Samstag, 8. April 2017

Schweinehunde

                                              
Ab jetzt heißt es, meine Angst vor dem Sturz loszuwerden. Leider habe ich kein großes Talent, wenn es darum geht, Angst durch körperliche Aktivität zu überwinden. Insbesondere dann, wenn die Angst genau davon ausgelöst wird. Wenn ich im E-Rolli sitze, die Hände an den Krückengriffen und mich zu weit nach hinten lehne, um dann mit einem Schwung nach vorne aufzustehen, verlässt mich buchstäblich in der Bewegung der Mut. Ich bremse ab und stelle fest, dass ich es so nicht schaffen kann.

"Du verbrauchst deine ganze Kraft mit den Fehlversuchen", sagt Wolfgang immer wieder zu mir. "Dei Hauptproblem is dei Oarsch. Der ziagt di imma wieda z' ruck owi. Bei mia is die Wamp' n, bei dia is da Oarsch."

Er fügt noch hinzu, dass ich meinen Schwerpunkt über die Unterstützungsfläche bringen muss. Das weiß ich. In der Theorie ist es leicht, aber in der Praxis erinnere ich mich an meinen Sturz zu Hause vor meinem Bett, mit dem alles begonnen hat. Ich kann auch den Gedanken nicht abschütteln, dass ich nach vorne kippen und mit meinem Gesicht direkt auf den Boden fallen könnte. Aber auch ein ganz normaler Sturz, der glimpflich verläuft und im schlimmsten Fall ein paar blaue Flecken verursacht, würde mich um Monate zurückwerfen. Ich will gar nicht daran denken, wie lange ich brauchen würde, bis ich wieder die ersten Schritte mache. Die Gedanken an solche Dinge können einen wirklich extrem behindern. Mich zumindest.

Ich habe schon oft bemerkt, dass ich die Übungen in der Physiotherapie leicht erledigen kann, wenn ich in der richtigen Stimmung dafür bin. Wenn ich mich stark, selbstbewusst und gesund fühle, ist das alles gar kein Problem, aber schon die geringsten Schwierigkeiten liegen mir wie Felsbrocken im Weg. Leichtes Bauchgrimmen reicht da schon aus, um das schlimmste zu befürchten. Ich habe zwar inzwischen keine Angst mehr davor, wieder im Krankenhaus zu landen und aufgeschnitten zu werden, aber die Aussicht auf stundenlange Koliken reicht mir aus, um nur halbherzig an das Training heranzugehen.

Dementsprechend gering sind dann meine Erfolge. Wenn ich schon in der Bewegung nach vorne stoppe, kann ich nicht in die Höhe kommen. Auch daran denke ich. Und dieser Gedanke bremst mich noch ein Stück. So reihen sich die negativen Gedanken zu einer schweren Kette aneinander, die mich umschlingt und daran hindert, endlich für immer aus dem Rollstuhl aufzustehen. 

Ich habe jetzt die Technik entwickelt, nach dem zurückfallen in den E-Rolli sofort einen neuen Aufstehversuch zu machen, und wenn ich es wieder nicht schaffe, gleich den nächsten. So ist es mir schon mehrmals gelungen, beim dritten Versuch hochzukommen. Das komische dabei ist, wenn ich den kritischen Punkt einmal überwunden habe, an dem sich der Schwerpunkt über die Unterstützungsfläche bewegt hat, geht es ganz leicht. Ich brauch dann fast keine Armkraft mehr, sondern kann fast nur durch die Muskelkraft in meinen Beinen aufstehen. Und sofort ärgere ich mich maßlos über mich selbst, dass ich wieder eine solche Angst vor dem hinfallen hatte, wo ich doch, wenn ich einmal auf dem Weg nach oben bin, alle Unregelmäßigkeiten in meiner Bewegung leicht korrigieren kann.

"Aufstehen!" ruft mir Wolfgang zu. "Gerade und aufrecht stehen. Den Kopf auffi."

Und so stehe ich da, ein bisschen schief, das linke Bein viel zu sehr und das rechte viel zu wenig belastend. Ich weiß nicht, ob ich mich freuen soll, dass ich es wieder einmal geschafft habe, oder ärgern, weil ich so viele vergebliche Versuche unternommen habe. Nur aus Angst, ich könnte mir beim hinfallen vielleicht ein Knie oder die Hände brechen. Ich hatte erst im November eine Handoperation, um die Kontrakturen in den Gelenken zu lösen. Gebrochene Finger sind das letzte, was ich jetzt brauchen kann. Außerdem könnte ich dann wahrscheinlich nie wieder schreiben oder zeichnen.

So kämpfe ich mich durch den engen Psychoslalom aus Optimismus, Hoffnung, Realität und Angst. Mal mehr und mal weniger erfolgreich. Und wieder einmal wird mir bewusst, dass nur die innere Einstellung dafür verantwortlich, ob man weiterkommt oder nicht. Die Hindernisse im Hirn sind schlimmer als die Stolpersteine auf der Straße.

"Da kläfft schon wieder der innere Schweinehund", sagt mein Therapeut.

Leider hat er recht, eine Eigenschaft, die ich bei Physiotherapeuten überhaupt nicht leiden kann. Andererseits will ich selber auch nicht recht haben und erleben, wie sich meine Befürchtungen erfüllen. In meiner Phantasie ist ohnehin alles viel schlimmer als in der Realität. Also mache ich weiter, immer vorwärts, Schritt um Schritt. Schließlich führt kein Weg zurück, und ich gebe gerne zu, die Freude über den nächsten großen Fortschritt ist so groß, dass ich mir im Nachhinein denke, das war die ganzen Selbstzweifel, die Angst und die gescheiterten Versuche wert.

Er hat ja recht, der Therapeut mit dem Jagdschein. Am liebsten jagt er innere Schweinehunde. Ich kann es ihm nicht verübeln, schließlich hat er mir wieder auf die Beine geholfen. Jetzt brauche ich nur noch Flügel, um richtig abzuheben.

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