Samstag, 11. Juli 2015

Pflanze aus Fleisch

Das Leben mit dem Guillain-Barré-Syndrom ist mühsam, aber lohnenswert. Ich habe in den letzten zwei Jahren viel gelernt. Über mich selbst, über den Alltag in Krankenhäusern, einem Reha-Zentrum und in einem Behindertendorf. Ich konnte viele neue Erfahrungen sammeln. Schöne und schmerzliche, interessante und beängstigende, bin ein Stück über mich hinausgewachsen, merke aber, da ist noch viel Luft nach oben. Im Grunde bin ich derselbe geblieben, der ich schon immer war. Es haben sich nur viele Charaktereigenschaften deutlicher gezeigt und verstärkt.
So war ich immer schon ein geduldiger Mensch, aber dass ich fast ein halbes Jahr lang total gelähmt am Rücken liegen und an die Zimmerecke schauen kann, ohne mich ein einziges Mal zu beschweren, hat mich selbst sehr überrascht. Sicher, ich klagte oft über Schmerzen und Ängste, aber ich habe mich nie darüber aufgeregt, wenn die Suppe zu heiß war. Und das war sie immer.
Ich habe es schon früh aufgegeben, mich über Lapalien zu ärgern. Mich hat es auch nicht gestört, wenn die anderen Patienten in meinem Zimmer so laut geschnarcht haben, dass die Wände gewackelt und die Fenster geklirrt haben. Oder wenn ein alter Mann ständig aus dem Bett gekrochen ist und sich dabei den Infusionsschlauch aus dem Arm gerissen und ein regelrechtes Blutbad veranstaltet hat. Das waren alles kranke, arme Menschen, wie könnte ich mich über sie beschweren?
Ich schreibe dies nicht, um zu zeigen, dass ich so edelmütig wie Winnetou und so großherzig wie Mutter Teresa bin. Das bin ich beides nicht einmal annähernd, und jeder, der mich kennt, weiß das. Es war nur so, dass mich all diese Dinge nicht gestört haben. Ich bin wiederbelebt worden, hatte ein Nierenversagen, schwere Blutungen, Dialyse, hatte überall Infusionsschläuche in mir stecken und sah aus wie ein Borg. 
Ein paar mal wäre ich fast gestorben und war monatelang vom Hals bis zu den Zehenspitzen gelähmt. Ich habe immer wieder und wieder gehört "das wird schon wieder", und jedesmal, wenn das jemand sagte, wurde ich noch ein Stück hoffnungsloser und verzweifelter. Schließlich sah und spürte ich jeden Tag, dass es nicht so war. Ich sah keine Bewegungen an meinem Körper uns spürte nichts.
Soll ich mich nach all dem darüber aufregen, wenn neben mir ein schwerkranker Mann schnarcht, hustet und zu mir herüberspuckt?
Aber nicht nur die guten Anteile meiner Persönlichkeit wurden stärker und lauter, sondern auch die sehr schlechten. Meine Rechthaberei und Besserwisserei konnte und kann ich zwar im Zaum halten, aber Eigenschaften wie Ängstlichkeit und Schwarzmalerei haben mich doch sehr lange in ihrem Griff gehabt. Und das führte dazu, dass ich nach und nach das Gefühl hatte, nicht mehr ich selbst zu sein. Oft habe ich mich selbst nicht wiedererkannt und musste feststellen, dass ich in tiefstem Herzen ein unglaublicher Feigling bin.
Eine Memme. Ein Schlappschwanz. Ein Weichling. Ein Angsthase. Ein Hasenfuß.
Es gibt eine Folge der Simpsons, in der Barts Opa im Altersheim noch etwas unternehmen will. Also fragt er seine Mitbewohner, ob sie dabei sind. Einer schaut zum Fenster raus und sagt: "Nein. Es ist kalt, und wir haben Angst."
So, in etwa, habe ich mich im Laufe meiner Krankengeschichte lange gefühlt, obwohl ich doch noch ein bisschen jünger bin als die Rentner von Springfield. Und so erkannte ich, dass die größte Enttäuschung meines Lebens nicht Yvonne war, die mit meinem besten Freund unter dem Regenschirm von der Volksschule nach Hause gegangen ist (ich kann nicht glauben, dass ich schon wieder damit anfange).
Nein, die größte Enttäuschung meines Lebens bin ich selbst. Wie oft hatte ich im Laufe meines Lebens im Fernsehen Berichte über behinderte Menschen gesehen, die alles dafür gegeben hätte, wieder gehen zu können, und wie oft habe ich Geschichten über Unfallopfer gehört, die einen enormen Kampfgeist entwickelt haben und sich wieder zurück ins Leben gekämpft haben?
Es ist kein schönes Gefühl, wenn man für sich selbst nichts anderes mehr übrig hat als Verachtung. Wenn man dabei zusieht, wie die eigene Persönlichkeit zerfällt. Ich habe mich während der schlimmsten Zeit meiner Krankheit nicht mehr wiedererkannt. Das war der Zeitraum von Juni 2013 bis Januar 2015. während dieser langen Monate habe ich einen Menschen kennen gelernt, der verzagt, verzweifelt und verängstigt war.
Ich stellte plötzlich fest, dass ich im Getriebe des Krankenhausalltags nur ein Patient unter hunderten war. Nichts Besonderes. Vielleicht ein bisschen interessanter aufgrund meiner seltenen Erkrankung. Aber vielleicht habe ich das auch nur geglaubt, um mich ein bisschen größer zu fühlen, als ich in diesem jämmerlichen gelähmten Zustand war.
Ich habe mich immer schon für etwas Besonderes gehalten. Nicht für etwas Besseres, aber aufgrund meines Interesses für das kreative Schreiben, sowie das Zeichnen und Malen, war ich doch immer anders als alle um mich herum. Das hat mich einsam gemacht. Aber wenigstens hatte ich es. Dieses Interesse. Diesen Drang, kreativ zu sein.
Es ist die Fähigkeit, mich durch kreative Betätigung an einen sicheren Ort zu begeben, an dem ich nur ich bin. Die pure Essenz meines Selbst. Einfach nur ich. Der Zeichner mit einem Fineliner in der Hand. Der Autor mit dem unstillbaren Verlangen zu schreiben, auch wenn es vielleicht sinnlos ist. Es ist ein Ort, eine Zone, in der ich nicht an mir zweifle, kein Armbändchen mit meinem Namen und Geburtstag trage, wo ich nicht ein Objekt aus Diagnosen, Schläuchen und Nadeln bin. 
Und das war plötzlich weg, und ich war nichts mehr. Nur noch eine Pflanze aus Fleisch in einem gigantischen weißen Krankenbett mit einem Metallgestell rundherum, von dem ich nie verstanden habe, wofür es eigentlich gut war. Gebraucht hat es nie jemand, aber es trug dazu bei, dass ich mich zumindest ein wenig sicherer fühlte. Dieses Bett war eine Abgrenzung zu dieser grauenhaften Welt aus armen leidenden Menschen, der Krankenhausathmosphäre, den Schreien und all dem Tod.
Das Guillain-Barré-Syndrom hat mir meine Identität genommen. Ich war nicht mehr derselbe, nicht mehr der komische Kauz, der sich nicht im Geringsten für Fußball interessiert, sondern leidenschaftlich für die Härtegrade von Bleistiften und den besonderen Glanz, den Pastellkreiden den Augen im Portrait eines Kindes geben. 
Meine Welt war die Welt der Schatten. Die Welt der Kontraste und Perspektiven. Ich sah das Leben aus dem Blickwinkel der Bildkomposition und des Goldenen Schnitts. Es war die Welt der Farben und des Lichts. Das Licht der großen Rennaissancemaler, das Licht des Südens an den Ufern der kroatischen Adria. Es waren die Comics von Uderzo und Hergé, die klare Linie, die ich jetzt nicht mehr zeichnen konnte.
Der Verlust der Motorik meiner Hände war für mich schlimmer als die Lähmung meiner Beine. Ich weiß nicht mehr, wie oft ich mir gewünscht habe, in einem Rollstuhl in der Natur zu sitzen und kleine Bleistiftzeichnungen in ein Skizzenbuch machen zu können. Tja, im Rollstuhl in der Natur sitzen kann ich jetzt zwar, auch aufstehen und notdürftig gehen, allerdings nur in einem Raum, in dem ich mich abstützen kann.
Zeichnen könnte ich inzwischen wohl auch schon wieder ganz gut, aber ich traue mich nicht. Es wäre für mich schrecklich, wenn ich das, was ich mein ganzes Leben lang mit solcher Liebe und solcher Leidenschaft gemacht habe, jetzt nur noch stümperhaft schaffen würde.
Dann wäre ich wieder ein Amateur! Da warte ich lieber noch, bis ich meinen rechten Mittelfinger wieder ausstrecken kann. Nein, nicht für die Therapeuten...zum zeichnen!
Und so komme ich wieder zurück zu dem Thema, über das ich eigentlich nur einen kurzen Blogpost schreiben wollte: Das Gefühl der Selbstverachtung. Gelähmt im Bett liegend wurde ich weinerlich, ängstlich und hoffnungslos. Und das war schlimmer als die eigentliche Krankheit und ihre Begleiterscheinungen. Es widerte mich an mir selbst an, dass ich mich gar nichts mehr traute. Ich hatte Angst, in einem Sessel zu sitzen, ich hatte Angst, im Hebelifter zu hängen, ich hatte Angst vor der Ergotherapie, vor der Physiotherapie, vor Schmerzen, vor Katheterverstopfungen, gleichzeitig aber auch vor den Katheterspülungen.
Ich hatte Angst vor dem Essen. Angst zu kauen, zu schlucken und zu verdauen. Ich glaube, ich habe einigermaßen verständlich gemacht, wie ich mich in diesen eineinhalb Jahren gefühlt habe. Durchgekaut und ausgespuckt.
Heute erscheint mir das unverständlich. Ich hatte damals das Selbstwertgefühl eines aufgeplatzten Stomabeutels. Ich konnte es nicht glauben, dass ich ein solches Weichei war, solch ein Waschlappen.
Das hat immer weiter und weiter an mir genagt und drohte, mich seelisch zu zerfressen.
Wie habe ich diese Selbstverachtung überwunden?
Überwunden habe ich sie wohl noch nicht, aber es ist nur noch wenig davon übrig. Es ist auch keine Selbstverachtung mehr, sondern es sind eher Selbstzweifel. Und wie heißt es so schön? Zweifel kann man ausräumen.
Was hat mich seelisch wieder aufgerichtet? Meine gesundheitlichen Fortschritte, die Bewältigung meiner Ängste, das Akzeptieren meiner Lebenssituation, wie sie nun mal ist, die viele Pflege und lieben Worte der Krankenschwestern und Krankenpfleger und der Gedanke, dass es vielen Menschen sehr viel schlechter geht als mir. Menschen, die nicht mehr die Möglichkeit haben, sich aus dem Rollstuhl hochzuwälzen oder im feschen Frankensteinschritt ein paar Meter zu gehen.
Jeden Tag sehe ich hier in Altenhof lebensfrohe Menschen, die ihr Schicksal hinnehmen, aber trotzdem sehr unternehmungslustig sind. Es gibt hier einen Bewohner, der in einem elektrischen Rollstuhl liegt. Er kann kaum sprechen, seine Haut ist blass, und es ist erschütternd, ihn zu sehen. Aber nur auf den ersten Blick. Wenn man das Bedauern ausblendet, bemerkt man, dass er den E-Rolli selbst steuert. Er ist mir auf einer der kleinen Straßen begegnet. Es war ein heißer Sommertag, und er hat mich sehr freundlich gegrüßt. Ich hatte fast den Eindruck, dass er fröhlich war. Ich weiß nicht, welche Krankheit oder Behinderung er hat. Aber ich weiß, dass ich ihn auf dem Gelände spazierenfahren gesehen habe, und vor ein paar Tagen begegnete ich ihm im Gastgarten des Kaffeehauses. Beim Eis essen.
Und ich? 
Es ist kalt, und ich habe Angst.
Zumindest war das vor einem halben Jahr noch so. Inzwischen bin ich zuversichtlicher und gelassener geworden. Irgendwie gewöhnt man sich an alles, und wenn die medizinischen Prognosen so gut sind, werden auch die Ängste kleiner.
Ich habe im Laufe der Zeit meine Selbstachtung verloren. Ich konnte mich nicht mehr leiden, weil ich mich nicht wiedererkannt habe. Ich wusste, dass alles in Ordnung und ich auf dem Weg der Besserung war, aber ich saß da und fürchtete mich. Heute, ein Jahr später, ist es mir unbegreiflich, dass ich so war. 
Auch, wenn Feigling ein hartes Wort ist, wüsste ich trotzdem nicht, wie ich mich anders beschreiben sollte. Ich habe mich nicht mehr getraut, mich im Rollstuhl nach vorne zu beugen, um nach der Türklinke zu greifen. Aus Angst, es könnte wieder stundenlange Krämpfe in der Blase auslösen. Tatsächlich ist mir das nur einmal passiert. Auf der Neuro. Damals war Trudi (erinnern Sie sich?) so verstopft, dass meine Blase die ganze Nacht Freudensprünge gemacht hat. Glauben Sie mir...Meine Blase hat in meinem Körper Loopings gedreht und Bullriding vom Feinsten veranstaltet. Von 21 Uhr bis 5 Uhr Früh. Niemand wollte mir den Katheter rausnehmen, bis sich in der Frühschicht eine Diplomschwester erbarmt hat.
Ich möchte Ihnen sagen, dass Sie trotz GBS, trotz Lähmung, Windeln und Rollstuhl Ihre Selbstachtung nicht verlieren dürfen. Sie fühlen sich vielleicht auch hilflos, klein und schwach.
Aber das sind Sie nicht!
Auf Ihrem Weg voran ins Leben, werden Sie von vielen helfenden Händen getragen. Tun Sie alles, was Sie können, um die Schwermut zu überwinden. Fragen Sie nach Rat. Wenn es sein muss, brüllen Sie um Hilfe! Damit Sie wieder rauskommen aus Ihrem Käfig der Furcht. Ich schreibe diese Zeilen nicht zufällig in der dritten Person.
Woher will ich denn wissen, ob Sie auch verängstigt, verzweifelt und hoffnungslos sind?
Wenn auch Sie das Guillain-Barré-Syndrom haben, dann kennen Sie auch all diese Gefühle. Das weiß ich. Ganz sicher. Da, wo Sie jetzt vielleicht gerade noch sind, war ich auch. Es ist kein schöner Ort. Dort ist es kalt, und die Luft presst sich wie ein Schraubstock an den Körper. Sie hält Sie fest, lähmt Sie und will Sie nie mehr loslassen.
Ich weiß, wie es ist, im eigenen Körper gefangen zu sein. Aber ich garantiere Ihnen eins, mein lieber GBS-Kollege: ich weiß zwar nicht, ob alle Wege in die Ewige Stadt Rom führen. Aber was die Tote Stadt namens Guillain-Barré-Syndrom betrifft:
Alle Wege führen hinaus in die Freiheit!

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