Samstag, 14. November 2015

Die Festung der Einsamkeit

Ich habe die Einsamkeit immer geliebt. Ich habe mich nie allein gefühlt, schon als Kind nicht. Ich hatte zwar Freunde, mit denen ich gerne gespielt habe, aber ich wusste es auch zu schätzen, niemand anderen um mich zu haben. Langweilig war mir nie. Ich hatte immer eine Beschäftigung.
In meiner Kindheit habe ich entweder mit Actionfiguren oder Playmobil große Abenteuer erlebt, gezeichnet oder mir Hörspiele auf Langspielplatte angehört. Ich habe mir Geschichten ausgedacht und mir vorgestellt, was ich alles machen würde, wenn ich erwachsen bin.

Was wirklich aus mir geworden ist, hätte ich damals nicht gedacht. Ich hätte als Kind nicht geglaubt, dass das Leben derartig von Verlusten geprägt sein kann, dass man glaubt, es zieht einem den Boden unter den Füßen weg. Es war ein langer und verschlungener Weg von meinem roten Kettcar bis in den E-Rolli. Und alles, was ich damals hatte, habe ich verloren. Meine Eltern. Mein Zuhause. Meinen Beruf. Meine Zukunftshoffnung.

Ich will nicht zu sehr lamentieren, und eigentlich gibt es für mich auch gar keinen Grund zu jammern. Ich bin auf dem Weg der Besserung, meine Zuversicht auf eine kreative selbsterschaffene Zukunft wird wieder stärker, und ich muss mir keine Sorgen über meine Lebensumstände machen. Ich habe jede Menge Zeit zu schreiben, zu lesen, wieder mit dem Zeichnen zu beginnen, nachzudenken und große Pläne für die Zukunft zu schmieden. Ich bin von wunderbaren hilfsbereiten Menschen umgeben, und wenn ich aus dem Fenster schaue, sehe ich Bäume und, in der Ferne, bewaldete Hügel.

Ist doch ein Traum, oder?

Bitte werden Sie jetzt nicht neidisch, weil Sie nicht das Guillain-Barré-Syndrom haben! Das ist doch nicht so schlimm. Auch ohne Lähmungen, kaputte Nerven, Verdauungs- und Ausscheidungsproblemen, gelegentlicher Todesgefahr, Depressionen und einer generalisierten Angststörung, die auf meinem Gesicht sitzt wie ein Face Hugger aus "Alien", lässt es sich gut leben. Also, nicht traurig sein!

Nur, dass die Einsamkeit, die Ruhe und die Stille mich eine lange Zeit während meiner Krankheit mehr beängstigten als die Lähmungen der Tetraparese, gab mir zu denken. Die Einsamkeit war immer mein Freund gewesen. Schließlich gibt sie mir die besten und kreativsten Ideen, für Bücher, Blogs und Zukunftspläne. Mit meiner Krankheit hat sich das geändert. Ich lebte während meiner Krankengeschichte oft in der ständigen Angst, dass mir etwas passieren könnte. Auf der Intensivstation war das am schlimmsten. Ich war zu 100% auf Hilfe angewiesen. Es war mir, als sei ich in meinem eigenen Körper eingenäht. Ich hätte nicht gedacht, dass die völlige Unfähigkeit, sich zu bewegen ein derartiges Gefühl der Beklemmung auslösen könnte. Ich hatte nie Angst vor engen Räumen, aber dieses Mal war ich in einem Raum eingeschlossen, aus dem es keine Fluchtmöglichkeit gab.

In meinem eigenen Körper. Stellen Sie sich vor, Sie empfinden ein Gefühl der unmittelbaren Bedrohung. Sie wollen weglaufen, der Fluchtinstinkt setzt ein, aber Sie können nicht. Im Zustand der GBS-Tetraparese zu sein ist vergleichbar mit der sogenannten Schrecksekunde, wenn man plötzlich erstarrt. Der Unterschied ist nur, dass diese Sekunde mehrere Monate dauert. Glauben Sie mir, es ist kein angenehmes Gefühl, fliehen zu wollen, aber liegenbleiben zu müssen.

Wenn die Schmerzen kamen, weil die Nerven wieder aktiv wurden. Ich kann nicht behaupten, dass ich unerträgliche Schmerzen gehabt habe, aber selbst ein mittelmäßiger Schmerz hat eine andere Qualität, wenn man sich nicht bewegen kann. Immer wieder hatte ich das Bedürfnis aufzustehen und mir die Beine zu vertreten, nur, damit ich das ständige Stechen nicht mehr spüre.

Letzlich war es immer wieder mein hartnäckiger Optimismus, der mir sagte, dass der nächste Tag wieder besser und leichter sein wird. Und am darauffolgenden Tag beruhigte ich mich mit demselben Gedanken. Jeden Tag wird es immer ein kleines bisschen besser und besser. Oft zweifelte ich daran, aber die medizinischen Prognosen waren alles in allem sehr gut. Mir wurde sehr schnell klar, dass ich das Ganze einfach aussitzen musste. Oder ausliegen.

Ganz so einfach war es dann natürlich nicht, aber wenn ich heute auf die Zeit auf der Intensivstation und der Abteilung für Neurologie zurückblicke, stelle ich fest, dass es letztlich genau so war und auch jetzt noch ist. Mit dem großen Unterschied, dass ich jetzt aktiv etwas dazu beitragen kann, dass ich wieder auf die Beine komme. Ich kann trainieren, weil ich mich bewegen kann. Früher wurde ich passiv trainiert. Meine Muskeln wurden jeden Tag von Ergo- und Physiotherapeuten durchbewegt, und später konnte ich dann an einem Pedaltrainigsgerät mit Motor meine Arme bewegen lassen. Im Bett legte man mir eine ebenfalls elektrische Beinschiene an, die meine Ober- und Unterschenkel durchbewegte. Leider kann man die Muskeln nicht passiv trainieren, aber die Bewegung an sich ist wichtig, um Kontrakturen zu verhindern. Kontrakturen sind Verhärtungen des Gewebes. Sie entstehen durch fehlende Bewegung. Zum Glück muss man sie nicht unbedingt operieren, sondern kann sie wegtrainieren. Wenn nicht vollständig, dann zumindest soweit, dass die betroffenen Gelenke wieder einsetzbar werden.

Ich bin ein introvertierter Mensch und brauche die Stille, um meine Batterien wieder aufzuladen. Aber in den schlimmsten Zeiten meiner Krankheit war die Stille für mich unerträglich. Nicht, wenn andere Personen im Zimmer waren, aber wenn ich alleine war. Zum Teil ist das auch heute noch so. Es wird wohl noch lange dauern, bis ich das Alleinsein wieder genießen kann ohne ein ständiges Gefühl der Bedrohung und der Gefahr zu empfinden.

Wenn ein introvertierter Mensch seine Liebe zur Einsamkeit verliert, verliert er sich selbst. Wenn die Stille des Alleineseins bedrohlicher ist als der Tumult unserer lauten Welt, findet der nach innen gekehrte Mensch seinen Weg nicht. Obwohl der Weg da ist. Er liegt vor ihm, aber er kann ihn nicht beschreiten, weil der Schwindel, den er bei dem Gedanken an eine Rückkehr in sein stilles Refugium empfindet, ihn noch mehr lähmt als die Schlingerkurse der Spaßgesellschaft.

Introvertierte werden für schüchtern, weltfremd und ungesellig gehalten. Ich glaube, den meisten Menschen ist nicht bewusst, dass das überhaupt nicht stimmt. Introvertierte sind nicht schüchtern. Ihr Lebensgefühl ist auch kein Ausdruck einer sozialen Phobie. Wir haben keine Angst vor anderen Menschen, aber ich glaube, wir sind den Extrovertierten ein bisschen unheimlich. Wir denken lieber, anstatt zu reden und legen unsere Ansichten auf die Waagschale, bevor wir sie äußern.

Schüchterne Menschen wollen mit den anderen reden, trauen sich aber nicht. Introvierte trauen sich, wollen aber nicht. Das ist der Unterschied. Extrovertierte Zeitgenossen tanken ihre Energie dort, wo Jubel, Trubel und Heiterkeit herrschen, Introvertierte sagen zwar auch nicht nein zu einer gelegentlichen Party mit Garantie auf einen Hörschaden, aber ihre Kraft beziehen sie aus einer ihnen innewohnenden Quelle.

Meine Quelle hat das Guillain-Barré-Syndrom vergiftet. Für eine lange Zeit. Zwei Jahre lang war das Alleinesein für mich so bedrohlich, als würde ich auf einer Zeitbombe sitzen. Es war nicht sosehr die akute Angst, dass mir irgendetwas passiert, das mit meiner Krankheit zusammenhängt, sondern die beklemmende Vorstellung einer sich bewegenden, gehenden, schwimmenden, lachenden und feiernden Zukunft, in der ich aber nur ein gelähmter Zaungast bin. Die Lähmung der Tetraparese war zwar schon nach einem Jahr weitgehend abgeklungen, aber das Gefühl ist geblieben. Auch heute noch. Noch immer habe ich das Gefühl, das Leben würde rund um mich herum stattfinden, aber nicht in mir und mit mir.

Dazu kam das unbestimmte Gefühl einer ständig schwelenden Gefahr. Ich fühlte mich ständig bedroht, wusste aber nicht wodurch oder von wem. Das bezieht sich nicht auf andere Menschen, auch nicht auf Naturkatastrophen oder politische Unruhen. Nein, es war ein mich ständig begleitendes Gefühl der Beklemmung. So, als würde ich frieren, obwohl in meinem Zimmer angenehme zweiundzwanzig Grad sind. Können Sie sich das vorstellen? Dass sich jede Minute eines jeden Tages so anfühlt, als würde man versuchen zu schwimmen, und der Weiße Hai ist hinter einem her?

Ich gehöre zu der Art Mensch, die sich unter anderen Menschen nur wohlfühlen kann, wenn sie sich auch alleine geborgen und frei fühlt. Wenn ich von der Welt und ihren Erdlingen genug hatte, konnte ich mich immer in meinen inneren Safe einschließen. Sogar in der Zeit der größten Lähmung war mir nie langweilig, ich war sehr beschäftigt mit meinen Gedanken. Ich konnte mir in meinem Kopf ein Leben vorstellen, das nicht aus Krämpfen, Schläuchen und Klingen bestand. Ich lebte in einem Haus mit Blick auf den Attersee und verbrachte meine Zeit mit dem Schreiben von Büchern und Veranstalten von Partys. Die Krankheit hatte ich überstanden und fühlte mich wohl. Schöne Frau, schickes Auto, ein Ferienhaus am Meer und Geld wie Heu.

Natürlich ist das eine Form der Weltflucht, aber ich hatte einen guten Grund dafür. Ich konnte nichts anderes tun. Außerdem waren diese Phantastereien immer mit dem Glauben verbunden, dass ich das alles wirklich noch erreichen kann. Ich war also immer schon ein heimlicher Optimist. Heute glaube ich, dass mir meine Vorstellungskraft den Verstand gerettet hat. Ohne diese Möglichkeiten des Rückzugs wäre ich wohl vollkommen apathisch und depressiv geworden.

Damit möchte ich Ihnen sagen, dass Sie selbst dann, wenn sie nichts anderes mehr bewegen können als ihren Kopf, immer noch ein freier Mensch sind. Freiheit ist ein Geisteszustand. Das ist vielleicht die wichtigste Lektion, die mir das Guillain-Barré-Syndrom erteilt hat. Ich wusste zwar, dass meine Heilungschancen gut waren, aber wenn man sich monatelang nicht einen Zentimeter vom Fleck rühren kann, schwindet die Hoffnung schnell. Ich schreibe dies mit einem etwas schlechten Gewissen, weil ich weiß, dass es Menschen gibt, die die Hoffnung auf Heilung nicht haben. Die von Geburt an oder durch einen Unfall am ganzen Körper gelähmt sind und es ihr Leben lang auch bleiben werden. Verglichen damit ist meine Krankheit nur ein harmloser Schnupfen.

Ohne die weiten Felder meiner geistigen Welten wäre mein Körper aber sicher nicht gesund geworden. Ganz gesund ist er ja noch immer nicht, aber ich bin näher dran als je zuvor in den letzten zweieinhalb Jahren. Das stärkt meine Zuversicht und lässt auch die unangenehmen Seiten der Genesung relativ leicht erscheinen. Außerdem hat die intensive Beschäftigung mit mir selbst, den Fehlern, die ich in der Vergangenheit gemacht habe und das leise, aber spürbare Anklopfen des Todes an meiner Haustür dazu geführt, dass ich mich nicht mehr nur in meinen Innenwelten verstecken will.

Und so geschehen heute Dinge, die ich noch vor ein paar Jahren für vollkommen unmöglich gehalten hätte. Ich fahre alleine und freiwillig am Nachmittag einfach so ins Kaffeehaus. Oft habe ich sogar das Gefühl, dass ich das nicht nur möchte, sondern muss, weil sich sonst die Wände auf mich zubewegen und mich erdrücken könnten. Ich habe tatsächlich festgestellt, dass die Gesellschaft anderer Menschen angenehm und beruhigend sein kann. Dafür muss ich sie nicht einmal kennen. Die reine Anwesenheit von Menschen in meiner unmittelbaren Nähe lässt mich auf andere Gedanken kommen.

Ich war früher zwar kein Eremit, aber ich habe Gruppen von Menschen lieber gemieden. Ich hatte immer den Eindruck, unter ihnen nichts verloren zu haben und nicht dazuzugehören. Heute ist das auch noch so, aber nicht mehr so extrem wie damals.

Das Guillain-Barré-Syndrom hat mir die Freude an der Einsamkeit genommen. Ich bin aber zuversichtlich, dass sie wieder zurückkommen wird. Nicht, um mich vor der Welt und ihren Erdlingen zu verstecken, sondern um für einige Stunden die seelischen Akkus wieder aufladen zu können. Ein extrovertierter Halligallityp werde ich sowieso nie werden. Will ich auch nicht. Es ist ein schönes Gefühl, dass die Stille und ich allmählich wieder Freunde werden. Schließlich möchte ich mich nicht nur in der äußeren Welt zurechtfinden und wohlfühlen, sondern auch in jenem fernen Land, unnahbar euren Schritten.

Sicher gibt es viele andere Menschen, die so ähnlich gestimmt sind, wie ich es die meiste Zeit meines Lebens war, die vor den Menschen eher zurückscheuen. Auch heute noch würde ich wohl niemals mit einem Fremden ein Gespräch beginnen, aber ich habe kein Problem mehr damit, wenn Andere das mit mir tun. Es kann durchaus sein, dass ich irgendwann wieder in mein selbsterschaffenes Exil zurückkehren werde, aber ich werde dort sicher nicht lange bleiben wollen.

Und wenn Sie auch von dieser Krankheit mit dem irgendwie schönen Namen betroffen sind, mein heutiger Tipp für mehr Spaß am Guillain-Barré-Syndrom:

Kapseln Sie sich nicht ab!

Zumindest nicht allzu sehr. Ab und zu muss sogar Superman in die Festung der Einsamkeit. Das ist in Ordnung. Aber lassen Sie bei ihrer Burg der Stille die Zugbrücke offen. Besonders, wenn Sie noch in einem Stadium der Krankheit sind, in dem Sie höchstens Ihre Arme ein wenig bewegen können und vom Gehen auf den eigenen Beinen noch gar keine Rede sein kann.

Trotz Krankheit, trotz Hoffnungslosigkeit und selbst, wenn Sie am nächsten Tag nicht mehr aufwachen wollen.

Es gibt Feste zu feiern!

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