Samstag, 4. Juli 2015

Kick die Katz' - Mit meinen Beinen

Eine Laufkatze ist eine ganz normale Hauskatze, die man als Patient bei der Physiotherapie verwendet, um das Gehen nach einer langen Zeit der Lähmung zu trainieren.
Dabei rennt die Laufkatze an eine Leine vor einem her, und man folgt ihr langsam. Wenn man die Katze erreicht hat, gibt man ihr einen kräftigen Tritt und schleudert sie so weiter vor, um ihr dann wieder hinterherzugehen.
Diese Katzen sind speziell darauf trainiert und machen ihre Arbeit gern. Zugegeben, am Anfang kostet es einen große Überwindung zuzutreten, aber mit einem süßen kleinen Hündchen wäre es noch schwerer.
Also heißt es für mich jetzt jede Woche: Kick die Katz'!
Sie glauben mir nicht?
Sie schütteln gerade den Kopf und denken sich: "Was schreibt denn der heute wieder für einen Blödsinn?" Aber Sie grinsen auch gerade ein bisschen?
Na ja, zugegeben, die Geschichte ist frei erfunden, und die Laufkatze ist ein Gerät aus zwei waagrechten Holzstangen. Sie sieht aus wie ein Reck, dass Turner verwenden, ein Barren, nur nicht so lang. An der Decke des Turnsaals sind zwei Schienen angebracht, daran hängt ein riesiger schwerer Kasten aus Metall, und da drin sitzt die Katze.
Nein, stimmt ja nicht...Der Kasten ist mit zwei Stangen mit dem Barren verbunden. Das ganze Konstrukt dient dazu, sich mit dem Patienten mitzubewegen, wenn er sein Gehtraining macht.
Das Gefühl, auf den eigenen Beinen wieder gehen zu können, ist unbeschreiblich. Ich will es trotzdem versuchen. Als ich in dem großen Turnsaal der Physiotherapie im 2. Stock des Hauptgebäudes von Assista in Altenhof aufstand, die Hände an die beiden Holzbarren links und rechts von mir gelegt, fragte ich mich, was jetzt geschehen würde. Ich rechnete damit, dass ich einige wenige Schritte in schlurfendem Gang, die Beine hinter mir herziehend, vorantorkeln würde, mich dabei an den Hölzern festklammernd. Ich wusste ja, dass ich die Vorfüße nicht anheben konnte, also machte ich mir keine großen Hoffnungen, dass jetzt ein Wunder geschehen würde.
Ich trug sehr stabile Jagdschuhe, die Wolfgang, mein Physiotherapeut und passionierter Jäger, mir gegeben hatte, weil wir dieselbe Schuhgröße haben. Und weil sie nicht wasserfest sind. Ist wahrscheinlich blöd bei der Entenjagd. In diesen Schuhen kann ich stabil stehen und habe damit auch die Transferübungen vom E-Rolli auf die Toilette und wieder zurück gemacht. Ich rechnete damit, dass ich in diesen Schuhen irgendwie dahinstelzen würde. So ähnlich wie Frankenstein.
Aber es kam anders, als ich gedacht hatte. Bei mir dauert es immer etwas länger, bis ich meine Fortschritte richtig einschätze oder überhaupt erkenne. Das liegt nicht daran, dass ich so begriffstutzig bin, sondern, weil ich so lange gelähmt war und nicht einmal selbst essen konnte. Nicht einmal die leckere Pizza Tetra Parese. Aber machen Sie sich jetzt bitte keine Gedanken über meinen Speiseplan. Ich bin nicht Alf. Den Katzen geht es gut. The cats are allright.
Grinsen Sie schon wieder?
Zurück zum Thema: Jetzt, nach dieser langen Zeit der Starre und der Hoffnungslosigkeit sollte ich plötzlich wieder gehen können?
Drei wacklige Schritte mit dem Rollator hatte ich zwar schon im letzten Dezember geschafft, aber trotzdem glaubte ich nicht, dass ich mich wieder richtig, auf eigenen Beinen und Füßen, würde fortbewegen können.
Heute fasse ich mich mal kurz: Ich konnte.
Langsam streckte ich das rechte Bein aus und setzte den Fuß mit dem schweren dunkelgrünen Lederschuh auf den grauen Linoleumboden unter mir. Nichts Besonderes. Ähnliche Bewegungen machte ich schon in den letzten Monaten in meinem Badezimmer mit zwei weißen Stützstangen an der Wand. Aber direkt vor mir waren dabei die Wand und die Toilette, ich konnte also keine Strecke zurücklegen. Die Übungen im Bad bestanden darin, mich langsam um die eigene Achse zu drehen und dann auf der Toilette Platz zu nehmen.
Aber jetzt lag eine Strecke vor mir. Etwa fünf Meter lang, schätzte ich. Am Ende dieses kurzen Weges war ein großes Fenster mit Ausblick auf die Bäume des Assista-Geländes und davor ein Laufband. Dafür bin ich aber noch nicht annähernd fit genug. Aber das wird schon. Aber dafür brauche ich unbedingt einen Trainingsanzug mit Katzen drauf. Hello Kitty wäre super!
Linkes Bein. Vor das rechte. Geht problemlos. Geht. Ich gehe. Ich halte mich an den waagrechten Holzstangen fest und stampfe weiter. Ich merke, wie es anstrengend wird. Ich beginne zu schwitzen. Nicht sehr, aber doch viel zu viel für zwei Schritte. Na ja, das letzte Mal, dass ich mich auf meinen Füßen fortbewegt habe, war im Juni 2013, vor zwei Jahren.
Immer vorwärts, Schritt um Schritt...
Ich habe ein bisschen Angst, Probleme mit dem Kreislauf zu bekommen und zusammenzubrechen. Aber das ist für mich typisch. In meiner Phantasie liege ich schon am Boden und werde in die Notaufnahme eingeliefert und wiederbelebt, noch bevor ich überhaupt den dritten Schritt gemacht habe. Aber genau so war es vor zwei Jahren. Da ging es zwar nicht so schnell, aber mit einem Sturz hat alles angefangen. Und wiederbelebt wurde ich auch. Erfolgreich, übrigens. Wäre ich damals gestorben und würde diese Zeilen jetzt schreiben, wäre das ganz schön unheimlich, finden Sie nicht auch?
Mir war in diesem Augenblick zwar bewusst, dass dies ein wahrer Meilenstein war und dass ich die ersten Schritte in ein neues Leben machte, aber ich hätte nicht damit gerechnet, dass es so einfach sein würde. Dem Kreislauf ging es gut, mir auch. Ich war noch ein bisschen zu nervös und erschöpft, um mich richtig zu freuen, aber mir war klar, dass sich jetzt wieder alles ändern würde. Nicht von heute auf morgen, aber Schritt um Schritt.
Anders gesagt: Das Wunder geschah!
Das Wunder, das meine Mutter sich so sehr erhofft hatte. Im Krankenhaus hat sie immer zu mir gesagt "Auf einmal wirst du aufstehen und wieder gehen können!" Ich lag damals auf der Neuro in Vöcklabruck, noch fast völlig gelähmt, eine Art Pflanze aus Fleisch. "Auf einmal geht da gar nichts" erwiderte ich ihr. "Das wird sehr lange dauern." Mama war traurig, als sie das hörte, aber wie so oft in meinem Leben als mißratener Sohn hatte ich mich geirrt.
Mama, du hattest recht!
Zwar lagen zwischen diesem Gespräch im Krankenhaus und den ersten Schritten in Altenhof fast zwei Jahre, meine Mutter ist inzwischen gestorben, aber letztlich hat sie wie immer recht behalten. Ich möchte jetzt nicht weiter über sie schreiben, weil mir das noch zu nahe geht. Ihren Tod werde ich nie überwinden, das habe ich bei meinem Vater auch nicht, aber ich habe mich daran gewöhnt, dass er nicht mehr lebt. Bei Mama wird es wohl auch so sein.
Das Leben geht weiter, und ich auch.
Vorläufig mit einer Laufkatze. Der Weg, den ich an diesem Tag dreimal zurückgelegt habe, war etwa fünf Meter lang, führte durch den halben Turnsaal an einer riesigen Spiegelwand und verschiedenen Trainingsgeräten vorbei und zu einem Laufband. Auf das bin ich natürlich nicht draufgestiegen, aber ich habe es bis dorthin geschafft. Dreimal. Also fünfzehn Meter. Nach zwei Jahren Lähmung und Muskelschwäche. Wenngleich auch nur mit Abstützen am Barren, aber ich bin selbstständig gegangen. 
Es liegt an der Schwäche meiner Fußmuskulatur, dass ich die Füße nicht anheben kann. Darum kann ich nicht freihändig stehen oder gehen, und wenn ich bei meinen Stehübungen die Stützen an der Wand im Bad loslasse, kippe ich nach hinten weg. Dann halte ich mich schnell wieder fest. Wenn ich mich sehr konzentriere, schaffe ich es, knapp eine Minute so zu stehen, muss dabei aber mit den Armen balancieren. Das sieht zwar extrem cool aus, ist aber noch kein großer Fortschritt für mich, obwohl mir alle Krankenschwestern nachpfeifen. Na ja, zugegeben, das tun sie nicht, aber ich bin fest davon überzeugt, dass sie es tun würden, wenn alle Krankenschwestern ins Bad passen würden. Und, wenn es wirklich cool aussehen würde. Aber wenn ich einen guten Tag habe und sehr motiviert bin, kann ich meine Hände an den Seiten meines Körpers herunterhängen lassen und trotzdem eine Minute oder eine halbe stehen. Wie das aussieht, ist mir egal, aber über solche kleinen Erfolge freue ich mich. Das Guillain-Barré-Syndrom macht einen bescheiden. 
Als ich mit dem Training für diesen Tag fertig war, sagte Wolfgang zu mir, "Markus, du bist gegangen!" Ich finde es immer wieder schön, wie sich Wolfgang mitfreut, wenn mir etwas gelingt und dass er so viel Geduld mit mir hat, obwohl ich so ein fauler Sack und Angsthase bin.
"Ja", sagte ich nur und kämpfte gegen die Tränen. Die Freudentränen und die Tränen des Schmerzes, dass Mama das nicht mehr sehen kann. Wolfgang hat dazu nichts gesagt. Ich weiß nicht, ob er es bemerkt hat, aber da er alles bemerkt, nehme ich es an.
Es dauerte wirklich ein paar Tage bis mir klar wurde: 
Das Problem Lähmung ist gelöst. Ich bin nicht mehr gelähmt, und der Rest ist Trainingssache. Vor dem Bett bin ich hingefallen und zwei Jahre später aus einem Rollstuhl wieder aufgestanden und gegangen. Ich habe ja in diesem Blog schon einige Male geschrieben: Der Weg ist da. Gewusst habe ich das von Anfang an. Gesehen habe ich den Weg lange Zeit nicht.
Aber an diesem Tag, habe ich es nicht nur gewusst und den Weg gesehen, sondern ich habe ihn beschritten.
Und was für die Krankheit Guillain-Barré-Syndrom typisch ist: Es ist nichts Glorreiches an diesem Weg. Er ist nicht aus Gold wie im Zauberland von Oz. In meinem Fall war das erste Stück dieses Weges ein grauer Linoleumboden, auf dem die Reifen meines Rollstuhls sonst immer quietschen. Ich habe mir gerade vorgenommen, diesen Boden auch weiterhin zum Quietschen zu bringen.
Auf meinen Füßen!

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