Samstag, 21. November 2015

Brüllen Sie!

Ich habe immer geglaubt, dass man in einer Situation wie meiner Lähmung über sich hinauswächst. Dass jeder, der gelähmt im Rollstuhl sitzt und dessen Chancen auf Heilung ausgezeichnet sind, einen extremen Überlebenswillen entwickelt und von früh bis spät nichts anderes tut, als hart zu trainieren. So ein Mensch hat nichts anderes im Kopf als den Gedanken:
"Ich will so schnell wie möglich aus dem Rollstuhl raus!"
Nun, diesen Gedanken hatte ich auch. Was mir aber fehlte, war die Tatkraft. Ich habe die ganze Zeit meiner Krankheit nie trainiert wie ein Irrer. Wenn ich es getan hätte, wäre ich heute wohl schon viel weiter und würde nicht mehr durch die Gegend rollen, sondern gehen. Oder wenigstens humpeln. Oder stapfen wie Frankenstein. Das wäre aber nicht schlimm, eine leichtfüßige Elfe war ich noch nie.
Ich habe lange Zeit nicht an meine Fortschritte geglaubt, obwohl ich sie gesehen und gespürt habe. Aber solange ich weiterhin jeden Tag aus dem Bett gehoben und in den E-Rolli gesetzt werde, kann ich nicht richtig zuversichtlich sein. Trotz besserer Laune. Ich kann noch immer nicht selbstständig aus dem Rollstuhl aufstehen und eine Drehung um 180 Grad machen, ohne mich dabei abzustützen. Es liegt wohl daran, dass ich nicht genug Kraft in den Beinen habe, meine Füße noch nicht kontrollieren kann und eindeutig zu schwer bin.
Im Laufe der Zeit hat sich bei mir eine regelrechte Angst vor der Gesundheit entwickelt. Ich habe danach gegoogelt, aber nichts gefunden. Es gibt zwar den Begriff der Gesundheitsangst, aber das ist nur ein anderes Wort für Hypochondrie, also der Angst vor Krankheiten. Es war wohl die Angst vor einer unsicheren Zukunft, die mich noch stärker an den Rollstuhl gefesselt hat als das Guillain-Barré-Syndrom. Ein bisschen etwas davon trage ich noch immer mit mir herum, aber es ist kein Vergleich mehr zu früher.
Sollten Sie also auch ein GBSler sein, der zuerst panische Angst hat, sein Leben lang am ganzen Körper gelähmt zu sein und sich dann davor fürchtet, gesund zu werden und gehen zu können, kann ich Ihnen nur raten:
Dramatisieren Sie Ihr Schicksal nicht! 
Weder auf moralische, noch auf religiöse, abergläubische, philosophische, schuldkomplexbeladene oder sonstwelche Art. Wir zwei haben das Guillain-Barré-Syndrom, aber genausogut hätten wir uns einen Schnupfen einfangen oder von einer abstürzenden Wildgans erschlagen werden können. Shit happens. Ist nunmal so. 
Solche Dinge geschehen einfach. Nur so. Ihre Krankheit hat nur dann einen Sinn, wenn Sie ihr diesen Sinn geben. Den müssen Sie allerdings selbst finden. Selbstfindung scheint eine Begleiterscheinung des Guillain-Barré-Syndroms zu sein. Zumindest bin ich auf der Suche. Ich weiß allerdings noch nicht genau, wonach. Die Suche nach mir selbst kann es kaum sein, denn schließlich kenne ich mich schon seit sechsundvierzig Jahren. Glauben Sie mir, ich bin vom Gemüt her heute immer noch derselbe, der ich früher in der Sandkiste war. Allerdings schütte ich den Mädchen keinen Sand mehr in den Kragen. Das liegt aber nur daran, dass es hier in Altenhof keine Sandkiste gibt.
Ich bin der Größte, Intelligenteste, Kreativste und Schönste. Davon bin ich wirklich überzeugt. Na ja, fast immer. Gelegentlich. Hmm, eigentlich eher selten. So selten, dass man fast schon von nie sprechen könnte. Nicht so besonders schön bin ich, wenn ich mich nackt an den Stehlifter klammere und von einer armen Krankenschwester zum duschen ins Bad geschoben werde. Ich weiß bis heute nicht, wie die das machen. Sicher sind sie extra gut geölt. Die Stehlifter.
Aber auch manche Krankenschwestern sind schon in der Früh um sieben so gut geölt, dass ich mich frage, wie es möglich ist, dass man so viel Energie und Schwung haben kann. Ich glaube nicht, dass das Schauspielerei ist. Manche haben ein so strahlendes Wesen, dass im Vergleich zu ihnen sogar die Sonne grantig wirkt. Aber bei einigen Schwestern habe ich mich gefragt, ob die zu Hause ein Schwein namens Misery haben. Zum Glück ist bisher noch nie eine mit einem Holzpflock und einem Vorschlaghammer bei der Morgenpflege erschienen und hat gesagt: "Du warst böse, Markus. Du warst sehr böööse!" Nach meinen verschiedenen Blogartikeln wäre das aber durchaus verständlich.
Aber wieder zurück zum Ernst des Lebens. Wenn Sie das hier lesen, gehe ich davon aus, dass Sie in der Plateauphase nicht erstickt sind. Das bedeutet, dass es mit Ihnen wieder bergauf geht. Und das wiederum heisst, dass Sie wieder gesund werden. Ich will Ihnen keine falschen Hoffnungen machen, ich will Ihnen nur eines sagen:
Sie! Werden! Gesund!
Glauben Sie' s einfach. Dadurch ersparen Sie sich viel Kummer und Existenzängste. Sie ersparen es sich, frühmorgens entsetzt zu sein, weil sie wieder aufgewacht sind. Bei mir war das länger als eineinhalb Jahre so. Ich öffnete meine Augen, sah die weiße Zimmerdecke über mir, hob den Kopf an so gut ich konnte, sah die Dialysemaschine, die Infusionsschläuche, die an dem Venenkatheter an meinem Hals hingen, sah mein Blut durch Schläuche fließen, sah  andere kranke Menschen in ihren Betten liegen, sah die Pflegemittel, die Medikamente und dachte mir: "Mein Gott. Ich bin wieder aufgewacht! Ich will nicht mehr aufwachen"
Damals war mir noch nicht bewusst, wie rätselhaft meine Krankheit war, wie extrem meine körperlichen Fortschritte sein würden und wie sehr sich mein Leben verändern sollte. Ich ahnte auch noch nicht, wie lange, wie unendlich lange das alles dauern würde. Aber vor allem hatte ich noch keine Ahnung davon, wie viel von mir selbst ich verlieren würde. In meinen Gedanken stehe ich manchmal vor der Sandkiste, sehe den hellblonden Buben mit dem kurzärmeligen gestreiften Pullover und der roten Plastikschaufel und frage mich, was er wohl täte, wenn er jetzt schon wüsste, was fünfunddreißig Jahre später auf ihn zukommen wird.
Aber wenigstens stehe ich in diesen Gedanken. Ich sitze nicht im E-Rolli und liege auch nicht in einem Krankenbett unter einem Galgen. Mein Blut fließt nicht mehr durch Schläuche in riesige ratternde Maschinen, sondern durch meine Adern und mein Körper ist nicht mehr gelähmt.
Und meine Seele?
Sie atmet nicht mehr so frei wie in Kindertagen, aber sie braucht kein Beatmungsgerät mehr. Über meinen Bauch, vom Brustbein bis unter den Nabel, ziehen sich zwei blasse Narben. Sie sind die schicken Souvenirs der Operation meiner Darmsepsis. Daneben ist ein Loch, und an dem Loch klebt ein Sack namens Stoma. Kein schöner Anblick, aber was aussieht, als hätte ich versucht, Harakiri zu begehen, ist nur ein kleiner Kratzer im Vergleich zu den Seelenwunden, die mir von der Krankheit geschlagen wurden. Tiefer als es das schärfste Skalpell vermag. Die Fleischnarben wachsen zu, und die Seelennarben verblassen langsam, aber verheilen werden sie nie.
Eine meiner Krankenschwestern hier in Altenhof am Hausruck hat neulich zu mir gesagt, ich hätte ein Helfersyndrom, weil ich auf meinem Blog Tipps für Patienten mit Guillain-Barré-Syndrom gebe. Damit hat sie nicht ganz unrecht. Dieses Syndrom gibt es zwar nicht, aber ich weiß, was sie meint. Natürlich will ich meine Erfahrungen an andere GBS-Patienten weitergeben, aber das sogenannte Helfersyndrom, das empirisch niemals nachgewiesen werden konnte, äußert sich durch ein suchtartiges und zwanghaftes Verhalten, das durch einen starken Minderwertigkeitskomplex ausgelöst wurde. Das trifft bei mir nicht zu. Ich möchte nur meine Erlebnisse und Gedanken zum Guillain-Barré-Syndrom und seinen Begleiterscheinungen mit so vielen Menschen wie möglich teilen.
Während ich dies schreibe, habe ich auf meinem Blog 14.379 Seitenaufrufe. Ich bin schon ein bisschen stolz darauf. Die meisten Leser bekomme ich über Twitter (@writergregory), wo ich jeden Abend einige Infos und Links zu den verschiedenen Artikeln poste. So komme ich im Schnitt auf knapp 100 Seitenklicks pro Tag. Das klingt zwar nicht so beeindruckend, aber ich bin damit ziemlich zufrieden. Noch mehr wären mir natürlich lieber.
Außerdem möchte ich meinen Leidensfreunden Mut machen, weil ich weiß, wie elend man sich mit GBS fühlen kann, insbesondere in der Anfangsphase der ersten paar Wochen. Zugegeben, meine Hilfe beschränkt sich auf einfache Motivationsparolen wie "Geben Sie nicht auf!" Oder "Sie werden gesund!", aber ich weiss nur allzu gut, wie wichtig das sein kann, wenn man gelähmt im Bett liegt und jede Sekunde eines jeden Tages Angst davor hat, dass das für den Rest des Lebens so bleiben wird. Und wenn die Plateauphase überstanden ist, also die Tage, in denen GBS wirklich lebensbedrohlich ist, stehen die Überlebenschancen ziemlich gut. Theoretisch könnte man mit der durch diese Krankheit verursachten Tetraparese 100 Jahre alt werden. Vielleicht übertreibe ich (wie meistens), aber dieser Gedanke ging mir im Kopf herum. Nein, er ging nicht, er dröhnte in mir wie ein Presslufthammer. Es gelang mir zwar immer, diese quälenden Vorstellungen wegzuschieben, aber sie kamen doch immer wieder zurück.
Das zeigt Ihnen vielleicht, dass die körperlichen Beschwerden, die GBS mit sich bringt zwar sehr gravierend sind, aber die seelischen sind wesentlich belastender. Es sind so viele Kleinigkeiten, die sich summieren, und schließlich steht man in einer fremden Landschaft, in der die Wege in alle möglichen Richtungen führen, aber überall liegen felsbrockengroße Stolpersteine, dazwischen klaffen Schlaglöcher, die so tief sind, dass man durch sie in den Tod stürzen kann, und außerdem ist der Boden unter den Füßen zäh wie heisser Teer.
Und da soll man dann Fortschritte machen.
Wie soll das gehen?
Heute sage ich, indem man nicht zuviel darüber nachdenkt und sich in Bewegung setzt. Aber über die Gabe, das Grübeln abzuschalten, verfüge ich leider nicht. Zwar habe ich in den schlimmsten Zeiten meine Angstanfälle durch das Zählen meiner Atemzüge ganz gut unter Kontrolle gehalten, aber letztlich waren all die Ängste und Sorgen nur Produkte meiner eigenen Gedankenwelt. Ich wendete Affirmationen an und versuchte es mit positivem Denken. Letzteres zuerst erfolglos, aber inzwischen habe ich gelernt, jedem negativen Gedanken sofort einen gegenteiligen positiven entgegenzusetzen.
Auch heute denke ich mir oft "das hat alles keinen Sinn. Es bringt ja doch nichts. Ich werde den Rest meines Lebens in diesem Zimmer verbringen". Aber dann denke ich daran, wie ich auf der Intensivstation im Bett lag, die Hände auf der Brust. Ich konnte die Arme schon ein bisschen bewegen und wollte sie ausstrecken, aber ich konnte das nur in kleinen ruckartigen Bewegungen. Heben konnte ich die Arme nicht. Dadurch, dass sie immer abgebogen waren, taten die Ellbogengelenke weh. Die Arme auszustrecken und an den Seiten meines Oberkörpers auf der Matratze abzulegen, hätte Linderung gebracht, aber ich war noch so schwach, und die Lähmung war noch so stark, dass ich meinen rechten Arm nicht über den prall gefüllten Stomasack an meinem Oberbauch bekam. Ich versuchte mit aller Kraft, ihn doch ein Stück zu heben, aber es war, als würde ein Granitbrocken auf mir liegen. Es war schlichtweg unmöglich. Dann probierte ich, den Unterarm näher zu meinem Kinn zu ziehen und ihn dann in einem Bogen um den Beutel herumzubewegen, aber ich schaffte es nicht bis zum Kinn. Der Weg vom Brustbein bis zum Hals war einfach zu weit und zu beschwerlich.
Und so musste ich mir eine Angewohnheit zulegen, die wohl niemand gerne zu seinen Charaktereigenschaften zählt.
Aufgeben.
Es gab keine andere Möglichkeit. Die Arme so liegen lassen, wie sie waren, den Druck in den Gelenken ertragen und warten, bis eine Krankenschwester ins Zimmer kam. Auf den Notrufknopf konnte ich nicht drücken, und schreien wollte ich nicht. Irgendwann schlief ich dann ein und träumte davon, gelähmt im Bett eines Hauses zu liegen, dass irgendwo mitten in der Wüste stand. In diesem Haus war eine junge Familie, die mich pflegte. Ich wusste nicht, wie ich dort hingekommen war, aber noch schlimmer war, dass ich keine Ahnung hatte, wie ich von diesem Ort wieder wegkommen sollte. Es gab kaum Wasser, und die Familie sprach von einem schweren Sandsturm, der kommen würde.
Man nennt diese Art von Träumen "oneiroide Träume". Sie sind so realistisch, dass sich die meisten GBS-Patienten, wenn man sie später fragt, welche Erinnerungen sie an die Intensivstation hätten, sagen: Die Albträume. Mir geht es genauso. Zwar erinnere ich mich auch an reale Situationen, an die Krankenschwestern, die Krankenpfleger und den Oberarzt, aber in einigen Fällen weiß ich nicht mehr, ob ich eine Erinnerung wirklich erlebt oder sie lediglich geträumt habe. Einmal sagte der Oberarzt zu einer Krankenschwester, für das Wochenende sei eine Bergtour geplant. Ich lag in meinem Riesenbett mit dem weißen Metallrahmen, von dem ich nie erfahren habe, wofür er gut war, hob meinen Kopf so gut ich konnte, sah den Arzt an und fragte: "Muss ich da mit?" Der Arzt verzog sein Gesicht und sagte: "Das ist wieder typisch. Kaum gibt es eine Bergtour, will wieder keiner mitgehen."
Ehrlich, ich weiß heute nicht mehr, ob das ein Traum war, oder ob es wirklich passiert ist. Albtraum war das zwar keiner, aber von denen hatte ich auch mehr als genug. Mir geht es gesundheitlich zwar zunehmend besser, aber mich plagen vor allem Zukunftsängste und die Überzeugung, dass sich meine guten Träume nicht mehr erfüllen werden. Ganz einfach, weil ich zu alt bin. Ich bin jetzt 46. Früher hätte ich jeden für verrückt gehalten, der mir gesagt hat, dass es eine Angst vor dem Gesundwerden gibt.
Glauben Sie, dass es jemanden geben kann, der seit fast zwei Jahren im Rollstuhl sitzt und Angst davor hat, wieder gehen zu können?
Es gibt ihn. Ich sehe diesen Deppen jeden Tag im Spiegel. 
Eigentlich müsste ich in meinem E-Rolli sitzen wie auf einer glühend heissen Pfanne. Nichts wie raus! Ich frage mich oft, ob ein gesundes Leben ohne Behinderung wirklich das verlorene Paradies ist. Werde ich ein glücklicherer Mensch sein, wenn ich wieder normal gehen und auf normalen Stühlen sitzen kann? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass mir das Leben im Rollstuhl eine Art der Sicherheit gibt, die ich als gehender Mensch nie wieder haben werde.
Die Straßen sind zwar dieselben, aber auf seinen eigenen Beinen kann man ziellos umherirren. Als Rollstuhlfahrer habe ich immer ein Ziel. In den Lift. Zum Hauptgebäude. Zur Physiotherapie. Zur Sozialverwaltung. Zum Jausentisch bei der Kiefer. Zum Teich. Ins Kaffeehaus. Zur Ergotherapie. Zurück ins Haus 12. In den Lift. Durch die Halle. Zurück in mein Zimmer.
Als Rollstuhlfahrer bin ich immer auf dem Rückweg. Ich fahre nirgendwo hin, um dort zu bleiben. Ich kann mich nicht verzetteln, und meine Wege sind barrierefrei. Das kommt mir zugute, weil ich gerne alles kontrollieren will. Natürlich ist das unmöglich, und so kämpfe ich trotz aller meiner Fortschritte immer noch mit Unsicherheit, Ängsten und depressiven Verstimmungen. Aber selbst die Tage, die mir schlecht erscheinen sind gar nichts im Vergleich zu früher, als ich nach dem Mittagessen auf der Neuro alleine im Krankenzimmer war und schief im Bett saß, weil ich mich selbst nicht zurechtrücken konnte. Die Notrufglocke konnte ich nicht erreichen, geschweige denn drücken. Mit jedem Zentimeter, den ich weiter nach rechts rutschte, wurden die Krämpfe in meiner Hüfte schlimmer, so lange, bis mir der Schweiß auf der Stirn stand und ich nur schwer atmen konnte. Nicht, weil ich keine Luft bekam, sondern weil die Schmerzen und die Verzweiflung, alleine zu sein und niemanden um Hilfe rufen zu können, sehr kräftezehrend sind. Sowohl physisch als auch psychisch. Irgendwann, nach einer halben Stunde oder mehr, kam dann doch eine Schwester ins Zimmer und legte mich hin.
Und mit dem Ende der Schmerzen und der Hoffnungslosigkeit kam der Optimismus wieder zurück. Ich fühlte mich besser und konnte wieder auf eine bessere Zukunft hoffen. Das war natürlich eine Form der Weltflucht, weil ich ja wusste, dass am nächsten Tag alles wieder genauso sein würde, aber es hat mich zumindest aufrechterhalten.
Leider hatte ich damals meine Wunderwaffe gegen Angst und Verzweiflung noch nicht. Sie wurde mir zwar von einer Psychologin gegeben, aber ich konnte sie noch nicht richtig einsetzen. Heute beherrsche ich mein mentales Laserschwert schon ziemlich gut. Die Psychologin, Mag. Josefa, sagte zu mir, ich solle mir in Momenten der Angst immer folgenden Satz denken: "Ich beobachte meine Angst, und das macht mich größer als die Angst."
Das habe ich ausprobiert und oft gemacht, besonders in der Zeit meiner Tiefenvenenthrombose, als der Sensenmann mit hoch erhobener Klinge schon hinter mir stand. Allerdings war der Erfolg nur bescheiden. Meine Angst wurde zwar kurzfristig ein wenig verscheucht, war aber bald wieder zur Stelle, bäumte sich in mir auf, und ich fühlte mich wieder klein und hilflos.
Erst in Altenhof am Hausruck habe ich herausgefunden, dass der Satz der Psychologin nur ein wenig umformuliert werden muss, um einen regelrechten Kahlschlag gegen alle Ängste und Depressionen auszuführen. Es gibt keinen Grund, mich klein, schwach und verletzlich zu fühlen. Und warum nicht?
Ich habe alles überlebt. Zu 100%. Die schlimmsten Auswirkungen des Guillain-Barré-Syndroms, die Lebensgefahr, die Todesangst, die kleineren Ängste, die Trauer nach dem Tod meiner Mutter, die Depressionen, sämtliche Sorgen und alle Schmerzen. Alle diese Quälgeister sind vergangen, aber ich bin noch da. In jedem einzelnen Fall waren die Sepsis, der massive Blutverlust, das Nierenversagen, der Herzstillstand, der drohende Erstickungstod, das Blutgerinnsel in meinem Oberschenkel und die Angst, die mich mehr gelähmt hat als die Tetraparese...
...kleiner als ich.
All diese Zombies konnten mich nicht fressen!
Die Ängste und Sorgen sind noch dieselben. Das heißt, sie besuchen mich zwar noch, aber ich kann sie nicht mehr so gut erkennen, weil sie so klein geblieben sind. Sie sind nicht gewachsen. Ich schon. Und warum sollte ich vor Ungeheuern Angst haben, die kleiner und schwächer sind als ich? Der Weiße Hai schrumpft immer mehr zu einem Wasserfloh zusammen.
Ich habe alle Bedrohungen, Ängste und Sorgen überlebt, und das macht sie kleiner als mich. So würde ich den Satz der Psychologin formulieren. Vielleicht ein bisschen griffiger. Ich überlebe meine Feinde, und das macht mich größer als sie. Kleine Feinde können mich zwar ärgern, aber sie können mir nichts anhaben. Die Tetraparese war nicht stärker als ich, die Sepsis nicht, das Nierenversagen nicht, die Thrombose nicht und Phobos und Thanatos auch nicht. Die Angst und der Tod. Dieser Gedanke gibt mir heute viel Kraft und schenkt mir jeden Tag neuen Mut.
Und Ihnen auch! Denken Sie darüber nach, wenn Sie vielleicht auch noch nicht die Kraft haben, einen leeren Joghurtbecher aufzuheben. Der Becher ist vielleicht leer, aber Ihr Potential, ihn mit Ambrosia zu füllen ist unerschöpflich! Sie haben das Plateau hinter sich gelassen, befinden sich aber nicht auf dem Abstieg, sondern haben die Aussicht darauf, sich zu einem Höhenflug aufzuschwingen. Auch wenn Sie die Kraft dazu noch nicht haben. Noch nicht! Das wird Ihnen ein Arzt wohl nie so sagen, und das ist auch gut so. Schließlich sollen sie ja objektiv bleiben, damit sie optimal helfen können. Ich war immer froh, dass die Ärzte mir alles sachlich erklärt, mich aber trotzdem moralisch unterstützt haben, wenn es mir schlecht ging.
Darum sage ich es Ihnen jetzt! Sie sind ein Mensch, der das Guillain-Barré-Syndrom überlebt hat! Das schafft nicht jeder. Viele sterben schon in der Plateauphase. Wir nicht! Sie und ich leben noch. Wir haben viel überstanden und schaffen den Rest auch noch. Und wenn Sie den Aufschwung erst einmal selber fühlen, werden Sie verstehen, um wie viel stärker die Lebensfreude und die Zuversicht werden können. Denken Sie daran, wenn Ihnen das nächste Mal ein Krankenpfleger den Suppenlöffel zu schnell aus dem Mund zieht oder Ihnen eine Schwester die Bettdecke auf den Körper wirft wie einen Sargdeckel.
Verinnerlichen Sie diesen Gedanken und sagen Sie ihn sich immer vor, wenn es Ihnen schlecht geht und Sie den Mut verlieren:
Ich habe alles überlebt. Krankheit, Angst und Depressionen waren schwächer als mein Geist.
Sie können diese Sätze bei ruhiger Atmung immer wieder denken, flüstern oder laut aussprechen. Sie können sich auch eine Melodie dazu ausdenken und sie singen. Wichtig ist, dass sich diese Erkenntnis in Ihrem Inneren fest verankert.
Und wenn Sie wollen: Brüllen Sie!

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