ich staple kleine Holzwürfelchen übereinander, drücke Löcher in Knetmasse, balanciere mit Murmeln, stecke kurze Stöckchen in kleine Brettchen. Ich frage mich, wie lange es noch dauert, bis ich die Stöckchen apportieren muss. Die Feinmotorik meiner Finger hat sich seit Beginn dieser Therapie vor zwölf Tagen nicht verbessert. Sonst übrigens auch nichts. 


10:30 2. Therapieeinheit. Physio oder Ergo. Strampeln an der Sprossenwand. Ich kann ohne Gehbock aus dem E-Rolli nicht aufstehen, also soll ich mich mit den Beinen so gut ich kann hochstemmen, während ich mich mit den Händen an den Sprossen auf- und abbewege. Ich gebe mir Mühe und stelle fest, dass sich von Tag zu Tag exakt gar nichts verbessert. Weder Kraft noch Beweglichkeit noch Feinmotorik werden stärker.

Es ist eine Reha der Rückschritte.


11:30 Forced Use Training. Eine Art geballte Powereinheit Ergotherapie, in der ich - und das muss man sich bitte einmal vorstellen - nicht 25 Minuten, sondern 50 (!) Minuten Stöckchen in Brettchen stecke und Murmeln balanciere. Danach bin ich so geschafft und derartig erledigt, dass ich auf dem Weg durch den kleinen Park noch sämtliche Bäume ausreißen könnte.


12:00 Mittagessen. Ich fahre mit dem E-Rolli in den großen Speisesaal und versuche, mich durch den Pulk an nicht ausweichenden Rehapatienten zu manövrieren und dabei so wenige Opfer wie möglich zu hinterlassen. Bisher gab es noch keine Verletzten. Ich bin zufrieden. Gestresst. Genervt. Und angefressen noch vor dem ersten Bissen der Reduktionskost, die farblich zwischen beige und grau schwankt. Komischerweise schmeckt alles aber ganz gut. Und manchmal, wenn die Diätologin frei hat und zu Hause hoffentlich nicht verhungert, gibt es wirklich gutes Essen. Spaghetti Carbonara, faschierten Braten, schmackhaften Fisch, Kartoffeln, Vollkornnudeln und wirklich ausgezeichnete Tomatensaucen. Auch die Suppen können sich sehen und schlucken lassen. 


13:30 Physiotherapie. Meine Therapeutin ist riesig, schlank, jung, sympathisch und geduldig. Ich gehe mit dem Gehbock geradeaus, bis ich nur noch aus Schweiß, Fett und Frust bestehe. An sich kein Problem. Kann ich alles aber schon seit zwei Jahren. Dann darf ich Streckübungen im E-Rolli machen. Die Therapeutin erinnert mich in jeder Einheit gefühlte tausendmal: "Brustbein aussi! Als ob a Schnur dran wär!" So versuche ich halt, mein Brustbein aussi zu strecken, als ob a Schnur dran wär, aber es sieht bei mir nicht annähernd so elegant aus wie bei ihr.  


14:30 Ergotherapie. Amadeo. Grinsegesichter. Nein, ich meine nicht die Therapeutinnen. Alle supersympathisch. Der Amadeo ist kein Komponist einfühlsamer Klaviersonaten, sondern ein rollender Tisch mit einem Computermonitor dran. Davor befindet sich eine Apparatur, die man am besten als fünf bewegliche Spangen bezeichnen kann. Sie sehen aus, wie die Typen einer alten mechanischen Olivetti-Schreibmaschine. An meinen fünf Fingern werden mit Klebeband kleine runde Magneten befestigt. Manchmal erlaube ich mir einen hochintellektuellen Witz und sage: "Es sind nur vier Finger, weil der Daumen ist anatomisch gesehen ja eigentlich keiner." Die Kommentare der Therapeutinnen reichen von vergnügtem Glucksen bis hin zu anerkennendem Nicken ob meines unnützen Wissens, bis hin zu Bemerkungen wie: "Na, Sie kennen sich aber aus, Herr Präähm." Ich will Ihnen meinen Nachnamen entgegenbrüllen, lasse es aber sein, weil mich jeder anfangs Herr Präähm nennt. Manche lernen es mit der Zeit, manche nicht.

Gut. Die Amadeospangen ziehen meine Finger auseinander und drücken sie wieder zusammen. Aber nicht einfach so, weil Muskeln kann man nicht passiv trainieren, also muss ich mitmachen, wenn ich mag (mag aber meistens nicht). Das ganze dauert zehn Minuten oder länger, und je gleichmäßiger und kräftiger ich mitmache, desto mehr freuen sich die beiden lustigen orangefarbenen Smileys auf dem Computerschirm und grinsen über das ganze Gesicht. Die Therapeutinnen kommentieren das meistens mit einer Feststellung, wie: "Na also, die Smileys freu'n sich heut' aber besonders! Bravo, Herr Präähm."

Ich mich aber nicht, will ich sagen, verkneife es mir aber. Es ist doch so ein schönes, teures und effektives Gerät, dieser Amadeo. Und hin- und herschieben kann man ihn auch.

Ich frage mich, ob man die Smileys foltern kann. So wie früher die Tamagotchis. So richtig zum schreien bringen und dann mit einem Haufen grauem Gras verhungern lassen.

In Altenhof, wo ich wohne, gibt es keine geballten Hightech-Forced-Use Smileymaschinen. Dort hat mir mein Ergotherapeut ein Geschirrtuch in die Hand gedrückt und gesagt: "Das ist unser Amadeo". Seine Methode war äußerst effektiv und hat dazu beigetragen, meine Finger durch strecken und raffen wieder in Bewegung zu bringen. Dafür zeigt der Amadeo in Prozent an, wie viel Extension und Flexion ich mit meinen Fingern erreiche. Das hat allerdings absolutes Suchtpotential. Ich ertappe mich immer wieder bei der streberhaften Reaktion, richtig stolz auf mich zu sein, wenn ich statt 97% 98% schaffe. I must be the greatest, wie Muhammad Ali sagen würde.


17:00 Abendessen. Dasselbe in Grün wie zu Mittag. Aber auch viel beige und grau. Manchmal Nudeln mit Tomatensauce. Schmeckt ganz gut, aber Johannes Itten würde daran verzweifeln. Ruhig mal googeln. Nein, kein Koch.


17:30 Ich sitze im Park mit den Ausreißbäumchen und dem fucking awesome Ausblick auf den Kotzklumpen und den Tümpelteich und das Bergpanorama und die Wolken und den Himmel über dem Gmundnerberg. Alles ist gut. Besser geht es gar nicht. Ich fühle mich wohl (oder übel?). Es ist alles, wie es ist. Carpe Diem, Herr Präähm. Die Zeit vergeht wie im Flug. Nein, die Grenzen zwischen Raum und Zeit verschwimmen und verdichten sich schließlich zu einer absoluten Singularität vollkommener Glückseligkeit.

Junge vollbusige Schönheiten in Bikinis schieben mir geschälte Litschis, Créme brulé, und Schokoladetrüffel in den Mund, laben mich mit Champagner und einem ausgezeichneten Chianti und singen mir mit ihren zarten Stimmen verträumte Melodeyen ins Ohr.

Verträumt? 

Ohh, fuck you, Herr Präähm. Alles nur geträumt.

Ich wache auf und bin wieder am Gmundnerberg.