Samstag, 18. Juli 2015

Der Clown im Mondschein

Wenn Sie meinen Blog schon länger verfolgen, kennen Sie mich ja schon ein bisschen.
Selber schuld.
Sie wissen, dass ich im Juni 2013 am Guillain-Barré-Syndrom erkrankt bin und einige Monate total gelähmt war. Mir kam es allerdings so vor, als wäre ich total tot. Einige Male hätte ich tatsächlich fast den Löffel abgegeben. Was ich Ihnen jetzt beschreiben werde, ist ein Tag, knapp zwei Jahre später, im Juli 2015. Ich kann mich inzwischen gut bewegen, Rollstuhl fahren, selber essen, Dinge ergreifen, aufheben, wieder hinstellen und loslassen. Alles fast problemlos. Ich kann aus dem Rollstuhl aufstehen wenn ich mich abstütze und an einem Barren sogar gehen.
Ich befinde mich also deutlich auf dem Weg der Besserung. So deutlich, dass ich es inzwischen schon selbst bemerke. Lange Zeit war das nicht so.
Aber neben den Fortschritten gibt es auch den GBS-Alltag. Und der ist weit weniger spektakulär.
Falls Sie sich immer schon gefragt haben, wie der typische Tagesablauf eines Menschen mit Guillain-Barré-Syndrom aussieht, sind Sie in meinem Blog genau richtig. Heute schreibe ich nichts Informatives über die Krankheit, sondern erzähle Ihnen, wie mein Tag verläuft, nachdem frühmorgens der Hahn gekräht hat.
Genaugenommen ist es kein Hahn, sondern eine Krankenschwester, die "Morgen, Markus" kräht. Ich nenne sie in diesem Artikel Anita. Erstens, weil es hier im Behindertendorf in Altenhof am Hausruck keine Schwester namens Anita gibt (zumindest nicht in meinem Hausruckhaus), und zweitens, weil ich alle Krankenschwestern, die ich jemals hatte, also...ich meine, die mich gepflegt haben, zu einer Person verschmelzen möchte. Der Einfachheit halber.
Und glauben Sie mir: Ich hatte sie alle. Ohne sie wäre ich komplett hilflos gewesen. Vielleicht fällt mir während des Schreibens ja ein anderer, etwas witzigerer Name ein, aber ich glaube das kaum.
Die sehr effektive und bewährte Tagesstruktur, sowie die sehr sorgfältige Pflege und die Athmosphäre der menschlichen Wärme und Herzlichkeit seitens der Krankenschwestern und aller Anderen habe ich trotzdem mit meiner persönlichen Sichtweise gewürzt. Ich glaube, nicht zu scharf, aber auch nicht zu süß. Und hoffentlich schmackhaft.
Hier also ein Tag im Leben eines GBS-Patienten:
Ich werde von  Krankenschwester Anita geweckt. Krankenschwestern sind super. Lassen Sie sich nicht täuschen von dem, was Sie gleich lesen werden. Ich serviere meine Eisbecher gerne in einem Glas mit scharfem Rand. Aber eigentlich sind meine Krankenschwester-Beiträge heimliche Liebeserklärungen.
Das Frühstück wird mir ans Bett gebracht: Zwei Scheiben Hausbrot mit was drauf und zwei Becher mit was drin. Dazu Tabletten. Die Morgenpflege wird durchgeführt. Anita fragt mich, ob ich mich auf die Seite drehen "mag". Ich mag nicht, tue es aber trotzdem. Die Krankenschwester zieht an der "Safetex"-Unterlage, damit ich mich noch besser drehe. Ich klammere mich verzweifelt am Bettgitter fest und fühle mich wie Sylvester Stallone in Cliffhanger. Übrigens ist das Bettgitter gar kein Gitter, sondern eher eine Art Holzgeländer.
Kaum bin ich nicht mögend auf die Seite gedreht worden, höre ich von Anita ein semibesorgtes "Oh-oooh." 
"Teletubbies schmuuusen!" denke ich mir. Aber Tinky-Winky...äh...Anita ist nicht zum Spaßen aufgelegt, denn sie hat etwas gefunden. Das ist eine der besonders interessanten Eigenschaften der Krankenschwestern. Sie finden immer irgendwas, sagen "Oh-oooh" oder "Uiii" und stellen dann fest: "Du bist da rot."
"Wo denn?" frage ich.
"Am Gesäß", sagt Tinky-Winky.
"Ist es schlimm?"
"Nö. Nur eine kleine rote Stelle. Ich geb’ dir Salbe drauf und ein Leinenfleckerl."
Tinky-Winky gibt mir Salbe und ein Leinenfleckerl auf die kleine rote Stelle am Gesäß drauf und sagt dann: "Passt!"
Ich bin mir nicht sicher, ob sie das Leinenfleckerl meint oder, dass es jetzt für mich passend wäre, mich wieder auf den Rücken zu drehen. Wenn ich mag.
"Derfst di wieda umdrah’n", sagt sie. Dieses Mal muss ich nicht mögen, sondern kann dürfen.
Ich mag trotzdem und dreh’ mich wieder um.
Die Krankenschwester (wie war noch ihr Name?) geht ums Bett herum, nimmt den Beinbeutel für Trudi vom Bettrand, befestigt ihn an meinem linken Unterschenkel und sagt: "Passt!" Dann eilt sie davon, zu einem der beiden Holzsessel neben dem runden Kaffeetisch und holt meine Hose. Es ist eine schwarze Jogginghose. Soviel ich weiß, gibt es keine eigenen Rollipilotenhosen, also ziehe ich eine Jogginghose an.
Genau genommen zieht Anita mir die Hose an. Zuerst über beide Beine und dann über das Körperteil mit der roten Stelle, der Salbe drauf und dem Leinenfleckerl. Zuvor aber sagt sie:
"Dreh’ st dich noch einmal um, bitte?"
Ich habe wirklich eine liebe Krankenschwester, denke ich mir. Aber leider hat die heute frei.
Ich drehe mich, ohne zu mögen, noch einmal um, bitte, begebe mich mutig in die Cliffhangerstellung. Da liegt man auf der Seite und krallt sich am Bett fest und wird von hinten...Nein, nicht, was Sie jetzt vielleicht denken...Sie meinen sicher die Löffelchenstellung, aber ich habe ganz ehrlich keine Ahnung von sowas und wozu man dafür eigentlich ein Löffelchen braucht. Ich bevorzuge ja Suppenlöffel. Wegen der Kontrakturen in den Fingerknöcheln. Ich glaube, wir lassen das lieber...
Die doch ganz liebe Krankenschwester zieht mir die Hose über die Sie-wissen-schon-welche-Stelle und sagt dann etwas, das ich in meiner Weitsicht bereits geahnt habe:
"Und jetzt zu mir."
Ich wieder auf den Rücken, rüberwälzen auf die andere Seite, Tinky-Winky eilt ums Bett herum, zupft am Safetex, ich wieder Cliffhanger ohne Löffelchen, Hose rauf über den Ar...also da, wo die rote Stelle mit der Salbe drauf und dem Leinenfleckerl ist, gefolgt von dem unvermeidlichen "Passt!"
Erneut auf den Rücken zurück. Der Kopfteil des Pflegebettes wird aufgestellt, damit ich mich besser hinsetzen kann. Wobei...nein...meine doch ganz liebe Krankenschwester drückt mir die Bettfernbedienung mit dem Spiralkabel in die Hand und sagt: "Magst di aufsetz’ n?"
Ich bin unschlüssig, entscheide mich aber zu mögen und setze mich auf. Querbett. Nicht querbeet oder querfeldein, sondern Querbett. Das heißt, auf der Bettkante.
"Ich hol den Stehlifter", sagt meine doch ganz liebe Krankenschwester und holt den Stehlifter. Ich kürze das jetzt ein bisschen ab, weil ich finde meinen heutigen Blogbeitrag genauso langweilig wie Sie.
In den Stehlifter. Aufstehen. Zum E-Rolli. Hinsetzen.
Pffffffft.
Das ist nicht Tinky-Winky, die diesen Laut von sich gibt, auch nicht mein Körperteil, wo die kleine rote Stelle mit Salbe drauf und einem Leinenfleckerl ist.
Nein, das irgendwie leicht ordinäre Geräusch kommt von dem sich selbst aufblasenden Sitzkissen. 
Das Sitzkissen hat zwei Ventile, die über Nacht Luft in sich einsaugen wie ich die Gummibärchen. Am nächsten Tag ist es dann prall, und dann kommt der Dicke mit dem Leinenfleckerl, und es macht pffffffft.
"War das das Kissen?" fragt Anita.
Ich bleibe ruhig, obwohl ich sagen will: "Nein, ich habe gerade die Zwiebelmettwurst von gestern wieder in den Kreislauf der Natur zurückgeführt."
So ist also die Realität des Rolli-Alltags. Falls Sie denken, da sitzt ein ganz armer Mensch an den Rollstuhl gefesselt, kann ich Ihnen die weit weniger theatralische Wahrheit nicht ersparen:
Der arme Mensch ist in Wirklichkeit ein fetter Blogautor mit einer kleinen roten Stelle am Gesäß mit Salbe drauf und einem Leinenfleckerl, und er ist auch nicht an den Rollstuhl gefesselt, sondern einfach nur zu neurotisch, um fleißig zu trainieren, um seinen Dingsbums mit dem Leinenfleckerl endlich wieder wegzukriegen von diesem...
...Furzkissen.
Trainieren? Morgen. Aber heute nicht. 
Der Morgen stirbt nie. Der Morgen passt nie wäre vielleicht treffender.
Egal. Ich wollte mich ja kurz fassen. Aber wie ich sehe, sind Sie noch da. Der Tag geht weiter. Jetzt habe ich etwa eine Stunde Pause, sitze an dem langen Holztisch mit der Stelage an der Wand, lese irgendein E-Book über kreatives Schreiben, trinke Cola, esse Gummibärchen, trinke Cola, esse Gummibärchen und warte gelangweilt darauf, dass es halb elf wird und ich zum Mittagessen fahren kann.
Ich fahre zum Mittagessen, durch die Halle mit dem Kaffeetisch, der Arkade (auch Torbogen genannt), am Korkbrett mit den Bekanntmachungen vorbei und in den Speisesaal.
"Mahlzeit!"
"Mahlzeit!"
"Mahlzeit!"
"Mahlzeit!"
"Mahlzeit!"
"Mahlzeit!"
"Mahlzeit!"
"Mahlzeit!"
"Mahlzeit!"
"Mahlzeit!"
"Mahlzeit!"
"Mahlzeit!"
Eine der jungen Schwestern: "Markus, Suppe?"
Wobei, genau genommen sagt sie das nicht so, sondern in nur einem Wort: "Markussuppe?"
"Bitte, ja", sage ich. Fahre zu meinem Platz, eine Art Tisch am Tisch. Weil ich mich schlecht nach unten beugen kann, habe ich eine extra erhöhte schmale Tischplatte bekommen. Darauf zwei Becher mit Wasser drin, ein paar grüne Papierservietten, die offenbar noch von Weihnachten übriggeblieben sind und...
...ein Löffel.
Nicht ein Cliffhangerlöffelchen, sondern ein echter Markussuppesuppenlöffel!
"Passt!" denke ich mir. Schwester bringt Karottensuppe. Sie: "Mahlzeit!" Ich: "Danke. Mahlzeit." Ich esse die Suppe. Schmeckt gut. Danach Hauptgericht. Und was gibt es Gutes? Es klingt, als hätte es ein mittelmäßig witziger Blogautor erfunden, aber ich schwöre, es ist die Wahrheit.
Fleckerlspeise.
Ohne Salbe.
Ich esse auf, trinke aus, denke mir: "Mittagessen überlebt". Zurück in mein Zimmer. Lesen, Cola, Gummibärchen, heute keine Therapie, lesen, Cola, Gummibärchen.
Pffffffft.
Nein, nicht, was Sie denken.
Dieses Mal war’ s wirklich ich.
Abendessen. Brot mit was drauf, Becher mit was drin. Tabletten. Abendessen überlebt. Zurück ins Zimmer. Pyjamajacke anziehen. Lesen. Abendpflege.
"Oh-oooh" dieses Mal ist es Teletubby Dipsy. Um 14 Uhr war Dienstübergabe. Tinky-Winky ist schon zu Hause. 
Salbe und Leinenfleckerl drauf.
"Jetzt wird’ s kalt" sagt Dipsy. Katheterpflege. Mit Tuper und Desinfektionsmittel gegen Harnwegsinfekt, Nierenbeckenentzündung und vorzeitiges Ableben. Ich sehe schon meinen Grabstein mit der Aufschrift: "Passt! Lesen, Cola, Gummibärchen. Pffffffft."
"Danke"
"Bitte. Gute Nacht."
"Gute Nacht."
"Tschüss."
"Tschüss."
Ich bin ja eher ein "Pfiat' di"-Sager, aber irgendwann gibt man' s auf. Kennen Sie die eigentliche Bedeutung des Wortes Tschüss? Gott. Das stimmt wirklich. Es leitet sich von dem spanischen Dias ab, was Gott bedeutet. Was Pfiat' di heißen soll, weiß ich allerdings nicht.
Tür zu. Klolüftung rauscht im Bad. Fünf Minuten lang.
Gute Nacht, denke ich. Es ist Dreiviertel sechs. Draußen scheint die Sonne, und die Vögel zwitschern. Melancholie überkommt mich. Ein Tag am Fließband. Alle sind so lieb und helfen mir den ganzen Tag. Besonders die Krankenschwestern. Aber ich komme nicht voran in meinem Leben. Warum nicht, weiß ich nicht.
Na ja, nicht aufgeben. Nicht weinen. Ich bin ein erwachsener Mann. Ein 45jähriger, der noch immer nicht weiß, was er mal werden will, wenn er groß ist. Vertane Chancen. Vergeudete Zeit. Ungelebtes Leben.
Lesen, Cola, Gummibärchen.
Ich blicke auf den kleinen weißen Beistelltisch neben meinem Bett. Ich sehe mein iPad, den Funkwecker, eine Flasche mit Leitungswasser. Eine mit Cola Zero. Für den schlanken Fuß. Morgen Früh Lymphdrainage. Ergotherapie. Vielleicht ins Kaffeehaus, ein Eis essen.
Mein Leben ist zuckersüß. Am Beistelltisch liegt eine Tafel Schokolade. Ich werde nicht die ganze essen. Aber die halbe. Und morgen wieder. Und übermorgen wieder.
Es ist alles in Ordnung, denke ich mir. Es geht mir gut. Ich wäre ein paarmal fast gestorben. In meinem Blut geschwommen. Ich esse soviel Schokolade, wie ich will. Ich habe sie verdient. Mit fünfzig Blutkonserven. Einem aufgeschnittenen Bauch. Nierenversagen. Tetraparese.
Denken Sie jetzt, das sind doch nur Ausreden für’ s Naschen?
Ich fürchte, Sie haben recht.
Licht aus.
Schlafen.
Der alte Mann am Meer träumt von Löwen. Ich nicht. Ich träume nichts, und wenn doch, will ich mich nicht daran erinnern. Zuviel Blut. Zuviel Tod.
Ich glaube, die Stimmung kippt gerade. Bisher war' s eigentlich ganz witzig. Aber wie sagte noch der Stummfilmschauspieler Lon Chaney?
Im Mondschein ist kein Clown komisch.
Ich schlafe ein.
Und träume doch. Vom Meer. Ich schwimme. Das Leben ist leicht. Die Sonne des Südens. Zypressen. Pinien. Blühende gelbe Ginstersträuche. Der Wind auf den Wellen. Glück. Ein Hauch vom ewigen Leben. Der Duft von Rosmarin. Nein, nicht Rosmarin. Lavendelduft.
Es ist der Raumspray.
Ich wache auf.
Tinky-Winky. "Morgen, Markus."
Ja, denke ich mir. Morgen. Aber heute nicht.
"Morgen", sage ich.

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