Samstag, 25. Juli 2015

Romero, die Zombies und ich

AUFBLENDEN.

Mit neunzehn Jahren sah ich den Film "Der Affe im Menschen" von George A. Romero. Er handelt von einem querschnittgelähmten jungen Mann, der seinen elektrischen Rollstuhl nur per Mundsteuerung bewegen kann. Er legt sich ein Kapuzineräffchen zu, das ihm bei den Alltagsaufgaben helfen soll. Zuerst geht das gut, aber dann beginnt der kleine Affe ihn zu tyrannisieren. Der Mann beginnt sich zu wehren, und nimmt den Kampf gegen das Tier auf.
Die Geschichte vermittelt die beklemmende Verzweiflung, in der sich der Held befindet auf eine unaufdringliche, aber sehr intensive Art. Auch die Verwandlung von einem Opfer, einer Beute, in einen Jäger, der den Kampf gegen seinen Peiniger aufnimmt, kann ich aus heutiger Sicht sehr gut verstehen. Ich habe diese Verwandlung am eigenen Leib und an der eigenen Seele erlebt. Mein Peiniger heißt Guillain-Barré-Syndrom. Aber er liegt nicht mehr wie ein riesiger eiskalter Schatten auf mir, sondern ist inzwischen zu einem Weggefährten geworden, den ich jetzt gar nicht mehr als Feind betrachten kann. Ich sehe meine Krankheit mittlerweile als Lehrer. GBS hat mir viel beigebracht.
Die wichtigste Lektion: Fürchte dich nicht!
Ich habe lange gebraucht, um sie zu lernen. Aber inzwischen hat das Monster seinen Schrecken verloren.
Mit neunzehn konnte ich nicht beurteilen, wie plausibel die Aktivitäten in diesem Film sind, aber ich glaube, aus heutiger Sicht würde ich ihn nicht mehr für sehr glaubhaft halten. Eigentlich würde ich ihn ganz gerne wieder einmal sehen. Ich frage mich, wie er heute auf mich wirkt. Ich erhole mich zwar wieder von meiner Lähmung, und sie hatte auch andere Ursachen, aber das Gefühl kann ich nachvollziehen. Der Film ist vielleicht nur ein kleines Meisterwerk, zwar durchaus spannend, aber George A. Romero wird seine Zombies wohl nie abschütteln können.
Falls Sie sich jetzt wundern und fragen, ob Sie vielleicht auf dem falschen Blog gelandet sind, kann ich Ihnen versichern, dass Sie hier genau richtig sind. Auf meinem Blog geht es um  mein Leben mit dem Guillain-Barré-Syndrom, aber auch um mein Leben davor. Und da fallen mir nach und nach immer mehr Parallelen auf.
Außerdem wollte ich schon lange einmal eine Filmkritik veröffentlichen. Jetzt sind es sogar zwei geworden. Ein Double-Feature. Haben Sie Popcorn?
Einer der Filme, die ich immer wieder sehen kann und der mich jedesmal genauso beeindruckt wie beim ersten Mal, als ich ihn mit sechzehn Jahren im Fernsehen entdeckte, ist Romeros "Night of the Living Dead" von 1968.
Die expressive Schwarzweißfotografie mit ihrer ausgefallenen Kameraführung, die verzerrten Bilder, die düstere Stimmung, die Romero immer dichter webt, die für damalige Verhältnisse sensationellen Schockszenen, aber auch die phantastischen, heute namentlich vergessenen Schauspieler, machen "Die Nacht der lebenden Toten" zu einem der Ur-Schreckensvisionen meiner Pubertätsjahre. Meinen Schulfreunden hat dieser Film damals nicht gefallen, aber das ist typisch. Meine Interessen waren schon immer irgendwie...strange.
Allein schon die Anfangsszene, in der eine junge Frau Blumen an das Grab ihres Vaters legt und im Hintergrund ein schlacksiger bleicher Mann in einem schwarzen Anzug auftaucht, langsam auf sie zuwankt und sie dann attackiert, ist unvergesslich. Die Athmosphäre einer unüberwindlichen Bedrohung, die Ausweglosigkeit und das Gefühl hilflos einer stärkeren und grausamen Macht ausgeliefert zu sein, während man zusieht, wie die vertraute, sichere Welt auseinanderbricht und in schwarzem Blut versinkt, sind mir seit mittlerweile dreißig Jahren unauslöschlich in Erinnerung geblieben. Dieser Film hat seinen wohlverdienten Platz als ständiges Ausstellungsstück im New Yorker Museum of Modern Art verdient.
Den Film durchzieht ein antirassistischer und spaßgesellschaftskritischer Unterton. Die Spaßgesellschaft gab es schon lange vor der Erfindung der Apps mit dem Klang von Furzkissen. Denken Sie nur an die Gladiatoren. Die hatten zwar keinen Spaß, aber das römische Publikum fand die grausamen Metzeleien sehr unterhaltsam. Offensichtlich hatte der Mensch seine brutalen Triebe noch nie unter Kontrolle.
Genauso wie die Bürgerwehr in Romeros Film, die auf fröhliche Zombiejagd geht. So bedrohlich das Verhalten dieser Wesen auch ist, sind es letztlich doch immer noch Menschen, auf die da gedankenlos geschossen wird. Der Film kam mitten während des Vietnamkriegs in die amerikanischen Kinos. Die Anspielungen auf die Massaker in Vietnam sind eindeutig. "Night of the Living Dead" ist ein durchaus politischer Film. Der Hauptdarsteller ist ein junger schwarzer Mann. Er ist der Held. Das hat es vor Romeros Film im US-Kino noch nicht gegeben. Nicht einmal Sidney Poitier durfte in Norman Jewisons Klassiker "In der Hitze der Nacht" von 1967 weiße Menschen beschützen oder gar retten.
Dieser afroamerikanische Beschützer und Lebensretter wird von den Männern der weißen Bürgerwehr für einen Zombie gehalten und am Ende des Films, als der Tag anbricht und die Nacht der lebenden Toten vorbei ist, erschossen. Keine Frage, es ist ein düsterer Film, nicht nur, weil der größte Teil davon im Schatten spielt.
Dies alles nur so am Rande, damit Sie mal sehen, dass ich auch etwas anderes schreiben kann als sentimentale Erinnerungsgesänge auf mein ach so schönes, behütetes, glückliches früheres Leben. Ich selbst wurde zu einem Zombie, allerdings zu einem bewegungsunfähigen. Die beklemmende Stimmung dieses Films ist mir wohlbekannt, nicht erst seit dem Ausbruch meiner Krankheit. Das Gefühl, Opfer einer unüberwindlichen Bedrohung zu sein, hielt bei mir noch eineinhalb Jahre nach dem Abklingen der totalen Lähmung an. Ich habe aber auch gelernt, mich gegen das grausame Schicksal zu wehren. Zumindest hielt ich es für grausam. 
In Wirklichkeit war meine Erkrankung an GBS nur etwas, das eben geschehen ist. Einfach so. Ohne bedeutungsschwangere Gründe. Ohne Gerechtigkeit, aber auch ohne Ungerechtigkeit. Ich glaube, wir Menschen neigen dazu, in solch dramatische und traumatische Erlebnisse zu viel hineinzuinterpretieren. Wir wollen nicht wahrhaben, dass wir letztlich doch nur biologische Einheiten mit Ablaufdatum sind. Einfach nur so etwas derartig Beängstigendes erleben zu müssen, ist ein Gedanke, den wir ablehnen, weil wir uns wichtiger nehmen als wir wirklich sind. Und genausowenig, wie es eine Strafe ist, am Guillain-Barré-Syndrom zu erkranken, ist es ein Wunder, daraus wieder zu erwachen und zurück auf die Beine zu kommen.
Sie glauben mir nicht?
Wenn Sie selbst GBS haben, die Plateauphase überstanden haben und jetzt gelähmt vor sich hindämmern, versichere ich Ihnen eines, das traue ich mich jetz einfach:
Ihnen wird es genauso ergehen wie mir!
Sie werden wieder gesund!
Eigentlich wollte ich ja einen etwas ernsteren Beitrag über das Alltagsleben eines Menschen mit Guillain-Barré-Syndrom schreiben, aber meine alte Liebe für die Filmkunst war dieses Mal stärker.
Ich hoffe, Ihre Kritik fällt nicht allzu hart aus.
Es ist doch nur ein Film.

ABBLENDEN.

Samstag, 18. Juli 2015

Der Clown im Mondschein

Wenn Sie meinen Blog schon länger verfolgen, kennen Sie mich ja schon ein bisschen.
Selber schuld.
Sie wissen, dass ich im Juni 2013 am Guillain-Barré-Syndrom erkrankt bin und einige Monate total gelähmt war. Mir kam es allerdings so vor, als wäre ich total tot. Einige Male hätte ich tatsächlich fast den Löffel abgegeben. Was ich Ihnen jetzt beschreiben werde, ist ein Tag, knapp zwei Jahre später, im Juli 2015. Ich kann mich inzwischen gut bewegen, Rollstuhl fahren, selber essen, Dinge ergreifen, aufheben, wieder hinstellen und loslassen. Alles fast problemlos. Ich kann aus dem Rollstuhl aufstehen wenn ich mich abstütze und an einem Barren sogar gehen.
Ich befinde mich also deutlich auf dem Weg der Besserung. So deutlich, dass ich es inzwischen schon selbst bemerke. Lange Zeit war das nicht so.
Aber neben den Fortschritten gibt es auch den GBS-Alltag. Und der ist weit weniger spektakulär.
Falls Sie sich immer schon gefragt haben, wie der typische Tagesablauf eines Menschen mit Guillain-Barré-Syndrom aussieht, sind Sie in meinem Blog genau richtig. Heute schreibe ich nichts Informatives über die Krankheit, sondern erzähle Ihnen, wie mein Tag verläuft, nachdem frühmorgens der Hahn gekräht hat.
Genaugenommen ist es kein Hahn, sondern eine Krankenschwester, die "Morgen, Markus" kräht. Ich nenne sie in diesem Artikel Anita. Erstens, weil es hier im Behindertendorf in Altenhof am Hausruck keine Schwester namens Anita gibt (zumindest nicht in meinem Hausruckhaus), und zweitens, weil ich alle Krankenschwestern, die ich jemals hatte, also...ich meine, die mich gepflegt haben, zu einer Person verschmelzen möchte. Der Einfachheit halber.
Und glauben Sie mir: Ich hatte sie alle. Ohne sie wäre ich komplett hilflos gewesen. Vielleicht fällt mir während des Schreibens ja ein anderer, etwas witzigerer Name ein, aber ich glaube das kaum.
Die sehr effektive und bewährte Tagesstruktur, sowie die sehr sorgfältige Pflege und die Athmosphäre der menschlichen Wärme und Herzlichkeit seitens der Krankenschwestern und aller Anderen habe ich trotzdem mit meiner persönlichen Sichtweise gewürzt. Ich glaube, nicht zu scharf, aber auch nicht zu süß. Und hoffentlich schmackhaft.
Hier also ein Tag im Leben eines GBS-Patienten:
Ich werde von  Krankenschwester Anita geweckt. Krankenschwestern sind super. Lassen Sie sich nicht täuschen von dem, was Sie gleich lesen werden. Ich serviere meine Eisbecher gerne in einem Glas mit scharfem Rand. Aber eigentlich sind meine Krankenschwester-Beiträge heimliche Liebeserklärungen.
Das Frühstück wird mir ans Bett gebracht: Zwei Scheiben Hausbrot mit was drauf und zwei Becher mit was drin. Dazu Tabletten. Die Morgenpflege wird durchgeführt. Anita fragt mich, ob ich mich auf die Seite drehen "mag". Ich mag nicht, tue es aber trotzdem. Die Krankenschwester zieht an der "Safetex"-Unterlage, damit ich mich noch besser drehe. Ich klammere mich verzweifelt am Bettgitter fest und fühle mich wie Sylvester Stallone in Cliffhanger. Übrigens ist das Bettgitter gar kein Gitter, sondern eher eine Art Holzgeländer.
Kaum bin ich nicht mögend auf die Seite gedreht worden, höre ich von Anita ein semibesorgtes "Oh-oooh." 
"Teletubbies schmuuusen!" denke ich mir. Aber Tinky-Winky...äh...Anita ist nicht zum Spaßen aufgelegt, denn sie hat etwas gefunden. Das ist eine der besonders interessanten Eigenschaften der Krankenschwestern. Sie finden immer irgendwas, sagen "Oh-oooh" oder "Uiii" und stellen dann fest: "Du bist da rot."
"Wo denn?" frage ich.
"Am Gesäß", sagt Tinky-Winky.
"Ist es schlimm?"
"Nö. Nur eine kleine rote Stelle. Ich geb’ dir Salbe drauf und ein Leinenfleckerl."
Tinky-Winky gibt mir Salbe und ein Leinenfleckerl auf die kleine rote Stelle am Gesäß drauf und sagt dann: "Passt!"
Ich bin mir nicht sicher, ob sie das Leinenfleckerl meint oder, dass es jetzt für mich passend wäre, mich wieder auf den Rücken zu drehen. Wenn ich mag.
"Derfst di wieda umdrah’n", sagt sie. Dieses Mal muss ich nicht mögen, sondern kann dürfen.
Ich mag trotzdem und dreh’ mich wieder um.
Die Krankenschwester (wie war noch ihr Name?) geht ums Bett herum, nimmt den Beinbeutel für Trudi vom Bettrand, befestigt ihn an meinem linken Unterschenkel und sagt: "Passt!" Dann eilt sie davon, zu einem der beiden Holzsessel neben dem runden Kaffeetisch und holt meine Hose. Es ist eine schwarze Jogginghose. Soviel ich weiß, gibt es keine eigenen Rollipilotenhosen, also ziehe ich eine Jogginghose an.
Genau genommen zieht Anita mir die Hose an. Zuerst über beide Beine und dann über das Körperteil mit der roten Stelle, der Salbe drauf und dem Leinenfleckerl. Zuvor aber sagt sie:
"Dreh’ st dich noch einmal um, bitte?"
Ich habe wirklich eine liebe Krankenschwester, denke ich mir. Aber leider hat die heute frei.
Ich drehe mich, ohne zu mögen, noch einmal um, bitte, begebe mich mutig in die Cliffhangerstellung. Da liegt man auf der Seite und krallt sich am Bett fest und wird von hinten...Nein, nicht, was Sie jetzt vielleicht denken...Sie meinen sicher die Löffelchenstellung, aber ich habe ganz ehrlich keine Ahnung von sowas und wozu man dafür eigentlich ein Löffelchen braucht. Ich bevorzuge ja Suppenlöffel. Wegen der Kontrakturen in den Fingerknöcheln. Ich glaube, wir lassen das lieber...
Die doch ganz liebe Krankenschwester zieht mir die Hose über die Sie-wissen-schon-welche-Stelle und sagt dann etwas, das ich in meiner Weitsicht bereits geahnt habe:
"Und jetzt zu mir."
Ich wieder auf den Rücken, rüberwälzen auf die andere Seite, Tinky-Winky eilt ums Bett herum, zupft am Safetex, ich wieder Cliffhanger ohne Löffelchen, Hose rauf über den Ar...also da, wo die rote Stelle mit der Salbe drauf und dem Leinenfleckerl ist, gefolgt von dem unvermeidlichen "Passt!"
Erneut auf den Rücken zurück. Der Kopfteil des Pflegebettes wird aufgestellt, damit ich mich besser hinsetzen kann. Wobei...nein...meine doch ganz liebe Krankenschwester drückt mir die Bettfernbedienung mit dem Spiralkabel in die Hand und sagt: "Magst di aufsetz’ n?"
Ich bin unschlüssig, entscheide mich aber zu mögen und setze mich auf. Querbett. Nicht querbeet oder querfeldein, sondern Querbett. Das heißt, auf der Bettkante.
"Ich hol den Stehlifter", sagt meine doch ganz liebe Krankenschwester und holt den Stehlifter. Ich kürze das jetzt ein bisschen ab, weil ich finde meinen heutigen Blogbeitrag genauso langweilig wie Sie.
In den Stehlifter. Aufstehen. Zum E-Rolli. Hinsetzen.
Pffffffft.
Das ist nicht Tinky-Winky, die diesen Laut von sich gibt, auch nicht mein Körperteil, wo die kleine rote Stelle mit Salbe drauf und einem Leinenfleckerl ist.
Nein, das irgendwie leicht ordinäre Geräusch kommt von dem sich selbst aufblasenden Sitzkissen. 
Das Sitzkissen hat zwei Ventile, die über Nacht Luft in sich einsaugen wie ich die Gummibärchen. Am nächsten Tag ist es dann prall, und dann kommt der Dicke mit dem Leinenfleckerl, und es macht pffffffft.
"War das das Kissen?" fragt Anita.
Ich bleibe ruhig, obwohl ich sagen will: "Nein, ich habe gerade die Zwiebelmettwurst von gestern wieder in den Kreislauf der Natur zurückgeführt."
So ist also die Realität des Rolli-Alltags. Falls Sie denken, da sitzt ein ganz armer Mensch an den Rollstuhl gefesselt, kann ich Ihnen die weit weniger theatralische Wahrheit nicht ersparen:
Der arme Mensch ist in Wirklichkeit ein fetter Blogautor mit einer kleinen roten Stelle am Gesäß mit Salbe drauf und einem Leinenfleckerl, und er ist auch nicht an den Rollstuhl gefesselt, sondern einfach nur zu neurotisch, um fleißig zu trainieren, um seinen Dingsbums mit dem Leinenfleckerl endlich wieder wegzukriegen von diesem...
...Furzkissen.
Trainieren? Morgen. Aber heute nicht. 
Der Morgen stirbt nie. Der Morgen passt nie wäre vielleicht treffender.
Egal. Ich wollte mich ja kurz fassen. Aber wie ich sehe, sind Sie noch da. Der Tag geht weiter. Jetzt habe ich etwa eine Stunde Pause, sitze an dem langen Holztisch mit der Stelage an der Wand, lese irgendein E-Book über kreatives Schreiben, trinke Cola, esse Gummibärchen, trinke Cola, esse Gummibärchen und warte gelangweilt darauf, dass es halb elf wird und ich zum Mittagessen fahren kann.
Ich fahre zum Mittagessen, durch die Halle mit dem Kaffeetisch, der Arkade (auch Torbogen genannt), am Korkbrett mit den Bekanntmachungen vorbei und in den Speisesaal.
"Mahlzeit!"
"Mahlzeit!"
"Mahlzeit!"
"Mahlzeit!"
"Mahlzeit!"
"Mahlzeit!"
"Mahlzeit!"
"Mahlzeit!"
"Mahlzeit!"
"Mahlzeit!"
"Mahlzeit!"
"Mahlzeit!"
Eine der jungen Schwestern: "Markus, Suppe?"
Wobei, genau genommen sagt sie das nicht so, sondern in nur einem Wort: "Markussuppe?"
"Bitte, ja", sage ich. Fahre zu meinem Platz, eine Art Tisch am Tisch. Weil ich mich schlecht nach unten beugen kann, habe ich eine extra erhöhte schmale Tischplatte bekommen. Darauf zwei Becher mit Wasser drin, ein paar grüne Papierservietten, die offenbar noch von Weihnachten übriggeblieben sind und...
...ein Löffel.
Nicht ein Cliffhangerlöffelchen, sondern ein echter Markussuppesuppenlöffel!
"Passt!" denke ich mir. Schwester bringt Karottensuppe. Sie: "Mahlzeit!" Ich: "Danke. Mahlzeit." Ich esse die Suppe. Schmeckt gut. Danach Hauptgericht. Und was gibt es Gutes? Es klingt, als hätte es ein mittelmäßig witziger Blogautor erfunden, aber ich schwöre, es ist die Wahrheit.
Fleckerlspeise.
Ohne Salbe.
Ich esse auf, trinke aus, denke mir: "Mittagessen überlebt". Zurück in mein Zimmer. Lesen, Cola, Gummibärchen, heute keine Therapie, lesen, Cola, Gummibärchen.
Pffffffft.
Nein, nicht, was Sie denken.
Dieses Mal war’ s wirklich ich.
Abendessen. Brot mit was drauf, Becher mit was drin. Tabletten. Abendessen überlebt. Zurück ins Zimmer. Pyjamajacke anziehen. Lesen. Abendpflege.
"Oh-oooh" dieses Mal ist es Teletubby Dipsy. Um 14 Uhr war Dienstübergabe. Tinky-Winky ist schon zu Hause. 
Salbe und Leinenfleckerl drauf.
"Jetzt wird’ s kalt" sagt Dipsy. Katheterpflege. Mit Tuper und Desinfektionsmittel gegen Harnwegsinfekt, Nierenbeckenentzündung und vorzeitiges Ableben. Ich sehe schon meinen Grabstein mit der Aufschrift: "Passt! Lesen, Cola, Gummibärchen. Pffffffft."
"Danke"
"Bitte. Gute Nacht."
"Gute Nacht."
"Tschüss."
"Tschüss."
Ich bin ja eher ein "Pfiat' di"-Sager, aber irgendwann gibt man' s auf. Kennen Sie die eigentliche Bedeutung des Wortes Tschüss? Gott. Das stimmt wirklich. Es leitet sich von dem spanischen Dias ab, was Gott bedeutet. Was Pfiat' di heißen soll, weiß ich allerdings nicht.
Tür zu. Klolüftung rauscht im Bad. Fünf Minuten lang.
Gute Nacht, denke ich. Es ist Dreiviertel sechs. Draußen scheint die Sonne, und die Vögel zwitschern. Melancholie überkommt mich. Ein Tag am Fließband. Alle sind so lieb und helfen mir den ganzen Tag. Besonders die Krankenschwestern. Aber ich komme nicht voran in meinem Leben. Warum nicht, weiß ich nicht.
Na ja, nicht aufgeben. Nicht weinen. Ich bin ein erwachsener Mann. Ein 45jähriger, der noch immer nicht weiß, was er mal werden will, wenn er groß ist. Vertane Chancen. Vergeudete Zeit. Ungelebtes Leben.
Lesen, Cola, Gummibärchen.
Ich blicke auf den kleinen weißen Beistelltisch neben meinem Bett. Ich sehe mein iPad, den Funkwecker, eine Flasche mit Leitungswasser. Eine mit Cola Zero. Für den schlanken Fuß. Morgen Früh Lymphdrainage. Ergotherapie. Vielleicht ins Kaffeehaus, ein Eis essen.
Mein Leben ist zuckersüß. Am Beistelltisch liegt eine Tafel Schokolade. Ich werde nicht die ganze essen. Aber die halbe. Und morgen wieder. Und übermorgen wieder.
Es ist alles in Ordnung, denke ich mir. Es geht mir gut. Ich wäre ein paarmal fast gestorben. In meinem Blut geschwommen. Ich esse soviel Schokolade, wie ich will. Ich habe sie verdient. Mit fünfzig Blutkonserven. Einem aufgeschnittenen Bauch. Nierenversagen. Tetraparese.
Denken Sie jetzt, das sind doch nur Ausreden für’ s Naschen?
Ich fürchte, Sie haben recht.
Licht aus.
Schlafen.
Der alte Mann am Meer träumt von Löwen. Ich nicht. Ich träume nichts, und wenn doch, will ich mich nicht daran erinnern. Zuviel Blut. Zuviel Tod.
Ich glaube, die Stimmung kippt gerade. Bisher war' s eigentlich ganz witzig. Aber wie sagte noch der Stummfilmschauspieler Lon Chaney?
Im Mondschein ist kein Clown komisch.
Ich schlafe ein.
Und träume doch. Vom Meer. Ich schwimme. Das Leben ist leicht. Die Sonne des Südens. Zypressen. Pinien. Blühende gelbe Ginstersträuche. Der Wind auf den Wellen. Glück. Ein Hauch vom ewigen Leben. Der Duft von Rosmarin. Nein, nicht Rosmarin. Lavendelduft.
Es ist der Raumspray.
Ich wache auf.
Tinky-Winky. "Morgen, Markus."
Ja, denke ich mir. Morgen. Aber heute nicht.
"Morgen", sage ich.

Samstag, 11. Juli 2015

Pflanze aus Fleisch

Das Leben mit dem Guillain-Barré-Syndrom ist mühsam, aber lohnenswert. Ich habe in den letzten zwei Jahren viel gelernt. Über mich selbst, über den Alltag in Krankenhäusern, einem Reha-Zentrum und in einem Behindertendorf. Ich konnte viele neue Erfahrungen sammeln. Schöne und schmerzliche, interessante und beängstigende, bin ein Stück über mich hinausgewachsen, merke aber, da ist noch viel Luft nach oben. Im Grunde bin ich derselbe geblieben, der ich schon immer war. Es haben sich nur viele Charaktereigenschaften deutlicher gezeigt und verstärkt.
So war ich immer schon ein geduldiger Mensch, aber dass ich fast ein halbes Jahr lang total gelähmt am Rücken liegen und an die Zimmerecke schauen kann, ohne mich ein einziges Mal zu beschweren, hat mich selbst sehr überrascht. Sicher, ich klagte oft über Schmerzen und Ängste, aber ich habe mich nie darüber aufgeregt, wenn die Suppe zu heiß war. Und das war sie immer.
Ich habe es schon früh aufgegeben, mich über Lapalien zu ärgern. Mich hat es auch nicht gestört, wenn die anderen Patienten in meinem Zimmer so laut geschnarcht haben, dass die Wände gewackelt und die Fenster geklirrt haben. Oder wenn ein alter Mann ständig aus dem Bett gekrochen ist und sich dabei den Infusionsschlauch aus dem Arm gerissen und ein regelrechtes Blutbad veranstaltet hat. Das waren alles kranke, arme Menschen, wie könnte ich mich über sie beschweren?
Ich schreibe dies nicht, um zu zeigen, dass ich so edelmütig wie Winnetou und so großherzig wie Mutter Teresa bin. Das bin ich beides nicht einmal annähernd, und jeder, der mich kennt, weiß das. Es war nur so, dass mich all diese Dinge nicht gestört haben. Ich bin wiederbelebt worden, hatte ein Nierenversagen, schwere Blutungen, Dialyse, hatte überall Infusionsschläuche in mir stecken und sah aus wie ein Borg. 
Ein paar mal wäre ich fast gestorben und war monatelang vom Hals bis zu den Zehenspitzen gelähmt. Ich habe immer wieder und wieder gehört "das wird schon wieder", und jedesmal, wenn das jemand sagte, wurde ich noch ein Stück hoffnungsloser und verzweifelter. Schließlich sah und spürte ich jeden Tag, dass es nicht so war. Ich sah keine Bewegungen an meinem Körper uns spürte nichts.
Soll ich mich nach all dem darüber aufregen, wenn neben mir ein schwerkranker Mann schnarcht, hustet und zu mir herüberspuckt?
Aber nicht nur die guten Anteile meiner Persönlichkeit wurden stärker und lauter, sondern auch die sehr schlechten. Meine Rechthaberei und Besserwisserei konnte und kann ich zwar im Zaum halten, aber Eigenschaften wie Ängstlichkeit und Schwarzmalerei haben mich doch sehr lange in ihrem Griff gehabt. Und das führte dazu, dass ich nach und nach das Gefühl hatte, nicht mehr ich selbst zu sein. Oft habe ich mich selbst nicht wiedererkannt und musste feststellen, dass ich in tiefstem Herzen ein unglaublicher Feigling bin.
Eine Memme. Ein Schlappschwanz. Ein Weichling. Ein Angsthase. Ein Hasenfuß.
Es gibt eine Folge der Simpsons, in der Barts Opa im Altersheim noch etwas unternehmen will. Also fragt er seine Mitbewohner, ob sie dabei sind. Einer schaut zum Fenster raus und sagt: "Nein. Es ist kalt, und wir haben Angst."
So, in etwa, habe ich mich im Laufe meiner Krankengeschichte lange gefühlt, obwohl ich doch noch ein bisschen jünger bin als die Rentner von Springfield. Und so erkannte ich, dass die größte Enttäuschung meines Lebens nicht Yvonne war, die mit meinem besten Freund unter dem Regenschirm von der Volksschule nach Hause gegangen ist (ich kann nicht glauben, dass ich schon wieder damit anfange).
Nein, die größte Enttäuschung meines Lebens bin ich selbst. Wie oft hatte ich im Laufe meines Lebens im Fernsehen Berichte über behinderte Menschen gesehen, die alles dafür gegeben hätte, wieder gehen zu können, und wie oft habe ich Geschichten über Unfallopfer gehört, die einen enormen Kampfgeist entwickelt haben und sich wieder zurück ins Leben gekämpft haben?
Es ist kein schönes Gefühl, wenn man für sich selbst nichts anderes mehr übrig hat als Verachtung. Wenn man dabei zusieht, wie die eigene Persönlichkeit zerfällt. Ich habe mich während der schlimmsten Zeit meiner Krankheit nicht mehr wiedererkannt. Das war der Zeitraum von Juni 2013 bis Januar 2015. während dieser langen Monate habe ich einen Menschen kennen gelernt, der verzagt, verzweifelt und verängstigt war.
Ich stellte plötzlich fest, dass ich im Getriebe des Krankenhausalltags nur ein Patient unter hunderten war. Nichts Besonderes. Vielleicht ein bisschen interessanter aufgrund meiner seltenen Erkrankung. Aber vielleicht habe ich das auch nur geglaubt, um mich ein bisschen größer zu fühlen, als ich in diesem jämmerlichen gelähmten Zustand war.
Ich habe mich immer schon für etwas Besonderes gehalten. Nicht für etwas Besseres, aber aufgrund meines Interesses für das kreative Schreiben, sowie das Zeichnen und Malen, war ich doch immer anders als alle um mich herum. Das hat mich einsam gemacht. Aber wenigstens hatte ich es. Dieses Interesse. Diesen Drang, kreativ zu sein.
Es ist die Fähigkeit, mich durch kreative Betätigung an einen sicheren Ort zu begeben, an dem ich nur ich bin. Die pure Essenz meines Selbst. Einfach nur ich. Der Zeichner mit einem Fineliner in der Hand. Der Autor mit dem unstillbaren Verlangen zu schreiben, auch wenn es vielleicht sinnlos ist. Es ist ein Ort, eine Zone, in der ich nicht an mir zweifle, kein Armbändchen mit meinem Namen und Geburtstag trage, wo ich nicht ein Objekt aus Diagnosen, Schläuchen und Nadeln bin. 
Und das war plötzlich weg, und ich war nichts mehr. Nur noch eine Pflanze aus Fleisch in einem gigantischen weißen Krankenbett mit einem Metallgestell rundherum, von dem ich nie verstanden habe, wofür es eigentlich gut war. Gebraucht hat es nie jemand, aber es trug dazu bei, dass ich mich zumindest ein wenig sicherer fühlte. Dieses Bett war eine Abgrenzung zu dieser grauenhaften Welt aus armen leidenden Menschen, der Krankenhausathmosphäre, den Schreien und all dem Tod.
Das Guillain-Barré-Syndrom hat mir meine Identität genommen. Ich war nicht mehr derselbe, nicht mehr der komische Kauz, der sich nicht im Geringsten für Fußball interessiert, sondern leidenschaftlich für die Härtegrade von Bleistiften und den besonderen Glanz, den Pastellkreiden den Augen im Portrait eines Kindes geben. 
Meine Welt war die Welt der Schatten. Die Welt der Kontraste und Perspektiven. Ich sah das Leben aus dem Blickwinkel der Bildkomposition und des Goldenen Schnitts. Es war die Welt der Farben und des Lichts. Das Licht der großen Rennaissancemaler, das Licht des Südens an den Ufern der kroatischen Adria. Es waren die Comics von Uderzo und Hergé, die klare Linie, die ich jetzt nicht mehr zeichnen konnte.
Der Verlust der Motorik meiner Hände war für mich schlimmer als die Lähmung meiner Beine. Ich weiß nicht mehr, wie oft ich mir gewünscht habe, in einem Rollstuhl in der Natur zu sitzen und kleine Bleistiftzeichnungen in ein Skizzenbuch machen zu können. Tja, im Rollstuhl in der Natur sitzen kann ich jetzt zwar, auch aufstehen und notdürftig gehen, allerdings nur in einem Raum, in dem ich mich abstützen kann.
Zeichnen könnte ich inzwischen wohl auch schon wieder ganz gut, aber ich traue mich nicht. Es wäre für mich schrecklich, wenn ich das, was ich mein ganzes Leben lang mit solcher Liebe und solcher Leidenschaft gemacht habe, jetzt nur noch stümperhaft schaffen würde.
Dann wäre ich wieder ein Amateur! Da warte ich lieber noch, bis ich meinen rechten Mittelfinger wieder ausstrecken kann. Nein, nicht für die Therapeuten...zum zeichnen!
Und so komme ich wieder zurück zu dem Thema, über das ich eigentlich nur einen kurzen Blogpost schreiben wollte: Das Gefühl der Selbstverachtung. Gelähmt im Bett liegend wurde ich weinerlich, ängstlich und hoffnungslos. Und das war schlimmer als die eigentliche Krankheit und ihre Begleiterscheinungen. Es widerte mich an mir selbst an, dass ich mich gar nichts mehr traute. Ich hatte Angst, in einem Sessel zu sitzen, ich hatte Angst, im Hebelifter zu hängen, ich hatte Angst vor der Ergotherapie, vor der Physiotherapie, vor Schmerzen, vor Katheterverstopfungen, gleichzeitig aber auch vor den Katheterspülungen.
Ich hatte Angst vor dem Essen. Angst zu kauen, zu schlucken und zu verdauen. Ich glaube, ich habe einigermaßen verständlich gemacht, wie ich mich in diesen eineinhalb Jahren gefühlt habe. Durchgekaut und ausgespuckt.
Heute erscheint mir das unverständlich. Ich hatte damals das Selbstwertgefühl eines aufgeplatzten Stomabeutels. Ich konnte es nicht glauben, dass ich ein solches Weichei war, solch ein Waschlappen.
Das hat immer weiter und weiter an mir genagt und drohte, mich seelisch zu zerfressen.
Wie habe ich diese Selbstverachtung überwunden?
Überwunden habe ich sie wohl noch nicht, aber es ist nur noch wenig davon übrig. Es ist auch keine Selbstverachtung mehr, sondern es sind eher Selbstzweifel. Und wie heißt es so schön? Zweifel kann man ausräumen.
Was hat mich seelisch wieder aufgerichtet? Meine gesundheitlichen Fortschritte, die Bewältigung meiner Ängste, das Akzeptieren meiner Lebenssituation, wie sie nun mal ist, die viele Pflege und lieben Worte der Krankenschwestern und Krankenpfleger und der Gedanke, dass es vielen Menschen sehr viel schlechter geht als mir. Menschen, die nicht mehr die Möglichkeit haben, sich aus dem Rollstuhl hochzuwälzen oder im feschen Frankensteinschritt ein paar Meter zu gehen.
Jeden Tag sehe ich hier in Altenhof lebensfrohe Menschen, die ihr Schicksal hinnehmen, aber trotzdem sehr unternehmungslustig sind. Es gibt hier einen Bewohner, der in einem elektrischen Rollstuhl liegt. Er kann kaum sprechen, seine Haut ist blass, und es ist erschütternd, ihn zu sehen. Aber nur auf den ersten Blick. Wenn man das Bedauern ausblendet, bemerkt man, dass er den E-Rolli selbst steuert. Er ist mir auf einer der kleinen Straßen begegnet. Es war ein heißer Sommertag, und er hat mich sehr freundlich gegrüßt. Ich hatte fast den Eindruck, dass er fröhlich war. Ich weiß nicht, welche Krankheit oder Behinderung er hat. Aber ich weiß, dass ich ihn auf dem Gelände spazierenfahren gesehen habe, und vor ein paar Tagen begegnete ich ihm im Gastgarten des Kaffeehauses. Beim Eis essen.
Und ich? 
Es ist kalt, und ich habe Angst.
Zumindest war das vor einem halben Jahr noch so. Inzwischen bin ich zuversichtlicher und gelassener geworden. Irgendwie gewöhnt man sich an alles, und wenn die medizinischen Prognosen so gut sind, werden auch die Ängste kleiner.
Ich habe im Laufe der Zeit meine Selbstachtung verloren. Ich konnte mich nicht mehr leiden, weil ich mich nicht wiedererkannt habe. Ich wusste, dass alles in Ordnung und ich auf dem Weg der Besserung war, aber ich saß da und fürchtete mich. Heute, ein Jahr später, ist es mir unbegreiflich, dass ich so war. 
Auch, wenn Feigling ein hartes Wort ist, wüsste ich trotzdem nicht, wie ich mich anders beschreiben sollte. Ich habe mich nicht mehr getraut, mich im Rollstuhl nach vorne zu beugen, um nach der Türklinke zu greifen. Aus Angst, es könnte wieder stundenlange Krämpfe in der Blase auslösen. Tatsächlich ist mir das nur einmal passiert. Auf der Neuro. Damals war Trudi (erinnern Sie sich?) so verstopft, dass meine Blase die ganze Nacht Freudensprünge gemacht hat. Glauben Sie mir...Meine Blase hat in meinem Körper Loopings gedreht und Bullriding vom Feinsten veranstaltet. Von 21 Uhr bis 5 Uhr Früh. Niemand wollte mir den Katheter rausnehmen, bis sich in der Frühschicht eine Diplomschwester erbarmt hat.
Ich möchte Ihnen sagen, dass Sie trotz GBS, trotz Lähmung, Windeln und Rollstuhl Ihre Selbstachtung nicht verlieren dürfen. Sie fühlen sich vielleicht auch hilflos, klein und schwach.
Aber das sind Sie nicht!
Auf Ihrem Weg voran ins Leben, werden Sie von vielen helfenden Händen getragen. Tun Sie alles, was Sie können, um die Schwermut zu überwinden. Fragen Sie nach Rat. Wenn es sein muss, brüllen Sie um Hilfe! Damit Sie wieder rauskommen aus Ihrem Käfig der Furcht. Ich schreibe diese Zeilen nicht zufällig in der dritten Person.
Woher will ich denn wissen, ob Sie auch verängstigt, verzweifelt und hoffnungslos sind?
Wenn auch Sie das Guillain-Barré-Syndrom haben, dann kennen Sie auch all diese Gefühle. Das weiß ich. Ganz sicher. Da, wo Sie jetzt vielleicht gerade noch sind, war ich auch. Es ist kein schöner Ort. Dort ist es kalt, und die Luft presst sich wie ein Schraubstock an den Körper. Sie hält Sie fest, lähmt Sie und will Sie nie mehr loslassen.
Ich weiß, wie es ist, im eigenen Körper gefangen zu sein. Aber ich garantiere Ihnen eins, mein lieber GBS-Kollege: ich weiß zwar nicht, ob alle Wege in die Ewige Stadt Rom führen. Aber was die Tote Stadt namens Guillain-Barré-Syndrom betrifft:
Alle Wege führen hinaus in die Freiheit!

Samstag, 4. Juli 2015

Kick die Katz' - Mit meinen Beinen

Eine Laufkatze ist eine ganz normale Hauskatze, die man als Patient bei der Physiotherapie verwendet, um das Gehen nach einer langen Zeit der Lähmung zu trainieren.
Dabei rennt die Laufkatze an eine Leine vor einem her, und man folgt ihr langsam. Wenn man die Katze erreicht hat, gibt man ihr einen kräftigen Tritt und schleudert sie so weiter vor, um ihr dann wieder hinterherzugehen.
Diese Katzen sind speziell darauf trainiert und machen ihre Arbeit gern. Zugegeben, am Anfang kostet es einen große Überwindung zuzutreten, aber mit einem süßen kleinen Hündchen wäre es noch schwerer.
Also heißt es für mich jetzt jede Woche: Kick die Katz'!
Sie glauben mir nicht?
Sie schütteln gerade den Kopf und denken sich: "Was schreibt denn der heute wieder für einen Blödsinn?" Aber Sie grinsen auch gerade ein bisschen?
Na ja, zugegeben, die Geschichte ist frei erfunden, und die Laufkatze ist ein Gerät aus zwei waagrechten Holzstangen. Sie sieht aus wie ein Reck, dass Turner verwenden, ein Barren, nur nicht so lang. An der Decke des Turnsaals sind zwei Schienen angebracht, daran hängt ein riesiger schwerer Kasten aus Metall, und da drin sitzt die Katze.
Nein, stimmt ja nicht...Der Kasten ist mit zwei Stangen mit dem Barren verbunden. Das ganze Konstrukt dient dazu, sich mit dem Patienten mitzubewegen, wenn er sein Gehtraining macht.
Das Gefühl, auf den eigenen Beinen wieder gehen zu können, ist unbeschreiblich. Ich will es trotzdem versuchen. Als ich in dem großen Turnsaal der Physiotherapie im 2. Stock des Hauptgebäudes von Assista in Altenhof aufstand, die Hände an die beiden Holzbarren links und rechts von mir gelegt, fragte ich mich, was jetzt geschehen würde. Ich rechnete damit, dass ich einige wenige Schritte in schlurfendem Gang, die Beine hinter mir herziehend, vorantorkeln würde, mich dabei an den Hölzern festklammernd. Ich wusste ja, dass ich die Vorfüße nicht anheben konnte, also machte ich mir keine großen Hoffnungen, dass jetzt ein Wunder geschehen würde.
Ich trug sehr stabile Jagdschuhe, die Wolfgang, mein Physiotherapeut und passionierter Jäger, mir gegeben hatte, weil wir dieselbe Schuhgröße haben. Und weil sie nicht wasserfest sind. Ist wahrscheinlich blöd bei der Entenjagd. In diesen Schuhen kann ich stabil stehen und habe damit auch die Transferübungen vom E-Rolli auf die Toilette und wieder zurück gemacht. Ich rechnete damit, dass ich in diesen Schuhen irgendwie dahinstelzen würde. So ähnlich wie Frankenstein.
Aber es kam anders, als ich gedacht hatte. Bei mir dauert es immer etwas länger, bis ich meine Fortschritte richtig einschätze oder überhaupt erkenne. Das liegt nicht daran, dass ich so begriffstutzig bin, sondern, weil ich so lange gelähmt war und nicht einmal selbst essen konnte. Nicht einmal die leckere Pizza Tetra Parese. Aber machen Sie sich jetzt bitte keine Gedanken über meinen Speiseplan. Ich bin nicht Alf. Den Katzen geht es gut. The cats are allright.
Grinsen Sie schon wieder?
Zurück zum Thema: Jetzt, nach dieser langen Zeit der Starre und der Hoffnungslosigkeit sollte ich plötzlich wieder gehen können?
Drei wacklige Schritte mit dem Rollator hatte ich zwar schon im letzten Dezember geschafft, aber trotzdem glaubte ich nicht, dass ich mich wieder richtig, auf eigenen Beinen und Füßen, würde fortbewegen können.
Heute fasse ich mich mal kurz: Ich konnte.
Langsam streckte ich das rechte Bein aus und setzte den Fuß mit dem schweren dunkelgrünen Lederschuh auf den grauen Linoleumboden unter mir. Nichts Besonderes. Ähnliche Bewegungen machte ich schon in den letzten Monaten in meinem Badezimmer mit zwei weißen Stützstangen an der Wand. Aber direkt vor mir waren dabei die Wand und die Toilette, ich konnte also keine Strecke zurücklegen. Die Übungen im Bad bestanden darin, mich langsam um die eigene Achse zu drehen und dann auf der Toilette Platz zu nehmen.
Aber jetzt lag eine Strecke vor mir. Etwa fünf Meter lang, schätzte ich. Am Ende dieses kurzen Weges war ein großes Fenster mit Ausblick auf die Bäume des Assista-Geländes und davor ein Laufband. Dafür bin ich aber noch nicht annähernd fit genug. Aber das wird schon. Aber dafür brauche ich unbedingt einen Trainingsanzug mit Katzen drauf. Hello Kitty wäre super!
Linkes Bein. Vor das rechte. Geht problemlos. Geht. Ich gehe. Ich halte mich an den waagrechten Holzstangen fest und stampfe weiter. Ich merke, wie es anstrengend wird. Ich beginne zu schwitzen. Nicht sehr, aber doch viel zu viel für zwei Schritte. Na ja, das letzte Mal, dass ich mich auf meinen Füßen fortbewegt habe, war im Juni 2013, vor zwei Jahren.
Immer vorwärts, Schritt um Schritt...
Ich habe ein bisschen Angst, Probleme mit dem Kreislauf zu bekommen und zusammenzubrechen. Aber das ist für mich typisch. In meiner Phantasie liege ich schon am Boden und werde in die Notaufnahme eingeliefert und wiederbelebt, noch bevor ich überhaupt den dritten Schritt gemacht habe. Aber genau so war es vor zwei Jahren. Da ging es zwar nicht so schnell, aber mit einem Sturz hat alles angefangen. Und wiederbelebt wurde ich auch. Erfolgreich, übrigens. Wäre ich damals gestorben und würde diese Zeilen jetzt schreiben, wäre das ganz schön unheimlich, finden Sie nicht auch?
Mir war in diesem Augenblick zwar bewusst, dass dies ein wahrer Meilenstein war und dass ich die ersten Schritte in ein neues Leben machte, aber ich hätte nicht damit gerechnet, dass es so einfach sein würde. Dem Kreislauf ging es gut, mir auch. Ich war noch ein bisschen zu nervös und erschöpft, um mich richtig zu freuen, aber mir war klar, dass sich jetzt wieder alles ändern würde. Nicht von heute auf morgen, aber Schritt um Schritt.
Anders gesagt: Das Wunder geschah!
Das Wunder, das meine Mutter sich so sehr erhofft hatte. Im Krankenhaus hat sie immer zu mir gesagt "Auf einmal wirst du aufstehen und wieder gehen können!" Ich lag damals auf der Neuro in Vöcklabruck, noch fast völlig gelähmt, eine Art Pflanze aus Fleisch. "Auf einmal geht da gar nichts" erwiderte ich ihr. "Das wird sehr lange dauern." Mama war traurig, als sie das hörte, aber wie so oft in meinem Leben als mißratener Sohn hatte ich mich geirrt.
Mama, du hattest recht!
Zwar lagen zwischen diesem Gespräch im Krankenhaus und den ersten Schritten in Altenhof fast zwei Jahre, meine Mutter ist inzwischen gestorben, aber letztlich hat sie wie immer recht behalten. Ich möchte jetzt nicht weiter über sie schreiben, weil mir das noch zu nahe geht. Ihren Tod werde ich nie überwinden, das habe ich bei meinem Vater auch nicht, aber ich habe mich daran gewöhnt, dass er nicht mehr lebt. Bei Mama wird es wohl auch so sein.
Das Leben geht weiter, und ich auch.
Vorläufig mit einer Laufkatze. Der Weg, den ich an diesem Tag dreimal zurückgelegt habe, war etwa fünf Meter lang, führte durch den halben Turnsaal an einer riesigen Spiegelwand und verschiedenen Trainingsgeräten vorbei und zu einem Laufband. Auf das bin ich natürlich nicht draufgestiegen, aber ich habe es bis dorthin geschafft. Dreimal. Also fünfzehn Meter. Nach zwei Jahren Lähmung und Muskelschwäche. Wenngleich auch nur mit Abstützen am Barren, aber ich bin selbstständig gegangen. 
Es liegt an der Schwäche meiner Fußmuskulatur, dass ich die Füße nicht anheben kann. Darum kann ich nicht freihändig stehen oder gehen, und wenn ich bei meinen Stehübungen die Stützen an der Wand im Bad loslasse, kippe ich nach hinten weg. Dann halte ich mich schnell wieder fest. Wenn ich mich sehr konzentriere, schaffe ich es, knapp eine Minute so zu stehen, muss dabei aber mit den Armen balancieren. Das sieht zwar extrem cool aus, ist aber noch kein großer Fortschritt für mich, obwohl mir alle Krankenschwestern nachpfeifen. Na ja, zugegeben, das tun sie nicht, aber ich bin fest davon überzeugt, dass sie es tun würden, wenn alle Krankenschwestern ins Bad passen würden. Und, wenn es wirklich cool aussehen würde. Aber wenn ich einen guten Tag habe und sehr motiviert bin, kann ich meine Hände an den Seiten meines Körpers herunterhängen lassen und trotzdem eine Minute oder eine halbe stehen. Wie das aussieht, ist mir egal, aber über solche kleinen Erfolge freue ich mich. Das Guillain-Barré-Syndrom macht einen bescheiden. 
Als ich mit dem Training für diesen Tag fertig war, sagte Wolfgang zu mir, "Markus, du bist gegangen!" Ich finde es immer wieder schön, wie sich Wolfgang mitfreut, wenn mir etwas gelingt und dass er so viel Geduld mit mir hat, obwohl ich so ein fauler Sack und Angsthase bin.
"Ja", sagte ich nur und kämpfte gegen die Tränen. Die Freudentränen und die Tränen des Schmerzes, dass Mama das nicht mehr sehen kann. Wolfgang hat dazu nichts gesagt. Ich weiß nicht, ob er es bemerkt hat, aber da er alles bemerkt, nehme ich es an.
Es dauerte wirklich ein paar Tage bis mir klar wurde: 
Das Problem Lähmung ist gelöst. Ich bin nicht mehr gelähmt, und der Rest ist Trainingssache. Vor dem Bett bin ich hingefallen und zwei Jahre später aus einem Rollstuhl wieder aufgestanden und gegangen. Ich habe ja in diesem Blog schon einige Male geschrieben: Der Weg ist da. Gewusst habe ich das von Anfang an. Gesehen habe ich den Weg lange Zeit nicht.
Aber an diesem Tag, habe ich es nicht nur gewusst und den Weg gesehen, sondern ich habe ihn beschritten.
Und was für die Krankheit Guillain-Barré-Syndrom typisch ist: Es ist nichts Glorreiches an diesem Weg. Er ist nicht aus Gold wie im Zauberland von Oz. In meinem Fall war das erste Stück dieses Weges ein grauer Linoleumboden, auf dem die Reifen meines Rollstuhls sonst immer quietschen. Ich habe mir gerade vorgenommen, diesen Boden auch weiterhin zum Quietschen zu bringen.
Auf meinen Füßen!