Samstag, 31. Januar 2015

Meine Meditation macht Mut

Meine Form der Meditation ist ganz einfach. Um ehrlich zu sein, weiß ich gar nicht, ob man das überhaupt Meditation nennen kann, aber es ist zumindest eine ausgesprochen wirksame Entspannungsübung. Sie hilft mir dabei, in Momenten der Ruhelosigkeit oder der Angst, einen klaren Kopf zu bekommen. So klar es in solchen Augenblicken der Anspannung geht. Ich war ein halbes Jahr vom Hals abwärts gelähmt, und diese Meditation hat mir über diese Zeit hinweggeholfen. Ich glaube, ohne sie wäre ich total verzweifelt und hätte jede Hoffnung auf Heilung aufgegeben. Aber Sie lesen jetzt diese Zeilen, und die habe ich mit meinen beiden Zeigefingern getippt.
Die Zeit der Lähmung habe ich hinter mir, aber meine Meditation macht mir weiterhin Mut.
Dies ist meine Meditation:
Zuerst versuche ich mich ein wenig zu beruhigen. Ich sage dann innerlich zu mir: "Ganz ruhig. Bleib ganz ruhig. Es ist alles in Ordnung." Das wiederhole ich ein paar Mal. Manchmal sage ich es sogar laut, aber nur, wenn niemand in der Nähe ist. Seit ich am Guillain-Barré-Syndrom erkrankt bin, bin ich etwas nervös geworden, und selbst Kleinigkeiten wie ein wenig Krach oder das plötzliche Klopfen an der Tür stören mich maßlos und lassen mich manchmal regelrecht aufschrecken. 
Es gibt nur zwei Urängste, die genetisch bedingt und somit vererbbar sind. Das sind die Angst vor dem Fallen und die Angst vor plötzlichen lauten Geräuschen. Alle anderen Ängste und Phobien sind erlernt. Vielleicht ist das ein kleiner Trost für alle, die immer wieder unter ihren eigentlich grundlosen Angstzuständen leiden, so wie ich.
Denn alles, was man lernt, kann man auch wieder vergessen. Auch die Angst. Wie man das erreichen kann, werde ich in einem späteren Blogpost beschreiben.
Doch zurück zu meiner Art zu meditieren und mich zu beruhigen.
Ich konzentriere mich darauf, ruhig und gleichmäßig zu atmen. Durch die Nase. Eine Ergotherapeutin hat mir gesagt, die Mundatmung sei die Fluchtatmung. Man atmet durch den Mund, wenn man den Tiger schon sieht, um noch rechtzeitig die Flucht ergreifen zu können. Ich halte zwar nicht viel von der überpsychologisierung der Körperfunktionen, aber das ergibt durchaus einen Sinn.
Beim Ausatmen zähle ich innerlich meine Atemzüge. Ich spreche dabei nicht, sondern mache es nur in meinen Gedanken. Das lenkt von unerwünschten Vorstellungen wie Angstgefühlen ab. Es ist kein Allheilmittel, aber besser als nichts und lindert die Angst und die Nervosität zumindest ein bisschen. Wenn ich die Entspannung noch intensivieren will, stelle ich mir vor dem inneren Auge noch die dazugehörigen Zahlen vor. Meistens sind es weiße Zahlen auf schwarzem Hintergrund, aber noch wirkungsvoller ist diese Technik, wenn ich mir die Zahlen in Farbe vorstelle.
Schon seit meiner Kindheit assoziiere ich Begriffe, Worte, Zahlen mit bestimmten Farben. Seit ich zurückdenken kann, ist die Sieben für mich orange. Auch Wochentage und Monate haben Farben. Der Montag ist grün. Wenn ich das Wort Montag höre, sehe ich sofort die Farbe Grün vor mir.
Man bezeichnet dieses Phänomen als Synästhesie. Das ist die Fähigkeit, voneinander völlig unabhängige Sinneseindrücke miteinander zu verbinden. Dies geschieht automatisch, man macht es nicht bewusst. Es gibt sogar Menschen, die Musik sehen können. Wenn sie Klänge hören, sehen sie vor ihrem inneren Auge bestimmte Farben. Das gibt dem Wort Feuerwerksmusik eine ganz neue Bedeutung. Ob Georg Friedrich Händel das wohl wusste?
Ich wende meine Meditationstechnik so lange an, bis ich mich beruhigt habe. Manchmal funktioniert es besser, manchmal schlechter, aber nur sehr selten gar nicht. Darum sei auch eine Warnung ausgesprochen: Wenden Sie diese Meditationsform nicht beim Auto fahren oder anderen gefährlichen Tätigkeiten an. Allerdings werden Sie, wenn sie auch am Guillain-Barré-Syndrom leiden, wahrscheinlich sowieso nicht viel mit dem Auto unterwegs sein. Außer mit dem Krankenwagen. Und das schwerste Gerät, das sie bedienen müssen, dürfte der Notrufknopf für die Krankenschwestern sein. Wenn Sie das können. Ich konnte es lange Zeit nicht. Praktisch ein halbes Jahr lang hatte ich weder die Kraft noch die Nerven, einen roten Knopf auf einem Schalter zu drücken.
Aber das Guillain-Barré-Syndrom zu haben, bedeutet nicht, dass man die Nerven verliert, sie liegen nur blank. Im wahrsten Sinne des Wortes. Das eigene Immunsystem zerstört die Myelinschicht der Nerven, die dafür zuständig ist, die Impulse aus dem Hirn davor zu schützen, ins Leere zu laufen.
Gegen Leerlauf und blank liegende Nerven hilft Ihnen vielleicht meine Meditationstechnik, die ich schon seit zwanzig Jahren anwende. Schon lange, bevor ich GBS hatte.  Hier eine kurze Zusammenfassung:

• Entspannen.
• Ruhig und gleichmäßig durch die Nase atmen.
• Beim Ausatmen die Atemzüge innerlich zählen.

Sie können diese Technik übrigens auch als innere Uhr verwenden. Bei mir funktioniert das ausgezeichnet. 25 ruhige Atemzüge sind eine Minute. 250 sind zehn Minuten. 375 eine Viertelstunde und so weiter. Auch gegen Schlafstörungen sind sie gut geeignet, solange man nicht an wirklich schweren Formen der Schlaflosigkeit leidet.
Also, entspannen Sie sich. Gut.
Eins...
Zwei...
Drei...
Vier...

Samstag, 24. Januar 2015

Der Weg und der Mut

Ich wache auf. Es ist sechs Uhr Früh. Ich habe keine Uhr im Blickfeld, und nach meiner Armbanduhr am Beistelltisch der Station Neurologie kann ich nicht greifen. Meine Arme und Hände sind gelähmt. Ich weiß es einfach. Ich wache jeden Tag Punkt sechs Uhr auf und schlafe jeden Tag Punkt dreiundzwanzig Uhr ein. Ich bin mein eigenes Uhrwerk. An meine Träume erinnere ich mich nicht mehr seit ich auf der Neuro bin. Das ist gut so. Auf der Stroke Unit der Intensivstation konnte ich oft zwischen Traum und Wirklichkeit nicht unterscheiden. Und die Träume dort waren grauenhaft.
Die Tür zum Krankenzimmer geht auf und Pfleger Christoph kommt herein. Er ist ein stämmiger, sehr sympathischer Mann, der immer gut aufgelegt ist. Ich nehme es ihm ab. Er hat nichts Gekünsteltes an sich.
"Guten Morgen!", sagt er. "Jetzt kommt die Guten-Morgen-Biene-Maja." Er meint die Spritzen, die er jetzt verteilen wird. Ich werde eine zur Thromboseprophylaxe bekommen. Christoph macht seine Runde und scherzt mit den Patienten, die dazu aufgelegt sind. Ich gehöre nicht dazu, was ich im Inneren bedaure, weil ich mag Christoph. Er ist nicht nur humorvoll, sondern auch sehr kompetent und hat eine Art, die auf mich sehr beruhigend wirkt.
Nach ihm kommt eine Krankenschwester und teilt das Frühstück aus. Die anderen Patienten steigen aus ihren Betten und setzen sich zum Tisch beim Fenster. Ich bleibe liegen. Eine Angewohnheit von mir, seit ich am Guillain-Barré-Syndrom erkrankt bin. Ich bekomme einen Becher Kaffee mit Milch und Zucker und eine Semmel mit Butter und Marmelade. Außer am Sonntag, da gibt es Milchbrot und Honig. So richtig verstanden habe ich nie, warum es nur am Sonntag Honig gibt, aber es ist mir auch egal. Beides ist süß und macht mir das Leben ein bisschen leichter. Früher war ich kein großer Freund von Süßigkeiten, aber das hat die Krankheit geändert. Jeden Abend, nachdem man mich mit Vanillepudding gefüttert hat, denke ich "jetzt gibt es erst zum Frühstück wieder was Süßes. Bis dahin muss ich es aushalten." Ich halte es aus. Der Pudding ist für mich zu einem Sinnbild des Überlebens geworden. Wieder einen Tag überstanden. Wieder einen Tag überlebt.
Diplomschwester Carina schneidet mir das Brot in kleine Häppchen und gibt es mir ein. Das Wort füttern wird ja nie verwendet. Damit sich die Patienten nicht fühlen wie Kinder. Man bekommt auch keine Windeln, sondern Einlagen. Ich kaue das Brot langsam und lege die Seite mit der Marmelade zuerst auf die Zungenspitze, um den süßen Geschmack besser wahrnehmen zu können. Carina ist eine junge schlanke Frau. Auch sie hat viel Humor und eine sehr aufheiternde Art. Ich bin immer froh, wenn solche Schwestern oder Pfleger kommen. Mein Leben ist trostlos genug.
Carina sagt mir, dass ich ein bisschen aufrecht sitzen bleiben soll. Zur Verdauung, wegen der Lunge und wegen dem Herz. Meine rechte Hüfte sagt mir, dass ich mich flach hinlegen soll und verspricht mir, mir dann nicht mehr weh zu tun. Ich bleibe ein paar Minuten sitzen. Die dumpfen Schmerzen treiben mir den Schweiß ins Gesicht. Carina kommt zurück und klappt den Rückenteil des Bettes wieder um. Ich bin erleichtert. Ich kann die Knöpfe am Seitengitter des Bettes nicht selbst bedienen. Ich kann ja meine Arme und Hände nicht bewegen. Erst Monate später soll es mir gelingen, das mit den Ellbogen zu machen, aber dabei kippe ich oft zur Seite weg und kann mich nicht mehr aufrichten, was die Schmerzen noch schlimmer macht. Manchmal bin ich dabei allein im Zimmer und kann den Glockenknopf für den Notruf nicht erreichen. Mir bleibt dann nichts anderes übrig als zu warten, den Schmerz zu ertragen, zu schwitzen und mich zu fragen, warum ich bei meiner Darmsepsis und den schweren Blutungen während der Operation nicht gestorben bin.
Aber jetzt liege ich und weiß, dass das nicht lange so bleiben wird. Es ist knapp sieben Uhr, und um neun kommt die kleine, quirlige und über alle Maßen geniale Martina, meine Ergotherapeutin. Schon auf der Neuro hat sie mir beigebracht, wie man als gelähmter Mensch, der im Grunde nur aus einem Kopf besteht, ein Papiertuch über ein Tablett wischt. Sie hat kurzes dunkles Haar und eine lustige lila Brille. Immer, wenn Martina das Zimmer betritt, fühle ich mich wohl. Sie motiviert mich und gibt mir Mut und Hoffnung. Danke, Martina.
Wir machen unsere Übungen. Sie bewegt meine Arme und Hände durch, massiert die Haut, die Muskeln und die Nerven. Was genau sie macht, weiß ich bis heute nicht. Ich weiß nur, dass ich nach etwa drei Monaten meinen linken Zeigefinger ein paar Millimeter hin- und herbewegen kann. Die Therapieeinheit dauert nur eine halbe Stunde. Von mir aus könnte Martina den ganzen Tag bleiben. Sie gratuliert mir für das, was ich geschafft habe, wünscht mir noch einen schönen Tag und verabschiedet sich bis morgen.
Hinlegen. Warten. Um elf Uhr Physiotherapie. Wolfgang und Christine kommen herein. Christine hat große braune Augen, einen sehr offenen Blick und rötliches kurzes Haar. Wenn sie mich anlächelt glaube ich, allein schon davon geheilt zu werden, und ich hasse mich heute noch dafür, dass ich später immer wieder das Querbettsitzen beim Essen verweigert habe, weil es mir zu mühsam war. Christine war enttäuscht.
Sie hebt meine Arme über den Kopf und streckt sie nach hinten durch. Allerdings nicht sehr weit, denn es tut so weh, dass ich mir die Hüftschmerzen zurückwünsche. Sie sagt, dass das aber immer besser gehe. Jedes mal komme sie ein Stück weiter mit meinen Händen in Richtung Wand. "Vielleicht werde ich doch wieder gesund", denke ich. Solche Kleinigkeiten bedeuten mir die Welt.
Wolfgang hebt meine Füße und Beine an, knickt sie ab, beugt und streckt sie. Auch das tut weh, aber es muss sein. Den Schmerz spüre ich aber nicht in der Muskulatur, sondern hauptsächlich in der Hüfte. Später, wenn meine Empfindungen und die Nervenaktivität besser werden, werde ich es auch in den Waden spüren, besonders, wenn ich im Stryker stehe und mir die Welt von oben betrachte.
Auch die Physiotherapie geht vorbei. Man setzt mich noch ordentlich hin und polstert mich an den Seiten aus, damit ich nicht umkippen oder wegrutschen kann. Gleich gibt es das Mittagessen. Die Therapeuten verabschieden sich, auch sie wünschen mir einen schönen Tag. Jetzt tut mir alles ein bisschen weh, aber ich weiß, dass das zu meiner Genesung beiträgt.
Ich habe es oft gehört, dass Patienten ihre Therapeuten als Folterknechte bezeichnet haben und gesagt haben, sie würden von ihnen geschunden. Ich habe das nie getan, nicht einmal in meinen Gedanken. Ich habe die Therapien nicht immer gerne gemacht, aber ich war immer froh, sie zu haben - die Therapien und die Therapeuten -, denn sie waren letztlich meine größte Chance, den Rückweg ins Leben zu finden. Aus eigener Kraft und auf eigenen Beinen.
Mittagessen. Powered by Bettina. Ich glaube, ich habe schon mal über sie geschrieben. Die fesche Diplomschwester mit den schönen blauen Augen und dem kecken blonden Haarschweif. Später hat sie sich das Haar brünett färben lassen, ein bisschen wie Gulasch. Da hat sie mir zwar auch noch gefallen, aber nicht so wie blond.
Broccolicremesuppe und gekochtes Kalbfleisch. Ich möchte meinen Blog und meine erschütternde Leidensgeschichte (okay, das war jetzt ein bisschen dick aufgetragen) dazu nutzen, eine Lanze für das oft verschrieene Krankenhausessen zu brechen. Wenn' s nicht schmeckt sagt man ja fast schon sprichwörtlich, "schmeckt wie Krankenhausessen." Aber das Essen im Landeskrankenhaus Vöcklabruck in Oberösterreich ist wirklich köstlich. Nicht, weil ich ein am ganzen Körper gelähmter leidender Mensch bin, der alles schluckt, was man ihm einwirft, sondern, weil es einfach fantastisch zubereitet ist. Und ganz oben, Top of the Pops des Essens, steht für mich das gekochte Kalbfleisch. Es ist zart, saftig und aromatisch. Jetzt werden die Tierschützer kommen und sagen, "aber das arme Kälbchen war doch noch so jung. Es wird direkt von der Mutterbrust weggerissen und geschlachtet." Meine lieben Tierschützer! Genau darum schmecken sie ja so gut. Und außerdem werden sie nicht von der Mutterbrust weggerissen, sondern vom Euter einer Kuh.
Feierabend. Jetzt schon. Erst knapp halb eins. Jetzt werde ich bis zum Abendessen am Rücken liegen und mir das Muster an der Decke ansehen. Eigentlich ist es gar kein Muster, sondern weißer Verputz. Zwischendurch werde ich auf die Seite gelagert, zur Dekubitus-Vorbeugung. Ich erinnere mich an einen Patienten, der immer gesagt hat, hier auf der Neuro sei es wie in einem Vier-Sterne-Hotel. Ja. Er hat recht. Club Tropicana. All that' s missing is the sea. Nur mir fehlt ein bisschen was zum Sunshine Reggae.
Gesundheit, Lebensfreude und eine Zukunftsperspektive.
Aber die Apfelschlange, die es zum Abendessen gibt, ist super.
So verlaufen meine Tage auf der Neuro. Jeder. Vier Monate lang.
Als Kopf werde ich eingeliefert, und entlassen werde ich als Kopf mit einem beweglichen linken Zeigefinger, der die Schultern ein bisschen bewegen und die Arme ein bisschen heben kann. In dieser Zeit haben alle ihr Bestes gegeben (ja, auch ich). Die Ärzte, die Krankenschwestern, die Pfleger, die Therapeutinnen und die Therapeuten und das ganze Personal. Ich wurde gepflegt, therapiert, aufgemuntert, mit Essen und Trinken versorgt, im Bett umgedreht, mit Medikamenten versorgt, liebevoll, aber auch streng behandelt. Mit Humor, aber auch mit Ernsthaftigkeit. Mein Dank an alle, ich kann es gar nicht oft genug sagen.
Dieser Tag auf der Neuro dauert vier Monate. Langsam fasse ich wieder Mut. Aber er verlässt mich auch wieder. Oft. Auch heute noch.
Aber mit dem Mut ist es wie mit dem Weg, den man beschreitet.
Diese Worte gehen direkt an Dich, lieber Mensch mit dem Guillain-Barré-Syndrom: Halte den Kopf hoch und lass Dir von den Tränen nicht den Blick verschleiern.
Nur so findest Du zurück ins Leben. Alles andere ist Finsternis.

Samstag, 17. Januar 2015

Im Berglabyrinth

Der Berg wird immer höher, je näher man ihm kommt.
Zumindest erscheint es einem so. Aus weiter Ferne betrachtet, sieht jeder Berg aus wie ein Stein. Aber nähert man sich ihm, scheint er zu wachsen, immer größer und bedrohlicher zu werden. Und steht man schließlich an seinem Fuß, erscheint einem der Gipfel unerreichbar.
Beginnt man mit dem Aufstieg, wird es immer schwerer, je weiter man kommt. Scheinbar entfernt sich das Ziel. Der Berg am Horizont ist winzig, aber der Horizont am Berg ist unendlich. Man verliert die Orientierung auf dem Weg. Man verliert seine Sinne oder sogar seinen Verstand.
Manche verlieren ihr Leben.
Der Weg ist das Ziel, sagt man. Was aber, wenn der Weg immer länger wird, während man ihn beschreitet? Und immer steiniger? Und steiler? Verliert man dann das Ziel aus den Augen, weil man den Weg nicht mehr sieht und sich verirrt? Oder sind alle Wege Labyrinthe?
In einem Labyrinth kann man sich nicht verirren. Der Weg führt auf vielen Verschlingungen letztlich ins Zentrum. Oder aus dem Zentrum heraus, zurück in die Freiheit. Labyrinthe werden oft mit Irrgärten verwechselt. Die. Haben tatsächlich Sackgassen. Man kann darin verloren gehen. Und man kann darin sterben.
Ich bin weder ein Bergsteiger, noch war ich jemals in einem Labyrinth.
Aber die Irrgärten kenne ich.
Meine Krankheit ist einer davon. Genaugenommen ist sie alles von dem.
Das Guillain-Barré-Syndrom ist ein Irrgarten, das in ein Labyrinth mündet, welches zu einem scheinbar unbezwingbaren Berg führt.
Zuerst war die Intensivstation. Mein Irrgarten. Dort war ich verloren, verwirrt und orientierungslos. Auf der Neuro, dem Labyrinth, wusste ich, dass der Weg ins Freie führt, aber ich verlor den Überblick, glaubte nicht an das Ziel, zu dem dieser Weg führte. Schließlich sah ich mitten in diesem Labyrinth den Berg. Er war nicht sehr hoch, erschienmir aber unbezwingbar. Ich hatte große Angst, ihn zu besteigen. Es war sogar buchstäblich ein Berg. Der Gmundnerberg am Traunsee. Ihm gegenüber der Traunstein. Ein riesiger, bedrohlicher Brocken. Dort, am Gmundnerberg im Reha-Zentrum begann der Aufstieg aus dem Labyrinth. Nach und nach meldeten sich immer mehr Körperfunktionen zurück. Die Arme, die Hände, die Beine, die Füße. Das Ziel, der Gipfel, rückte immer näher.
Und jetzt bin ich in Altenhof. Der Aufstieg geht weiter. Meine Körperfunktionen sind alle so gut wie wiederhergestellt, ich müsste nur viel mehr trainieren. Aufstehen kann ich. Im Stand schaffe ich mit festhalten 160 Schritte. Trotzdem bin ich gerade in einer Phase, in der meine Motivation stagniert. Je näher ich dem Gipfel komme, desto weiter entfernt scheint er mir. Das hängt sicher auch damit zusammen, dass der Rollstuhl seit der Kindheit in meiner Vorstellung etwas Schicksalshaftes und Endgültiges hat. Damals habe ich die Menschen bemitleidet, die in Rollstühlen saßen, aber ich hätte nie gedacht, dass ich selbst einmal in einem landen würde.
Für mich war ein Rollstuhl immer etwas, aus dem man nicht mehr rauskommt, wenn man erst einmal drinsitzt. Und obwohl ich mittlerweile mühelos aufstehen kann, kommt diese Vorstellung zurück, sobald ich mich wieder hinsetze. Der Gedanke, endgültig aus dem E-Rolli aufzustehen und ihn nie wieder zu brauchen, erscheint mir absurd, obwohl ich weiß, dass er das nicht ist. So blockieren mich meine eigenen vorgefassten Meinungen.
Ich befinde mich wohl gerade an dem Punkt, an dem viele GBS-Patienten aufgeben, resignieren und den Rest ihres Lebens im Rollstuhl bleiben. Trotz aller Fortschritte und Erfolge glauben sie nicht mehr an die Erreichbarkeit des Berggipfels. Sie haben aus dem Irrgarten und aus dem Labyrinth herausgefunden, mit dem Aufstieg zum Gipfel begonnen und sehen jetzt einen Weg, der immer länger und steiniger wird. Also verharren sie. Mit ihrem eigenen Stillstand wird auch der Weg nicht mehr länger und die spitzen Steine stechen ihnen nicht mehr in die Fußsohlen. Ich schrieb bereits darüber in meinem Blog-Artikel "Zufriedenheit tötet!"
Wenn man diesen Punkt erreicht und verharrt, stirbt man. Nicht körperlich, aber seelisch. Die Seele stirbt. Heißt es nicht irgendwo in der Bibel, das sei der zweite Tod?
Müssen. Weiter. Kämpfen. Worte, die man als Mensch mit GBS oft hört. Zu oft vielleicht. Zu gut gemeint. Zu viel doch nur helfen wollen. Um mich herum dreht sich alles. Die Luft ist verpestet mit Engeln. Helfende Hände packen mich und zerren mich in den Abgrund. Ich werde mit Ratschlägen niedergeknüppelt. Ich werde aufgemuntert bis zur totalen Erschöpfung. Ich werde zu einer Ruine aufgebaut. Integriert bis zur vollkommenen Selbstentfremdung. Totgeheilt.
Solche Gedanken hatte ich. Früher. Im Irrgarten und im Labyrinth. Jetzt nicht mehr.
Jetzt sehe ich, dass der Weg tatsächlich bergauf geht.
Geht.
Gehen.
Wieder beende ich einen Text mit einem Aufruf an alle Menschen, die am Guillain-Barré-Syndrom leiden, an deren Angehörige und Freunde:
Gebt nicht auf! Geht weiter! Fürchtet euch nicht!
GBS gilt zwar offiziell als unheilbar, das liegt aber nur daran, dass man den Verursacher nicht kennt. Heilen kann man nur eine Krankheit, aber nicht ein Syndrom. Wortklauberei, sicher.
Aber die Symptome vergehen wieder. Sie lösen sich auf wie die Wolken, die den Blick auf den Gipfel des Berges verdecken. Vergessen Sie das nicht!
Der Berg namens Guillain-Barré-Syndrom ist bezwingbar.
Hoffnung schwingt sich himmelwärts.

Samstag, 10. Januar 2015

Der untote Kopf

Ich schreie. Ich wache auf. Es ist dunkel. Ich bin allein. Ich bin erstarrt. Mein Körper ist tot. Es ist kein Traum. Ich höre die Geräusche der Geräte. Mein Blut summt in meinem Kopf.
»Schwester!« schreie ich. Die Station der Krankenschwestern ist direkt vor meinem Zimmer, aber sie hören mich oft nicht. Ich bin durstig. Sie werden mir kein Wasser geben. Sie werden mich nicht einmal hören. Meine Stimme ist schwach. Sie werden mir nicht helfen. Die Angst steigt in mir auf, ist noch tausemndmal schwärzer als die Dunkelheit um mich herum.
Ich liege und warte. Ich bin 43 Jahre alt und fürchte mich wie ein kleines Kind. »Warum ist alles so gekommen?« Frage ich mich. In meinem Kopf schwirren Gedanken und Ängste, und ich spüre Beklemmung. Ich weiß, dass ich wieder einschlafen werde. Ich werde wieder träumen, dass man mich entführt, foltert, operiert, lebendig begräbt. Und ich werde wieder aufwachen. Und schreien. Vor Schmerz, wenn der Meissel in meine Knochen fährt. Ich werde vor lauter angst schreien und vor Verzweiflung, wenn ich mich wieder an den ganzen Wahnsinn meines Lebens erinnern werde.
Mein Leben lang war ich träge, energielos und faul. Jetzt bin ich lahmgelegt. Jetzt, da ich regungslos wie eine Statue in einem Krankenhausbett liege, weiß ich es zu schätzen, wie es ist, wenn man auch nur einen Finger bewegen kann. Wie unersetzbar unser menschlicher Körper doch ist und wie leicht man ihn verliert.
Mir wird bewusst, dass ich lernen muss, meinen Körper aufzugeben. Werde ich das können, ihne total zu verzweifeln oder wahnsinnig zu werden? Werde ich mich damit abfinden können, dass ich den ganzen Rest meines Lebens nichts anderes werde bewegen können als meine Augen und den Kopf?
Den Geist aufzugeben ist leicht. Man macht die Augen zu und schläft ein. Zumindest vorübergehend.
Aber wie gibt man seinen Körper auf? Nicht, indem man stirbt, sondern, indem man die Tatsache akzeptiert, dass der ganze Körper ein gelähmter Untoter ist? Ich schiebe diesen Gedanken weg. Ich werde meinen Körper nicht aufgeben. Die Ärzte sagen, es wird wieder. Aber es dauert. Ich glaube ihnen...kein Wort. Ich will ihnen glauben, aber das einzige, was ich wirklich glaube, ist, dass sie einfach abwarten, bis ich mich an meinen Zustand gewöhnt habe. Dann werden sie zu mir kommen und sagen: »Sie sind jetzt stark genug, um die Wahrheit zu erfahren. Sie werden den Rest Ihres Lebens gelähmt bleiben. Am ganzen Körper. Vom Hals abwärts.«
»Tja, so ist es«, werden sie sagen. »Sie werden das ganze Leben lang nichts anderes mehr sein als ein Kopf. Es wird nicht wieder. Wir wollten Sie schonen, darum haben wir ihnen nicht die Wahrheit gesagt.«
Genau so wird es sein. So wird es kommen. In der Dunkelheit des piepsenden, zischenden und pumpenden Zimmers der Intensivstation wird mir klar: Ich werde mich nie wieder bewegen können. Ich werde für alle Zeiten gelähmt bleiben. Dieser Samen der Angst fällt auf dem Acker meiner Kopflebenswelt sofort auf fruchtbaren Boden, wähchst und gedeiht, schlägt Wurzeln in meinem Hirn und erblüht zu einem schwarzen, stinkenden Baum voller fauliger Früchte.
Ich weine und weiß, dass ich für meine Tränen werde büßen müssen. Sie werden in meinen Augen die ganze Nacht brennen, weil ich sie mir nicht abwischen kann.
Der weinende untote Kopf liegt in der Finsternis.
»Morgen geht die Sonne auf«, denkt er.
   

Samstag, 3. Januar 2015

Mein Leben ohne Körper

Ich liege am Rücken. Über mir ist die weiße Decke der Intensivstation. Es ist still. Bis auf das Piepsen der Geräte, die mich am Leben halten. Ich bekomme eine Dialyse. Ich drehe meinen Kopf so weit ich kann nach links und sehe, wie mein Blut durch einen Schlauch in eine Kasten fließt. Mein Herz wird überwacht. Ich habe verschiedene Infusionen. Überall Schläuche. An meinem Bauch hängt ein Plastiksack, ein Stoma. Ich sehe ihn nicht, aber ab und zu höre ich ihn.
Ich kann meinen Kopf bewegen. Und meine Augen. Sonst nichts. Es ist Tag. Ich weiß die Uhrzeit nicht. Es ist niemand da. Ich bin völlig allein. Ich weiß, dass sie wieder kommen werden. Die Schwestern, die Pfleger, die Ärzte. Sie werden mir helfen. Ich bin dankbar dafür.
Ich denke an meine Zukunft. Aber da ist nichts. Mein Leben wird weitergehen. Aber wie? So wie jetzt? Vollkommen gelähmt? Unfähig, eine einzige Bewegung zu machen? Meinen Körper spüre ich nicht. Ich bin ein Kopf. Mehr bin ich nicht. Ich habe einen Körper. Glaube ich. Aber ich spüre ihn nicht.
Ich spüre nur Schweiß und Tränen in meinen Augen. Ich bin tot, denke ich. Ich bin kein Mensch mehr. Ich weiß, dass es so bleiben kann. Vom Hals abwärts gelähmt. Es wird wieder, sagen sie. Aber es dauert. Wie lange? Keiner weiß es. Oder wollen sie es mir nicht sagen? Wissen sie, dass es nicht wieder werden wird? Wissen sie es, aber sagen es mir noch nicht? Werde ich ein Kopf bleiben? Für den Rest meines Lebens? Ich bin 43. vielleicht werde ich 100. vielleicht verbringe ich die nächsten endlosen Jahrzehnte damit aus meinem Kopf an die Zimmerdecke zu starren.
Wie soll ich mich töten? Oder will ich weiterleben? Noch will ich das. Es wird ja wieder. Aber es dauert. Und wenn nicht? Wie bringe ich mich um? Mit einem elektrischen Rollstuhl mit Mundsteuerung von einer Klippe stürzen. Mir ist klar, dass das undurchführbar ist. Wie sonst? Mir fällt nichts ein. Nein, ich will weiterleben. Ich will wieder gesund werden. Ich will wieder schnorcheln gehen. Selber essen. Gehen. Laufen.
Aber wann? Wie lange wird es dauern? Wird es morgen besser sein? Werden die Physiotherapeuten ein Wunder vollbringen? Wie heißt meine Krankheit? Woher habe ich sie? Werde ich nach Hause zurückkehren? Was wird mit mir? Sterbe ich doch?
Vielleicht wache ich morgen nicht mehr auf. Ein Trost. Ja. Das wäre schön. Aberich weiß, dass ich aufwachen werde. Ich werde an die Zimmerdecke schauen. Ich werde daran denken, dass es wieder wird. Aber es dauert. Wie heißt meine Krankheit?
Ich träume. Davon, gelähmt in einem Wohnwagen in der Wüste zu liegen. Es gibt kein Wasser. Ich werde mit dem Bett in einen Aufzug geschoben. Ich fahre in den Keller. Dort rollt mein Bett in einen düsteren, schmutzigen Raum. Ein dicker unrasierter Mann kommt auf mich zu in einer Hand hält er ein riesiges Messer. Ich weiß, was er jetzt tun wird. Er wird in meine Beine schneiden. Ich weiß, dass es kein Traum ist und kann nichts dagegen tun. Dann beugt er sich über mich und beginnt, Teile aus dem Fleisch meiner Beine zu schneiden. Ich spüre es. Ich spüre alles. Ich schreie.
Ich wache auf. Ich werde von einem Pfleger gewendet, damit ich mich nicht wundliege. Ich habe Angst. Es tut weh. Ich will nicht weiterleben. Dann schlafe ich wieder ein und weiß, dass ich weiterträumen werde.
Jetzt bin ich wieder wach. Wahrscheinlich. Oft bin ich mir nicht sicher, ob ich wache oder träume oder beides gleichzeitig. Ich habe einen Lappen auf meiner Brust. Eine Krankenschwester sitzt neben meinem Bett und füttert mich mit geschnittenem Fleisch. Ich glaube, es ist Pute. Oder sind es meine Beine? Dazu gibt es Nudeln und Sauce. Es schmeckt mir sehr. Das Leben ist doch ganz schön, denke ich mir und weiß, dass ich mich selbst belüge. Es piepst. Mein Blut rinnt durch den Schlauch.
Ich habe Durst. Ich darf nichts trinken, weil ich an der Dialyse. Hänge. Mein Mund ist trocken und meine Kehle tut weh. Ich will Wasser. Einen Schluck. Manchmal schlucke ich heimlich beim Zähneputzen etwas. Man merkt es. Man sagt mir, dass ich das nicht darf. Trotzdem tue ich es. Ab und zu.
Sie haben alle recht. Leider. Heute weiß ich das. Ich wäre gestorben. Mehrfach. Nierenversagen. Sepsis. Darmblutungen. Lungenversagen. Herzversagen. Und noch ein paar. Tiefenvenenthrombose. Sie haben mir das Leben gerettet. Alle. Nicht nur die Ärzte.
Auch die Putzfrau. "Mit ein bisschen Wünsch geht alles", hat sie gesagt. Ich habe mich immer gefreut, wenn sie hereingekommen ist, um den Boden aufzuwischen. Sie war um die vierzig. Locken. Ich glaube, sie hieß Sadita oder so ähnlich. Sie hat mich immer aufgemuntert. Zumindest meinen Kopf. Es gibt wunderbare Menschen. Danke, Sadita.
Aber sie alle haben nicht mein ganzes Leben gerettet. Ein Teil von mir ist gestorben. Der alte Markus, oder genauer gesagt, der junge. Der unbeschwerte und fröhliche Markus Gregory. Der ist tot. Glaube ich. Vielleicht doch nicht. Oft denke ich mir, ich habe keine Angst vor dem Tod. Ich bin ja schon tot. Aber die Thrombose hat mich eines Besseren belehrt. Ich will doch wieder aufwachen. Jeden Tag. Ich hätte an einem winzigen Blutgerinnsel sterben können. Wie lächerlich. Wie absurd.
Der Tod ist kein Gerippe. Auch kein Alien. Er sieht auch nicht aus wie Brad Pitt. Er hat keine scharfen Zähne und keine Sense in seinen Knochenhänden.
Der Tod ist ein Klumpen Blut, kleiner als eine Semmelbrösel. Eine merkwürdige Erkenntnis. Der Tod ist klein. Vielleicht ein Virus. Oder ein Bakterium. Oder irgendein Scheißantikörper, der die Nervenschicht frisst.
Ein Antikörper. Ein passendes Wort für den Tod.
Ich war ein Antikörper.
Ich war nur ein Kopf.
Mein Leben mit dem Guillain-Barré-Syndrom war ein Kopfleben. Aber jetzt wacht der Körper wieder auf. Wieder aufwachen. Jeden Tag. Ja, jeden Tag wieder aufwachen.
Genau so, liebe GBS-Leidensgenossen. Genau so machen wir das.
Wir wachen wieder auf.