Samstag, 26. März 2016

Nastrovje mit Früchtetee

Die vergangenn zehn Tage waren sehr ereignisreich und ziemlich anstrengend. 
Ich hatte wieder Physiotherapie mit meinem Therapeuten Wolfgang. Ich bin mehrmals mit dem Gehbock von der Balkontür zur Zimmertür gegangen. Eine Trainingsübung, an die ich mich inzwischen zwar schon gewöhnt habe, die aber noch immer mit viel Unsicherheit verbunden ist. Einer Unsicherheit, die mich schon seit dem Beginn meiner Krankheit begleitet. Mit einem Sturz hat alles angefangen, und dieser Schreck sitzt mir immer noch in den Knochen. Dabei ist es nicht das Stürzen selbst, das mich beunruhigt, sondern die Vorstellung, danach nicht mehr aufstehen zu können.
Nie mehr.
Wer einmal total gelähmt war und nicht wusste, ob das ein Leben lang so bleiben würde, versteht diese Angst sicher gut. Im Laufe der letzten drei Jahre habe ich immer wieder gehört, alles, was geschehe sei doch in meinem Interessen, denn ich wolle ja schließlich wieder gesund werden.
Ja, wollte ich. Wollte ich nicht. Dann wieder doch. Lange Zeit war alles so ungewiss, dass mir der Gedanke, wieder gehen zu können und die Krankheit Guillain-Barré-Syndrom überwunden zu haben, bedrohlicher erschien als die Lähmung. Ich weiß heute selbst nicht mehr, warum das so war, aber damals war mir die Sicherheit des Krankenbettes, das ich nur mit Hilfe eines Hebelifters verlassen konnte, lieber als die Freiheit, gehen zu können, wohin ich wollte.
Erst jetzt, 34 Monate nach dem Ausbruch der Krankheit, beängstigt mich diese Vorstellung nicht mehr. Die Physiotherapie, die Ergotherapie, die Pflege, die medizinischen Untersuchungen, Therapien und Eingriffe, sowie eine Gesprächstherapie haben mir die Sicherheit gegeben, ein freies Leben bei freier Bewegung anzusteuern.
Anders sieht es bei den praktischen Trainingsübungen aus. Zwar gehe ich seit einer Woche zumindest einmal täglich die Strecke von der Balkontür meines Zimmers bis zu Eingangstür, aber der Gedanke daran, drückt schon nach dem Aufwachen meine Stimmung ziemlich runter. Ich weiß zwar, dass das unsinnig ist, weil ich kräftig genug bin, um diese geschätzten sieben Meter zu gehen, aber die gute alte Amygdala, das tierische Stammhirn, sieht das leider anders. Boden + Gehen = Fallen. Gehen und hinfallen sind für das Reptilienhirn noch immer zwei Synonyme für sterben.
Bei jedem Schritt, den ich mache, begleitet mich die Angst zu stürzen. Mein linker Fuß knickt immer leicht nach außen, und meine Muskelkraft ist zwar in den letzten Wochen und Monaten viel größer geworden, aber immer noch zu schwach, um mir ein Gefühl der Sicherheit zu geben. Ich denke mir oft, dass mir nichts passieren würde, wenn ich hinfiele. Erstens falle ich aufgrund meiner Körperfülle auf jeden Fall weich, und zweitens ist ja Wolfgang da, um das Schlimmste zu verhindern und mir zu helfen. Der Gehbock, mit dem ich mich fortbewege, ist zwar wacklig, aber stabil. Wenn ich mich nach vorne beuge, habe ich ein sicheres Gefühl. Bei Bewegungen nach links oder rechts sieht es aber ganz anders aus.
Wir haben vor ein paar Tagen zum ersten Mal den Transfer vom E-Rolli ins Bett gemacht. Auch mit dem Gehbock. Beides war anstrengend, und meine Füße können mich noch immer nicht tragen, ohne dass ich mich festhalten muss. Aber jetzt kann ich endlich alleine ins Bett gehen, obwohl zur Sicherheit immer jemand dabei sein soll. Ich werde nicht auf eigene Faust experimentieren, aber ich bin froh, dass ich es jetzt kann. Auch der Rücktransfer vom Bett in den E-Rolli hat problemlos geklappt.
Den Transfer vom Bett in den Rollstuhl werde ich zwar beibehalten, aber direkt vom Bett aus in den E-Rolli. Ich habe es einmal versucht, aus dem Bett aufzustehen und die paar Schritte bis zum Schreibtisch an der gegenüberliegenden Wand zu gehen, aber das war mir zu unsicher. Ich musste zwischendurch Pausen von etwa einer halben Minute einlegen. Diese Pausen im Stehen waren anstrengender als das Gehen selbst, und darum habe ich mich dazu entschlossen, in der Früh nach der Morgenpflege mich wieder zuerst querbett aufzusetzen, mit dem Gehbock aufzustehen, eine wacklige Drehung nach links zu machen und mich dann in den Rollstuhl zu setzen.
Das funktioniert, ist aber mit sehr großer Unsicherheit verbunden. Ich glaube, diese Angst kommt daher, dass vor drei Jahren mit einem Sturz vor meinem Bett in meinem damaligen Zuhause alles angefangen hat. Die Angst vor dem Fallen ist schlimmer als das Fallen selbst. Und ich mag es nicht besonders, wenn ein Tag mit Angst beginnt. Das wirkt bei mir nach und legt sich erst nach ein paar Stunden.
Insgesamt läuft alles sehr gut, sogar viel besser, als ich jemals gedacht hätte. Vor zweieinhalb Jahren konnte ich nicht einmal querbett sitzen, ohne am Rücken gestützt zu werden. Ich konnte keine Wasserflaschen oder Kaffeebecher heben. Jetzt hebe ich mich selbst in die Höhe und mache ein paar Schritte auf eigenen Beinen. Das alleine ist die Mühe und die Fallangst wert.
Es ist alles sehr ungewohnt und ein bisschen beängstigend für mich. Trotzdem glaube ich, dass es nicht mehr lange dauern wird, bis ich normal werde gehen können. Oder zumindest fast normal. Jedenfalls ohne Gehbock oder anderen Hilfsmitteln. Zuerst werden wir zwar noch Krücken ausprobieren, und Wolfgang hat gesagt, das werde dann wieder eine Phase der Unsicherheit werden, aber ich glaube, ich werde auch das schaffen und die Krücken nicht mehr lange brauchen, wenn ich erst einmal damit gehen kann.
Während ich den letzten Absatz lese, frage ich mich, ob ich da nicht vielleicht ein bisschen zu hoffnungsfroh bin. Das ist eine Art von Optimismus, wie ich ihn schon lange nicht mehr empfunden habe. Allein die Vorstellung, jemals derart zuversichtlich zu sein, war für mich vor nur einem Jahr noch vollkommen undenkbar. Damals habe ich damit gerechnet, den Rest meines Lebens bestenfalls auf Krücken und mit Metallschienen an den Beinen zu verbringen.
Diese Einstellung hat sich drastisch geändert. Insbesondere die klientenzentrierte Gesprächstherapie hat mir dabei sehr geholfen. Einmal pro Woche dieses Ventil zu haben, um Dampf abzulassen, ist ausgesprochen wohltuend. Alleine durch das ausführliche Reden über meine Ängste und Zweifel wurden diese kleiner und sind mittlerweile kaum noch sichtbar. Nicht einmal für mich, der sich all seine Probleme wirklich übergenau ansieht. Mein neuer Optimismus scheint mich voranzubringen, also werde ich ihn beibehalten.
Schief gehen kann alles von allein, aber zu einer positiven Entwicklung muss ich selbst beitragen. Pessimismus und Hoffnungslosigkeit haben mich bisher keinen einzigen Schritt weitergebracht. Optimismus und Zuversicht bringen mich inzwischen von der Balkontür bis zur Zimmertür.
Mir fehlt nur noch das letzte bisschen Mut, um mich wieder als gesunden und gehenden Menschen zu sehen.
Vor sechs Tagen, am 20. 3. 2016, um 18:22 Uhr, habe ich mich zum ersten Mal alleine ins Bett gelegt. Der Verwalter meiner Wohnebene hier bei Assista in Altenhof und eine junge Pflegerin waren zwar dabei, aber ich habe alles selbst geschafft. Zuerst bin ich mit dem E-Rolli zur Wand hinter meinem Bett gefahren, dann mit dem Gehbock aufgestanden, habe eine Drehung nach links gemacht und mich auf das Bett gesetzt. Auch die Beine habe ich selber ins Bett gehoben. Ich war ganz überrascht, wie leicht das war. Wenn ich an die Physiotherapie am Gmundnerberg zurückdenke. Damals habe ich das mit Christina schon ausprobiert, aber ich schaffte es nur mit Müh und Not. Jetzt ist es ganz leicht.
Ich kann zwar noch keinen Can-Can tanzen, aber ein Kazachok im Querbett ist kein Problem mehr. Nastrovje mit Früchtetee.
Es müssen jetzt wirklich nur noch meine Füße mitspielen, dann kann ich auch wieder sicher stehen und gehen. Mein Physiotherapeut Wolfgang hat mich mehrmals gelobt, weil ich bei den Gehübungen den linken Fuß schon besser aufheben kann. Er knickt jetzt auch nicht mehr ein. 
Es ist wirklich unglaublich, wie schnell jetzt alles geht. Das ist für mich immer noch ein bisschen beängstigend, aber nicht mehr so, wie noch vor ein- oder zwei Monaten. Inzwischen gewöhne ich mich schon an den Gedanken, wieder gesund zu sein. Normal gehen zu können.
Nur mit den Füßen klappt es noch nicht. Die sind immer noch fast unbeweglich, und ich kann keine Ausgleichsbewegungen machen, wenn ich frei stehen will. Ich kippe noch immer sofort nach hinten um. Ich glaube zwar, dass sich das bessern wird, aber allmählich werde ich ungeduldig.
Für mich ist es typisch, dass ich jetzt befürchte, dass die Unbeweglichkeit meiner Füße ein bleibender Schaden des Guillain-Barré-Syndroms ist. Meine Fußmuskulatur ist nicht so schwach, dass ich sie gar nicht bewegen kann, aber ich kann die Vorfüße nicht anheben. Dadurch kann ich nicht sicher stehen. Wenn es aber nicht die Muskeln sind, die hier ihren Dienst verweigern, müssen es die Nerven sein.
Der Gedanke, alles, was bisher geschehen ist, so gut überstanden zu haben, aber nie wieder normal gehen zu können, macht mich mehr als nur nervös. Aber auch da ist die Angst nicht mehr so, wie sie noch vor einem Jahr, vor zwei Jahren und zu Beginn meiner Krankheit vor drei Jahren war. Also auch hier tut sich eine Menge.
Angst ist letztlich immer die Befürchtung, einer Situation nicht gewachsen zu sein und sie nicht handhaben zu können. Der Verlust der Kontrolle ist die eigentliche Wurzel jeder Angst. Hilflosigkeit und das Gefühl, auf allen Ebenen versagt zu haben, machen einen Menschen zu einem Schatten, der sich hinter dem Licht versteckt.
Ich spüre in mir fast schon einen richtigen Tatendrang. Ich will auf einmal so viel machen, so viel unternehmen. Ich kann es gar nicht mehr erwarten, über die Straße zum Hauptgebäude zu gehen. Ohne Krücken, einfach so. Per pedes. Auch der Gedanke, dass ich dann nicht weiß, wohin ich sonst in meinem Leben noch gehen soll, erschreckt mich nicht mehr sosehr. Der Weg ist ja da, das wusste ich schon von Anfang an.
Der Weg ist nicht beschwerlich, aber den Mut zu finden, ihn zu begehen, ist es.





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Samstag, 19. März 2016

Mein Heilungsweg, Teil 5 (von 5)

Mit einem gelähmten Körper ist der Fluchtreflex noch schlimmer als mit einem gesunden. So sehr ich immer wegrennen wollte, einfach nur rennen, bis ich in Sicherheit war, ich konnte nicht. Ich war ja in Sicherheit. Auch das ist ein Gedanke, den Sie sich immer in Erinnerung rufen sollten.
Ich habe ihn oft vergessen. In der ganzen Zeit meiner Krankheit, von der Intensivstation, über die Neuro und den Gmundnerberg bis hierher nach Altenhof war ich immer in Sicherheit.
Die Gefahren, die Bedrohungen und der Sensenmann existierten nur in meinem Kopf. Denken Sie bitte daran, dass Ihre Ängste auch nicht real sind, sondern nur Ihre falsche Interpretation der Dinge. Ich will Ihnen damit nicht unterstellen, dass Sie sich alles nur einbilden, aber ich kann mir gut vorstellen, dass es beim Guillain-Barré-Syndrom viele Menschen gibt, die so ähnlich darauf reagieren wie ich.
Mit Fassungslosigkeit und der Überzeugung, dass ich keine Chance habe, das zu überleben.
Fällt Ihnen etwas auf? Ich habe mich geirrt. Und ich schreibe meine Blogbeiträge mit meinen eigenen Händen. Inzwischen könnte ich schon mit mehr als nur den beiden Zeigefingern tippen, aber ich habe mich inzwischen so daran gewöhnt und kann große Mengen in kurzer Zeit schreiben, dass ich erst wieder auf das Zehnfingersystem umsteigen werde, wenn meine Hände wieder so mobil sind wie früher.
Die seelischen Qualen sind schlimmer als die körperlichen. Das geht auch aus der Literatur über diese Krankheit hervor. Ich hoffe, ich sage jetzt nichts Falsches, aber wenn man das Anfangsstadium des Guillain-Barré-Syndroms, die sogenannte Plateauphase, überlebt hat, kann einem körperlich eigentlich nichts mehr passieren. Die Tiefenvenenthrombose dürfte dann die einzige wirkliche Komplikation sein, aber die hängt ja nicht unmittelbar mit der Krankheit zusammen, sondern ist eine Folge der langen Bettlägrigkeit.
Psychisch sieht die Sache aber ganz anders aus. Die Krankheit lähmt nicht nur den Körper, sondern auch den Geist. Der eigene Verstand vertraut sich selbst nicht mehr. Ich wusste immer, dass alles in Ordnung war und dass ich, von der Plateauphase abgesehen, in keinerlei ernster Gefahr schwebte. Trotzdem fürchtete ich mich vor allen möglichen Dingen. Das ging so weit, dass diese nicht existenten Gefahren für mich realer waren, als die vielen Erfolge und Wunder, die ich jeden Tag erleben durfte.
Ich sah meine Fortschritte zwar, aber kaum war eine Therapiestunde vorbei, versanken sie für mich wieder in Bedeutungslosigkeit. Ich konnte mein Hände für gar nichts gebrauchen, nicht einmal zur Betätigung der Notrufglocke. Im Vergleich zu einem Menschen mit Guillain-Barré-Syndrom mit dem Vollbild einer Tetraparese sieht jede griechische Statue aus wie ein Parcourtspringer.
Vor einer Lähmung kann man nicht davonlaufen. Zumindest nicht mit seinem Körper. Fluchtpunkte fand ich nur in meiner Phantasie. Wenn auch Sie mit einer üppigen Phantasie ausgestattet sind, werden Sie sie sicher auch nützen, um dem Grauen des Alltags zu entfliehen. Gleichzeitig wissen Sie dann aber auch, dass es dieselbe Vorstellungsgabe ist, die Ihre seelischen Konflikte überhaupt erst verursacht. Wenig Phantasie verursacht wenig Angst, aber großer Einfallsreichtum kann einen mehr lähmen als jede Krankheit.
Es gibt Menschen, die ihr Schicksal einfach hinnehmen, nicht zuviel grübeln, auf Gott vertrauen und positiv denken. Ich gehöre nicht zu diesem Menschenschlag. Wenn eine Krankenschwester irgendwo an meinem Körper einen kleinen Abszess entdeckt hat, hatte ich schon die gesamte blutige Farbpalette meines herannahenden Endes vor Augen, bevor sie den Satz "Mach dich deswegen nicht fertig. Das ist harmlos" überhaupt aussprechen konnte. Diesen Satz habe ich sehr oft gehört.
Im Februar 2014 bekam ich eine Tiefenvenenthrombose. Das war dramatisch und extrem beängstigend für mich, aber es war die einzige gesundheitliche Komplikation seit dem Beginn meiner Krankheit. Glücklicherweise gehöre ich zu den Menschen, die eine Recherche im Internet nicht noch mehr in Angst und Schrecken versetzt, sondern beruhigt. Ich komme aus einer Medizinerfamilie. Vater Arzt, Bruder Arzt, Mutter Diplomkrankenschwester. Darum habe ich den großen Vorteil, dass ich die ganzen Fachbegriffe kenne und nicht dauernd nachfragen muss, was irgendetwas bedeutet. Also sind medizinische Fachinformationen für mich eher eine Entspannung, als dass sie mich beunruhigen.
Ich habe allen Ärzten, Therapeuten und Krankenschwestern immer alles geglaubt. Nie habe ich etwas angezweifelt, das sie sagten. Sie behielten auch alle immer recht. Nur mir selbst glaubte ich nichts. Wenn der Arzt zu mir sagte, "Das ist kein Tumor", glaubte ich ihm das aufs Wort und war beruhigt, aber sobald ich wieder allein war in meiner seelischen Festung der Einsamkeit, wurde der Abszess zu einem im Schlachtpferch des Operationssaals ausgeweideten Spiegelbild meines gelähmten Körpers.
Voraussetzung für die Zähmung der Phantasie im Krankheitsfall ist, dass man um Hilfe bittet. Wenn Sie etwas beunruhigt, plagt oder beängstigt, sagen Sie es. Trauen Sie sich. Ich habe mich oft nicht getraut, bis der Druck, der auf meiner Seele lastete einfach zu groß war. Irgendwann haben die Krankenschwestern und Krankenpfleger bemerkt, dass ich immer stiller und deprimierter wurde. Sie haben mich darauf angesprochen, und nach so manchem Gespräch fühlte ich mich viel besser. Ich habe immer geglaubt, meine seelischen Probleme alleine verarbeiten zu können. Kann ich nicht. Zumindest nicht im von Angst und Hoffnungslosigkeit geprägten Zustand einer so schweren Erkrankung wie dem Guillain-Barré-Syndrom.
Wenden Sie sich an die Fachleute, die Ihnen weiterhelfen können. Ärzte, Ärztinnen, Therapeutinnen und Therapeuten, aber ganz zuerst an Ihre Pflegekräfte. Die Krankenschwestern und Krankenpfleger sieht man jeden Tag, und Sie können sich jederzeit an sie wenden, wenn Sie Sorgen oder Angst haben.  Aber bitte, tun Sie eines nicht: Spielen Sie nicht den Helden! Schlucken Sie Ihre Furcht nicht einfach runter, versuchen Sie nicht, ein harter Mann oder eine starke Frau zu sein. Springen Sie über Ihren Schatten, geben Sie zu, dass Sie sich fürchten, und die Lösung Ihrer Probleme ist schneller da, als Sie glauben.
Zusätzlich zu der vielen Hilfe der Fachleute habe ich an meinem Geist gearbeitet. Entspannungstechniken und Autosuggestionen halfen mir, nicht total den Mut zu verlieren. Meditation beruhigt, entspannt den Körper und den Geist und fördert die Fähigkeit, in Extremsituationen die Ruhe zu bewahren. Das Guillain-Barré-Syndrom hat mich in einen solchen Zustand versetzt. Meine Muskeln waren so entspannt, das sie atrophiert sind, ich habe  auch immer die Ruhe bewahrt, ganz einfach, weil ich mich nicht bewegen konnte, war aber innerlich immer aufgewühlt, in einem Zustand des Dauerstress, der mich so weit gebracht hat, alles anzuzweifeln, was ich jemals war, geglaubt habe zu sein und zu erreichen hoffte. Ich kannte mich selbst nicht mehr und habe jeden Respekt vor mir verloren. 
Bis ich entdeckte, dass mir meine Krankheit die enorme Freiheit verlieh, alle Antworten zu finden, um mir ein phantastisches neues Leben zu erschaffen. Ich arbeite zwar noch daran, aber meine Zweifel haben sich in Luft aufgelöst. Der schlammige Weg, über den ich noch vor zwei Jahren in meinem Blog schrieb, ist inzwischen getrocknet und gut begehbar geworden. Die Hindernisse und Stolpersteine habe ich mit Hilfe meines Physiotherapeuten Wolfgang und all meiner anderen lieben Helfer beiseite geräumt. Jetzt muss ich mir nur noch die Füße eincremen und den Staub von meinen Händen schütteln. Ich bin davon überzeugt, noch immer alles erreichen zu können, was ich wirklich will. Vor nur einem Jahr war das noch nicht so. Da wurde ich noch von Ängsten und Pessimismus geplagt.
Ich fand schließlich heraus, dass die Ängste, die Zweifel, die Hoffnungslosigkeit und die negative Grundeinstellung nicht über mich hereingebrochen waren, sondern, dass ich sie selbst verursacht hatte. Zwar habe ich sie nicht gerufen, aber ich habe die Tür weit offen gelassen. Ich habe all den Dingen, die während der Zeit meiner Krankheit geschehen sind, viel zu viel Bedeutung beigemessen. Ich dachte, mein Leben sei vorbei, und mich würden nur noch Krankheit und Siechtum erwarten. Mir wurde klar, dass ein enormer Graben zwischen meiner Interpretation der Realität und der Wirklichkeit lag. Das liegt auch daran, dass ich mich selbst immer für viel zu wichtig gehalten habe. Letztlich war ich nur ein Patient unter zehntausenden auf der Welt mit Guillain-Barré-Syndrom. Nicht jeder Abszess, jede offene Stelle an der Haut, ein bisschen Fieber oder Herzrasen sind das Donnergrollen des herannahenden Endes. Hätte ich das schon früher erkannt, wären mir viel Stress und Angst erspart geblieben.
In den vergangenen drei Jahren sind so viele verrückte Dinge in meinem Leben geschehen, die ich nie für möglich gehalten hätte. Ich habe gelernt, dass es kein festgeschriebenes Schicksal gibt, obwohl das schon immer meine Überzeugung war. Von meiner Krankheit wurden mir die Beweise für eine unendliche Vielzahl an Möglichkeiten geliefert. Meine Zukunft ist jetzt bunter denn je.
Wenn man mit Guillain-Barré-Syndrom oder einer anderen Erkrankung im Krankenhaus landet, heisst das noch lange nicht, dass das das Ende ist. Ich dachte lange Zeit, für mich würde es keine Chancen mehr geben. Das Schicksal oder eine andere höhere Macht hätten beschlossen, dass es für mich vorbei war. Dabei war ich früher nicht abergläubisch. Offenbar kann eine Ausnahmesituation wie diese Krankheit unter der Oberfläche des Bewusstseins liegende Persönlichkeitsschichten auftauchen lassen.
Ich weiß nicht, wie Sie über solche Dinge wie Schicksal, Bestimmung oder den freien Willen zur Gestaltung des eigenen Lebens denken. Aber ich kann Ihnen eines versichern: Der Beginn Ihrer Krankheit ist nicht automatisch das Ende Ihres Lebens. Welche Krankheit Sie haben ist dabei wohl zweitrangig. Die Chancen sind immer da. Die Möglichkeiten sind unendlich und die Essenz der eigenen Persönlichkeit auch. Selbst dann, wenn man sich nicht mehr wiederekennt und nicht mehr weiß, wer man wirklich ist.
Beim Guillain-Barré-Syndrom ist die Wahrscheinlichkeit einer vollständigen Genesung sehr hoch. Die gefährlichste Phase ist das Anfangsstadium der ersten paar Tage. Die Plateauphase. Danach folgt ein Fortschritt auf den anderen. Unterbrochen von Rückschlägen und mit langen Durststrecken dazwischen, in denen sich gar nichts tut.
Aber dann, auf einmal, so als wäre nichts gewesen, stehen Sie wieder aufrecht da und spüren den Boden unter Ihren Fußsohlen. Vielleicht können Sie die Griffe Ihres Rollators oder Gehbocks noch lange Zeit nicht loslassen, ohne nach hinten umzukippen, aber Sie können jederzeit aus dem Rollstuhl aufstehen und sich die Beine ein bisschen vertreten. Wenn Sie erst einmal soweit sind, wird es Ihnen ergehen wie mir. Aber unter Aufsicht, bitte.
Nach den ersten Schritten mit dem Gehbock auf einer nicht einmal zehn Meter langen Strecke von der Balkontür zur Zimmertür veränderte sich etwas in mir. Wieder einmal. Aber diesmal war es anders als nach dem ersten Aufstehen oder dem Aufheben einer Flasche.
Ich änderte meine Perspektive um 180 Grad. Der Betrachtungswinkel auf mich selbst kippte auf einmal um. Vom ersten zaghaften Schritt mit dem Gehbock bis zur Berührung der Zimmertür verwandelte ich mich und mein Selbstbild änderte sich schlagartig.
Von einer Sekunde auf die andere war ich nicht mehr ein Gelähmter mit Aussicht auf Besserung, sondern ein gehender Mensch, der noch eine Zeit lang im Rollstuhl sitzen wird. 
Auch, wenn meine Durchhalteparolen vielleicht ein bisschen nervig sind, möchte ich Ihnen sagen, dass es auch für Sie so sein kann. Ach was, ich lehne mich jetzt einfach ganz weit aus dem Fenster und garantiere Ihnen Folgendes: Wenn Sie die Plateauphase des Guillain-Barré-Syndroms überlebt haben, den Ärzten, Pflegekräften, Therapeuten und vor allem sich selbst vertrauen, nicht verzagen und sich mit Ihrem Schicksal nicht zufrieden geben, werden Sie aus dem Rollstuhl, dem Krankenbett oder wo auch immer Sie sich aufhalten, aufstehen, wie Sie es Ihr ganzes Leben davor getan haben.
Einfach so.
Und das Beste daran: Sie müssen nicht einmal glauben, dass Sie wieder werden gehen können.
Tun Sie' s einfach.





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Samstag, 12. März 2016

Mein Heilungsweg, Teil 4 (von 5)

Mit dem Rollstuhl kam die Freiheit. Ich war zwar unsicher und fuhr nur dann im Gebäude des Reha-Zentrums umher, wenn ich zu einer Therapie musste, aber ich konnte das selbstständig machen. Das war für mich die Hauptsache. Ich nicht mehr von meiner Krankheit ans Bett gefesselt. Ich konnte mir kleine Colaflaschen aus dem Automaten holen und in der Caféteria Schokolade kaufen.
Das Fahren mit dem Rollstuhl fiel mir von Anfang an leicht. Ich war zwar nicht schnell, hatte aber keine Probleme, die Räder in Bewegung zu bringen. Von aufgeschürften Handflächen abgesehen. Die verheilten aber schnell, und bald wurde ich weniger empfindlich.
Aber die seelischen Qualen waren immer noch da. Manchmal mehr, manchmal weniger. Ausgelöst wurden sie hauptsächlich von meinem Dauerkatheter und die ständigen Gedanken an meine Situation und wie es nur soweit hatte kommen können. Ich konnte mich einfach nie damit abfinden, dass ein Schlauch im Inneren meines Körpers war. Ich konnte ihn nicht sehen, spürte ihn aber.
Wenn ich heute an die Zeit am Gmundnerberg zurückdenke, ärgere ich mich über mich selbst. Dass ich mich so sehr von dem Schlauch in meinem Körper habe beherrschen lassen. Jede Bewegung, die ich machte, war immer mit der Frage verbunden, ob sie irgendetwas in der Blase auslösen könnte. Schmerzen, ein Ziehen, ein Stechen oder ein Brennen. Würde zuviel Training am Seilzug mit den Gewichten vielleicht dazu führen, dass Sediment den Katheter verstopfen und ich wieder stundenlang Krämpfe haben würde?
Diese Fragen nagten den ganzen Tag an mir. Ich teilte die Tage nur noch in gute Kathetertage und schlechte Kathetertage ein. Das Verheerende dabei war, dass ich eine Scheu davor entwickelte, mich zu bewegen. Gerade beim Guillain-Barré-Syndrom ist das eine fatale Einstellung, schließlich soll sich der Patient so viel wie möglich bewegen. Darum fährt er ja auf Reha.
Ich hätte gerne mehr Freude an der Bewegung gehabt und einen starken Drang zum Trainieren entwickelt, aber letztlich siegte meistens die Feigheit. Und mein Selbstrespekt sank in ungeahnte Tiefen. Einerseits wollte ich gesund werden, und andererseits trainierte ich nur, wenn ich musste. So wurde ich immer weinerlicher und verweichlichter. Irgendwie war das bei Rocky alles ganz anders.
Von allen Begleiterscheinungen meiner Krankheit, war für mich der Katheter die allerschlimmste. Ich hatte auch immer, schon auf der Intensivstation, den Eindruck, dass niemand meine seelischen Nöte so richtig verstand. Man nahm mich zwar ernst und half mir, so gut es eben möglich war, aber ich glaube, richtig nachvollziehen konnte meine Katheterneurose niemand. Das war jetzt eine Selbstdiagnose. Ich habe Stunden damit verbracht, im Internet nach Blogs, Diskussionsforen und so weiter zu suchen, immer in der Hoffnung, dass es irgendwo auf der Welt einen Leidensgenossen gibt, der auch solche Probleme hat wie ich. Ich habe nichts gefunden. Niemanden. Zwar gibt es genügende Menschen, die ihre Probleme mit den verschiedenen Katheterarten schildern, aber einen, der sich so sehr darauf spezialisiert hat wie ich, fand ich nirgendwo.
Und so geschah etwas, das meinen Genesungsprozess um Monate verzögerte, ich glaube, ich kann sogar sagen, Jahre. Ich entwickelte eine übervorsichtige Scheu vor jeder Bewegung. Der Gedanke, dass dadurch der Silikonschlauch an der Blaseninnenwand anstoßen könnte, verhinderte, dass ich mich voll auf die Therapie und das Training konzentrieren konnte. Jede Therapiestunde war mir zu lang. Ich hoffte immer, dass sie schnell vorbeigehen würde. Ich glaube, in der ganzen Zeit meiner Krankheit habe ich mich nie auf eine Therapiestunde gefreut. Heute schäme ich mich dafür. Schließlich trugen sie dazu bei, dass ich wieder gesund werden konnte.
Aber ich war mit meinem ganzen Denken so sehr auf den Katheter fixiert, dass ich mich nicht einmal über meine Erfolge freuen konnte. Ich nahm meine Fortschritte zwar wahr, aber die aufkeimende Freude darüber, dass ich am Stehtisch nach Plastikkegeln greifen oder mich auf der Therapieliege zur Seite und wieder zurück neigen konnte, wurde immer wieder von der Erwartung auf einen Tag und eine Nacht voller Harndrang im Keim erstickt. Warum ich davor solche Angst hatte, wird mir wohl immer ein Rätsel bleiben.
Es passierte zwar nie etwas, es ging kaum jemals etwas daneben, aber jedesmal, wenn der Katheter ein bisschen verbogen oder abgeknickt war, spürte ich sofort, wie die Panik in mir aufstieg. Sie kennen sicher das Gefühl, wenn Sie in einem Lokal sitzen, in einem Kino oder bei einem Konzert sind, und plötzlich geht hinter Ihnen jemand vorbei, den Sie nicht gehört haben. Vielleicht streift er sogar versehentlich Ihre Schulter oder Ihren Kopf.
Erschaudern Sie?
Dieser Fremde will Ihnen nichts antun, aber Ihnen stellen sich die Nackenhaare auf, Sie bekommen Gänsehaut, Ihr Herz setzt einen Schlag aus und beginnt dann zu rasen. Sie erschrecken, und obwohl Sie erkennen, dass keine Gefahr droht, setzt bei Ihnen sofort der Fluchtreflex ein. Sie wollen aufspringen, wegrennen, sich so schnell wie möglich in Sicherheit begeben, während sich Ihre Muskeln anspannen, der Magen zusammenkrampft und ein eisfkalter Hauch über Ihre Kopfhaut zieht.
So fühlte ich mich mehr als zwei Jahre lang jeden Tag und jede Stunde. Kaum spürte ich die kleinste Empfindung im Becken, dachte ich, jetzt geht es wieder los. Vielleicht muss ich ins Krankenhaus, und der Katheter muss gewechselt werden. Das wird mir nicht weh tun, aber für mich schlimmer sein als Schmerzen. Möglicherweise werde ich dabei verletzt und sterbe. Ich übertreibe nicht. Meine Empfindungen waren wirklich genauso, wie ich sie hier schildere. Ich wurde zwar gleichzeitig jede Woche etwas zuversichtlicher, weil nicht einmal ich meine Fortschritte übersehen konnte, aber trotzdem war jeder Tag vom Juni 2013 bis zum Oktober 2015 von diesem ziehenden und drängenden Gefühl der Katheterangst getränkt.
Falls Sie gerade den Kopf schütteln, habe ich Verständnis dafür. Ich verstehe mich ja selber nicht. Warum ausgerechnet etwas so gleichermaßen Wichtiges wie Bedeutungsloses wie ein Katheter mein Leben derart bestimmen und meine Heilung überschatten konnte, werde ich wohl nie erfahren. Um ehrlich zu sein, will ich das auch gar nicht.
Jedenfalls gab ich mir viele Monate lang viel zu wenig Mühe mit dem Training. Ich hätte den ganzen Tag mit meinem Rollstuhl auf der Etage des Therapiezentrums herumfahren können, die Gänge waren für ein gutes Training lang genug. Im Erdgeschoß bei den Therapieräumen war auch genug Platz. Auch dort hätte ich meine Arme mit dem Rollstuhl trainieren können. Aber die Angst vor dem Katheter und seinen Sticheleien hielt mich davon ab.
Heute könnte ich mich dafür ohrfeigen. Um wie viel schneller wäre ich wieder auf die Beine gekommen, wenn ich nicht diese blödsinnige Angst vor dem Katheter entwickelt hätte. Aber ich kann das nicht rückgängig machen. Der Katheter ist schon seit fünf Monaten Geschichte, aber die Hemmung, mich frei und schnell zu bewegen, habe ich immer noch.
Zwar bin ich inzwischen nicht mehr so sehr auf dieses Thema fixiert, und die furchtbaren Angstanfälle von früher habe ich auch schon lange nicht mehr, aber der Gedanke, öfter als alle zwei Stunden Harndrang zu bekommen und zur Flasche zu müssen, beunruhigt mich noch immer weit mehr, als es normal wäre.
Ich erzähle Ihnen dies übrigens alles, weil es Ihnen vielleicht ähnlich ergehen könnte, egal ob mit oder ohne Guillain-Barré-Syndrom. Das Thema ist unangenehm und nicht gerade appetitlich, ich weiß, aber ich habe mir vorgenommen, in meinem Blog alles zu erzählen, was es zu erzählen gibt und was für mich von Bedeutung war oder noch immer ist. Sicher werde ich auf dieses Thema auch in der Zukunft wieder eingehen, aber mittlerweile befinde ich mich in einem Stadium meiner Genesung, in dem es viel mehr Positives als Negatives zu berichten gibt.
Als ich auf der Intensivstation aufwachte und der erste Tag meines neuen Lebens begann, hätte ich es nicht für möglich gehalten, dass ich jemals einen Satz wie den vorherigen schreiben würde. Dass es mehr Positives als Negatives gibt war auch vor meiner Erkrankung nicht gerade meine Lebensphilosophie. Der Unterschied zwischen der negativen Weltsicht meines früheren Lebens und meinem jetzigen Zustand war, dass der Pessimismus mich früher beschützt hat.
Ich war immer der Ansicht, dass es besser ist, mit dem Schlimmsten zu rechnen, als sich falschen Hoffnungen hinzugeben. Genaugenommen denke ich auch heute noch so. Seit fast drei Jahren habe ich fast nur kranke und sterbende Menschen kennengelernt. Ich habe den menschlichen Körper immer schon als unzureichend betrachtet, aber erst durch meine eigene Krankheit und die vielen Schicksale, die ich gesehen habe, bin ich zu der Überzeugung gekommen, dass der menschliche Körper nur ein schlechter Witz ist.
Viele gläubige Menschen sehen in ihrem Körper einen Tempel, den sie ehren müssen. Für mich ist der Körper mit seinem Fleisch, seinen Knochen und dem unzulänglichen Hirn ein zwar gut gemeintes, aber leider fehlgeschlagenes Experiment einer leichgültigen Natur. Ich würde viel lieber etwas anderes glauben, aber die Hinfälligkeit und das Siechtum, das ich gesehen habe, machen es mir unmöglich.
Mein negatives Denken war letztlich das Spiegelbild meiner Beobachtungen. Viele Jahre lang habe ich mich damit wohlgefühlt, weil ich von meiner negativen Sicht der Dinge immer enttäuscht wurde. Die Katastrophenszenarien in meinem Kopf haben sich nie zugetragen. Nichts von den schlimmen Dingen ist jemals geschehen. So hat sich in mir die Ansicht gebildet, dass negative Erwartungen positive Ergebnisse hervorbringen. Ich weiß, dass diese Denkweise alles andere ist als rational. Ich neige ein wenig zu einer Art des magischen Denkens, auch wenn ich nicht an Magie, Hexerei und dergleichen glaube. Mich hat einfach die Erfahrung gelehrt, dass nie etwas so schlimm sein kann, wie ich es mir vorstelle.
Ich habe gelernt, dass nichts Schreckliches passiert, wenn man das Beste als Selbstverständlichkeit betrachtet. Das hat nichts mit Selbstgefälligkeit oder Hochmut zu tun. Ich habe mich lange Zeit nicht getraut zu glauben, dass letztlich doch alles gut ausgehen wird. Dass die Unmöglichkeit, auf die Uhr zu blicken, weil man seine Arme nicht anheben kann, nicht von langer Dauer sein wird.
Mit meiner Ergotherapeutin Julia übte ich meine Handkoordination. Sie zeichnete ein paar Punkte auf eine Serviette, und ich sollte diese Punkte mit einer Zeigefingerspitze treffen. Es war anstrengend und mit der Überzeugung verbunden, dass ich das unmöglich schaffen würde. Von den etwa zehn Punkten traf ich vielleicht drei oder vier, dann wurde es mir zu anstrengend. Später versuchte ich, auf einer Computertastatur den Namen Julia zu tippen. Es dauerte eine Ewigkeit. Und ich zweifelte. Es hat keinen Sinn, dachte ich. Es ist vorbei. Ich bin gelähmt, und ich bleibe gelähmt. Diese Spielereien sind vollkommener Schwachsinn.
Während ich dies schreibe, zeigt mein Word Count 1691 Wörter an. Danke, Julia!
Also, wenn auch Sie ein Zweifelmensch mit Guillain-Barré-Syndrom sind, helfen Ihnen meine Erlebnisse vielleicht weiter. Wenn auch nicht körperlich, dann zumindest moralisch. Verlieren Sie den Mut nicht, und wenn Sie gar keinen Mut haben, vertrauen Sie darauf, dass er da sein wird, wenn Sie ihn wirklich brauchen.
Das Vertrauen auf eine bunte Zukunft zieht die Farben an.




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Samstag, 5. März 2016

Mein Heilungsweg, Teil 3 (von 5)

Manchmal ist es besser, in der Dunkelheit umherzuirren, als den Blick bei voller Beleuchtung auf das zu werfen, was man am meisten fürchtet.
Etwas, das dich so sehr erschaudern lässt, dass du keinen Schritt mehr tun willst. Etwas, vor dem du deine Augen lieber verschließt, als es auch nur eine Sekunde lang sehen zu müssen. Etwas, das dir die Kehle zuschnürt, lange bevor du schreien kannst.
Dieses Ding aus einer anderen Welt hat einen Namen.
Sie kennen diesen Namen.
Sehen Sie mal in Ihrem Reisepass nach, da steht er drin. Oder in Ihrem Führerschein. Fotos von diesem Wesen sind auch dabei.
"Gnothi seauton", sagten die altgriechischen Philosophen. Erkenne dich selbst. Ich dachte immer, ich wüsste, wer ich bin. Als Kind, als Jugendlicher, als Erwachsener. Ich dachte immer, ich hätte durch Selbstreflexion, künstlerische Arbeit und kreatives Schreiben alle meine Geheimnisse und Schattenseiten durchleuchtet. Als ich dann das Guillain-Barré-Syndrom bekam, wusste ich auf einmal, dass ich nichts weiß. Ich dachte auch, dass ich all die üblichen Phobien habe, die man als normaler Mensch eben so hat. Zahnarzt, Feuer, Kampfhunde. Aber ich hatte auch immer Angst davor, eines Tages am ganzen Körper gelähmt zu sein. Warum mich ausgerechnet dieses Schicksal dann getroffen hat, weiß ich nicht. Ich glaube aber nicht, dass da ein Zusammenhang besteht.
Jedenfalls passierte es, und ich stellte fest, dass ich nicht annähernd über soviel Selbsterkenntnis verfügte, wie ich immer geglaubt hatte. Ich lag in einem riesigen Krankenbett auf der Intensivstation und lernte dort einen Menschen kennen, der mich sehr verwirrte und mir Angst machte, wie ich sie noch nie davor in meinem Leben gehabt hatte. Sie können sich wahrscheinlich schon denken, wen ich meine. 
Mich selbst.
Im Laufe der vergangenen zwei Jahre und acht Monate habe ich mich so kennengelernt, wie ich wirklich bin. Nicht so, wie ich dachte zu sein. Ich bin einem Menschen begegnet, der feige, ängstlich, verzweifelt und hoffnungslos ist. Aber auch einem, der mehr überleben und ertragen kann, als er je für möglich gehalten hätte. Von beiden Seiten meiner selbst war ich überrascht, und beide Seiten haben mir letztlich nur Positives gebracht. Früher habe ich immer gesagt, ich wüsste nicht, wie ich mich in Extremsituationen verhalten würde oder wenn ich den Tod unmittelbar vor Augen hätte.
Heute weiß ich es. Und ich bin froh darüber. Ich will nicht so weit gehen zu sagen, dass mich nichts mehr erschüttern kann, aber ich habe gelernt, die mich betreffenden Ereignisse nicht allzu ernst zu nehmen. Letztlich geschehen die Dinge nie exakt so, wie man sie erwartet. Perfektionisten haben es da besonders schwer. Die Kontrolle über die Dinge zu verlieren oder zu erkennen, dass man sie überhaupt nie hatte, ist eine besonders harte Belastungsprobe für...
...Ja, für wen eigentlich?
Durch all die Erlebnisse meiner Krankheitszeit habe ich mehr und mehr den Kontakt zu mir selbst verloren. Ich habe festgestellt, dass ich offenbar nicht der Mensch war, der ich immer gedacht hatte zu sein. Aber wer war ich dann? Dieses Gefühl des Identitätsverlusts war mir nicht nur unbekannt, sondern auch so unheimlich wie das Gesicht eines Clowns im Mondschein.
Wenn Sie noch nie das Gesicht eines Menschen gesehen haben, der entschlossen ist, sein Leben in wenigen Augenblicken zu beenden, wünsche ich Ihnen, dass es dabei bleibt. Nicht, weil der Anblick so schrecklich ist, sondern weil die Erinnerung an die verzweifelte letzte Tat der alten Frau für immer in meinem Gedächtnis eingebrannt bleiben wird. Das Gesicht dieser Dame sah genauso aus wie die Gesichter der anderen Menschen in diesem Reha-Zentrum und genauso, wie alle Gesichter an jedem beliebigen Ort.
Das wahre Grauen liegt nicht in einem entsetzten Gesicht, sondern in der banalen Unausweichlichkeit des menschlichen Endes. Kein flammender Sonnenuntergang, keine dramatische Musik, nur die Stimme eines Mannes, der am offenen Fenster steht und der Frau zuruft, sie solle es nicht tun.
Und zehn Meter Distanz vom Leben bis zum Asphalt.
Ich will Ihnen ja nicht die Hoffnung auf ein gesundes und glückliches Leben zerstören, aber irgendwann landen wir alle auf dem Asphalt. Egal ob wir springen oder vom Schicksal gestoßen werden. Wir schweben nicht durch einen Tunnel ins Licht, sondern knallen einfach auf den harten Beton. Auch, wenn es unglaublich klingt, aber diese Tatsache ist ein starker Antrieb für mich. In den Momenten meiner Krankheit, als ich zwischen Hoffnungslosigkeit, Selbsthass, Trauer und Angst umhertaumelte wie ein besoffener Clown in einer öligen Manege, war es immer der Gedanke an den großen Lebensfeind am Ende der Zeit, der alle anderen Feinde zu Zwergen schrumpfen ließ.
Der Blick in das Gesicht eines sterbenden Menschen ist der Blick in die eigene Zukunft.
Irgendwo in meinem Hinterkopf saß Jiminy Grille, die mich in Augenblicken der Verzweiflung stets daran erinnerte, dass selbst die tiefsten Messerstiche nichts sind im Vergleich zum letzten Axtschwung des großen Lebensfeindes am Ende unserer Zeit.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt, und der uns hilft zu leben. So sagte es Hermann Hesse. Und die Band Blue Oyster Cult sang: "Don' t Fear the Reaper".
Es waren oft bedeutungslose Kleinigkeiten, wie mein Dauerkatheter, die mich daran hinderten, alles zu tun, um so schnell wie möglich wieder beweglich und gesund zu werden. Oft denke ich mir, was ich da schreibe, muss einem gesunden Menschen doch wie der blanke Wahnsinn erscheinen. Es wäre doch die natürliche Reaktion eines jeden Menschen mit einer solchen Krankheit, so schnell wie möglich aus diesem Zustand herauszufinden und wieder ein normales Leben zu führen.
Das war auch meine Meinung und letztlich der Grund, warum ich immer mehr den Respekt vor mir selbst verlor. Anstatt wie ein Löwe gegen die Lähmung anzukämpfen, hoffte ich insgeheim jeden Tag, dass die Therapiestunden ausfallen würden. All das, weil ich Bewegung, Training und Therapie mit Schmerzen in Verbindung brachte. Solch ein Denkmuster prägt sich ein, und die Neuroplastizität unseres Gehirns sorgt dafür, dass solche Assoziationen für uns so real sind wie die Wirklichkeit.
Leider spielt unser Hirn uns da einen Streich. Es will nicht, dass wir aus dem Rollstuhl wieder rauskommen. Es will auch nicht, dass die Lähmung wieder abheilt. Es will nicht trainieren, noch will es sich therapieren lassen. Die Hauptaufgabe, die allerhöchste Priorität des menschlichen Gehirns ist das Überleben. Wenn das Training mit Schmerzen, körperlichen Verletzungen und Angst in Verbindung gebracht wird, tut es alles, was in seiner Macht steht, um uns an der aktiven Selbstheilung zu hindern.
Obwohl der vernünftige Teil unseres Hirns uns sagt, dass das Training uns dem freien Gehen und dem freien Leben jeden Tag einen Schritt näher bringt, ist es oft machtlos gegen das unterbewusste Reptilienhirn in unseren Köpfen, das nicht von der Genesung, der Freiheit und der Lebensfreude spricht, sondern uns nur einen einzigen Befehl gibt: Überlebe!
Ich bin froh, dass all das durch Psychologie und Hirnforschung entdeckt und bewiesen wurde, sonst würde es nach der Ausrede eines unglaublich faulen Sacks klingen. Zugegeben, manchmal bin ich das wirklich, aber die Haupttriebfeder meiner Selbstsabotage war nicht Faulheit, sondern Angst. 
Ich befand mich zwei Jahre lang in einem Zustand ständiger Angst, die manchmal größer und manchmal kleiner wurde. Völlig sorgen- und angstfrei war ich aber nie. Selbst heute, im März 2016, bin ich es noch nicht. Allerdings kann ich heute dieses Ungeheuer klein halten. Ich habe die Angst zwar noch nicht gezähmt, aber es ist mir zumindest gelungen, ihr das Zaumzeug anzulegen und es zu satteln. Geholfen haben mir dabei unzählige wunderbare Menschen, mein Verstand, die Fortschritte, eine wöchentliche Gesprächstherapie und natürlich die Zeit.
Was den Selbstrespekt betrifft, die Achtung vor mir selbst schrumpfte immer weiter. Einerseits wollte ich keine Schmerzen und keine Angst, aber andererseits wollte ich so schnell wie möglich wieder zurück in ein Leben auf eigenen Beinen und Füßen. Meine Verachtung für das weinerliche Weichei, das mir aus dem Spiegel entgegensah, wurde immer größer. Am liebsten hätte ich diesem Angsthasen ins Gesicht geschlagen. Gut, dass ich kein Religionsgründer bin, sonst wäre ich aus meiner eigenen Kirche ausgetreten. Ich war die längste Zeit meiner Krankheit kein Fan von mir.
So ganz ist die Selbstachtung auch heute, zwei Jahre und acht Monate nach dem Ausbruch meiner Krankheit, noch nicht da, aber ich bespucke den Typen im Spiegel nicht mehr. Gelegentlich grüße ich ihn sogar.
Eine Erkenntnis, die ich aus meiner Krankheit gewonnen habe, ist die Tatsache, dass ein Mensch neben dem Vertrauen in den eigenen Körper auch das Vertrauen in die eigene Persönlichkeit verlieren kann. Sich eines Tages darüber klar zu werden, dass man nicht mehr weiß, wer man eigentlich ist, kann einen ganz schön aus der Bahn werfen. Meinen Namen, meine Lebensgeschichte und alles was ich gelernt und geliebt hatte, wusste ich zwar noch, auch das Gesicht im Spiegel habe ich wiedererkannt. Aber ich wusste nicht mehr, ob derjenige, der durch diese Augen in die Welt blickt, ein lebender Mensch war, oder ein Toter mit aktivem Verdauungssystem.
Shakespeare sagte, dass uns die Schwäche unseres Denkens die schweren Lasten des Lebens lieber tragen lässt, als die eigenen Grenzen hinter uns zu lassen und in eine unbekannte Zukunft aufzubrechen. So macht unser Bewusstsein Feiglinge aus uns. Von Natur aus sind wir wagemutig und fähig unsere eigenen Entscheidungen zu treffen. Es ist das viele Grübeln, das Zerdenken, das unsere Entscheidungen schwächt. Unser idealistischer Antrieb gerät durch das besorgte Zögern ins Schlingern. So ungefähr kann man es im berühmten Hamletmonolog nachlesen. 
Ein Mensch kann schon lange vor seinem Tod sterben. Glauben Sie mir. Ich war in diesem unentdeckten Land, aus des’ Bezirk kein Wand’ rer wiederkehrt. Es ist kein schöner Ort, obwohl die steinigen Straßen von Engeln gesäumt sind. Zurückgekommen bin ich, und ich habe meine Identität, meine Persönlichkeit und zumindest einen Flügelschlag meiner Unbeschwertheit wiedergefunden.




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