Samstag, 25. März 2017

100 Jahre Superman

Als ich noch komplett gelähmt war, nahm ich mir Christopher Reeve als Vorbild. Superman hatte keine Chance, wieder auf die Beine zu kommen, aber den Kampf hat er nie aufgegeben.

Und wenn ich heute mit meinen Krücken aufstehe, kommt es mir vor, als könne ich fliegen.

In der Physiotherapie habe ich neulich Stehübungen beim Bett gemacht. Zuerst konnte ich nur wenige Sekunden freihändig stehen und bin dann nach hinten umgekippt. Ich habe mich nicht so richtig getraut, weil ich wieder befürchtet habe, dass das Training Bauch- oder Schulterschmerzen auslösen könnte. Ich bin in dieser Hinsicht wirklich ein Feigling. Aber Wolfgang war zufrieden.

Ich habe es später dreimal geschafft, jeweils etwa eine Minute freihändig zu stehen, und dabei musste ich das Gleichgewicht mit den Armen gar nicht so sehr ausbalancieren. Wolfgang hat dann gesagt, was ihm gefallen habe, war, dass ich immer, wenn ich ins Bett gekippt bin, sofort wieder aufgestanden bin. Ich habe auch kein Handtuch gebraucht. Insgesamt muss ich wohl etwa zehnmal aufgestanden sein. Er hat auch gesagt, dass ich etwas falsch gemacht habe, das mir aber nicht aufgefallen sei. 

Zum Schluß fragte er mich dann, was es gewesen sein könnte. Ich sagte, dass ich zu gerade gestanden bin. Er hat mir zugestimmt. Mit dem Oberkörper leicht nach vorne gebeugt, habe ich mehr Halt. Ich bin heute selber sehr zufrieden. Besonders, weil ich meine Angst vor dem stundenlangen Druck im Oberbauch überwunden und dann doch noch eine gute Leistung erbracht habe. 

Ich musste teilweise mein Gleichgewicht nur durch Bewegung meiner Finger korrigieren. Also muss ich viel üben. Aber dafür muss ich meine Angst vor Schmerzen loswerden. Da ist Wolfgang zwar verständnisvoll,  meint aber, ich solle mich mit wichtigeren Dingen beschäftigen. Er erinnert mich immer wieder daran, was mein höheres Ziel ist. Ganz aus dem Rollstuhl rauszukommen, ihn gar nicht mehr zu brauchen. Auch, wenn es mir oft schwer fällt, gebe ich ihm doch recht. Natürlich ist das mein höchstes Ziel, was meine Krankheit Guillain-Barré-Syndrom betrifft. Ein Bakterium, das sonst Lungenentzündungen auslöst, hat mich fast umgebracht und danach komplett lahmgelegt.

Wenn ich wieder einen Tag erlebe, in dem ich nahe dran bin, den Mut zu verlieren und mich meine Selbstzweifel quälen, denke ich daran, wie ich im Juni 2013 auf der Intensivstation gelegen bin und damit gerechnet habe, in diesem Zustand 100 Jahre alt zu werden.

Dieser Gedanke hat mich fast wahnsinnig gemacht. Ich habe mir vorgestellt, was für eine Qual es sein muss, jahrzehntelang im Bett zu liegen, gepflegt, gewendet und gepflegt zu werden. Oft hat mich diese Aussicht verzweifeln lassen, und ich habe versucht, meine Füße oder Hände zu bewegen, aber es war jedesmal vergeblich. Dann habe ich meinen Kopf zum Fenster gedreht und auf die Straße vor dem Krankenhaus geschaut. Dort gingen Menschen an einer Bushaltestelle auf- und ab. Ich habe mir gedacht, dass ich das auch einmal konnte. Auch ich bin in meiner Schulzeit auf dem Weg in die Handelsakademie oft an Bushaltestellen gestanden und habe von einer Zukunft als Filmregisseur oder Schriftsteller geträumt. Damals habe ich es gehasst, mit dem Autobus zu fahren, es war unbequem, wacklig und hat viel länger gedauert als mit dem Zug. Aber als ich da in meinem Krankenbett lag, habe ich mir gewünscht, ich könnte wieder einfach so in einen Bus einsteigen und nach Hause fahren.

Damals war es mir, als hätte mich das Schicksal in eine grauenhafte Welt gestoßen, die nur noch aus Angst, Tränen und Schmerzen bestand. Rückblickend weiß ich, dass es gibt Fälle gibt, in denen die Patienten mit Guillain-Barré-Syndrom schon im Frühstadium dieser Krankheit sterben. Sie ersticken aufgrund der Lähmung ihrer Lungen. Bei vielen Menschen verursacht das Guillain-Barré-Syndrom eine bleibende Gesichtslähmung. Es gibt also noch viel schlimmere Leidensgeschichten als meine. 
Aber die gravierendsten Spätfolgen des Guillain-Barré-Syndroms sind die seelischen. Oder psychischen, je nachdem, wie man es ausdrücken will. Von einem Tag auf den anderen zu einem Pflegefall zu werden, hat mich hart getroffen. Ebenso, Aussicht auf Heilung zu haben, aber nur theoretisch, weil sich weder die Ärzte noch die Therapeuten sicher sind. 

Ich habe mich aber nie als Opfer des Schicksals gefühlt. Die Frage, warum gerade ich, habe ich mir nie gestellt. Warum nicht ich? Natürlich halte ich mich für etwas besonderes, aber das tut jeder Mensch. Aber selbst die außergewöhnlichsten und kreativsten Köpfe ziehen sich Krankheiten zu, von denen sie sich nie wieder erholen. Christopher Reeve war einer von ihnen. In meiner Kindheit war er als Superman mein Idol. Mehr als dreißig Jahre später wurde er es wieder, diesmal aber auf eine ganz andere Art. Ich habe oft darüber nachgedacht, wie er sich wohl mit seiner Lähmung gefühlt haben muss. Er hatte keine realistische Aussicht auf Besserung, ich schon. 

Der Fall des Superman hat mich in Momenten der Verzweiflung immer wieder daran erinnert, dass es Menschen gibt, denen es nicht so gut geht wie mir. Ich lag zwar ein halbes Jahr am Rücken und wurde gefüttert, aber am Ende dieser langen Zeit bin ich querbett dagesessen und habe ein gebratenes Lachsfilet mit Messer und Gabel  gegessen, während meine Ergotherapeuten Julia neben mir saß und mich dabei unterstützte. Fünfundvierzig Minuten haben wir für zwei kleine Lachsstücke und drei Petersilienkartoffeln gebraucht. Danach habe ich mich gefühlt wie der alte Mann aus dem Roman von Hemingway, der mit seinen Händen und seiner Willensstärke einen riesigen Schwertfisch an sein Boot heranzieht. Der Kampf gegen sich selbst ist der einzige, der sich lohnt, ausgefochten zu werden.

Wenn ich daran zurückdenke, was für eine große Angst ich früher vor dem Hinfallen mit dem Gehbock hatte. Mittlerweile fühle ich mich absolut sicher, und das Aufstehen aus dem E-Rolli ist auch kein Problem mehr. Kraft fehlt mir noch, Gewicht habe ich dafür im Überfluss. Aber noch im Oktober 2015 konnte ich noch gar nicht aus dem E-Rolli aufstehen, und Wolfgang mußte mich an der Hose hochziehen. Das war eigentlich nur eine Art psychische Stütze, aber alleine habe ich es einfach nicht geschafft. Damals haben wir in meinem Zimmer trainiert, und es hat mich extrem frustriert, dass ich es nicht geschafft habe, auf die Beine zu kommen. Den Gehbock hatte ich damals noch nicht, wir haben mit einem Rollator gearbeitet. Inzwischen kann ich zwar noch nicht freihändig und ohne Gehbock aufstehen, aber das ist wohl auch nur noch eine Frage der Zeit. Wenn ich erst einmal das Gleichgewicht halten kann, wird auch das freie gehen kein großes Problem mehr sein. 

Oder bin ich da vielleicht zu optimistisch? Wolfgang hat schon die nächsten Trainingseinheiten mit den Krücken angekündigt. Aus dem E-Rolli aufstehen und so weit gehen, wie ich kann. Stehen habe ich mit Krücken ja schon im November 2016 geübt, aber dann kam meine Handoperation dazwischen, und wir mussten drei Wochen Pause machen. In diesen drei Wochen war ich so fleißig wie ein altersschwaches Faultier, habe aber nichts verlernt. Als ich dann wieder am Gehbock stand, war es zwar anstrengend, auch nur die kurze Distanz von meinem Zimmer, durch die Tür hindurch und bis zu der gegenüberliegenden Wand des langen Ganges zu schaffen. 

Der Gang ist wirklich lang, und es ist außerordentlich beeindruckend, dass ich diese Distanz geschafft habe. Allerdings nicht der Länge nach, sondern nur der Breite. Das sind ungefähr fünf Schritte. Inzwischen schaffe ich es schon mit Leichtigkeit bis zum Ende des Wäschekastens, insgesamt sind das vierzig Schritte. Ich weiß, das ist nicht viel, aber im Vergleich zu vor einem halben Jahr ist es geradezu sensationell. Damals habe ich vor jedem Gehtraining mit mir selbst Wetten darüber abgeschlossen, ob ich auf den paar Metern an einem Kreislaufkollaps oder einem Genickbruch durch unglückliches Hinfallen in die ewigen Jagdgründe eingehen werde.

Doch dann habe ich mir eine Motivationsparole ausgedacht, an die ich mich so lange gehalten habe, bis die Sicherheit und die Angstfreiheit schließlich da waren: 

"Lieber hinfallen als hinsetzen!"

Ich habe mir diesen Satz bei jedem Schritt immer wieder innerlich vorgesagt. Schließlich wollte ich ja wieder normal und ohne technische Hilfsmittel gehen können. Das rein körperliche trainieren ist da zu wenig. Auch die mentale Motivation muss da sein. Und gerade die erforderte einen zähen Kampf. 
Gekämpft habe ich nicht gegen das Guillain-Barré-Syndrom und auch nicht gegen die Tetraparese, sondern nur gegen mich selbst. Oder, besser gesagt, gegen den Teil in mir, der aus Angst und Bequemlichkeit den Zustand lieber so belassen hätte, wie er war, anstatt sich selbst mehr zu quälen, als notwendig war. 

Mein Physiotherapeut Wolfgang hat oft zu mir gesagt "Wenn du nicht mehr weiterkannst und glaubst zusammenzubrechen, dann mach noch einen Schritt." Die Wahrheit dieses Satzes war mir zwar von Anfang an bewusst, aber ich habe lange gebraucht, um diesen Extraschritt zu machen. Erst, als ich mich selbst davon überzeugen konnte, dass meine Wehwehchen im Bauch, in den Schulterblättern, in der Leiste und im vorderen Rippenbogen zwar lästig, aber harmlos sind, konnte ich trotz Schmerzen meine Gehübungen machen. Ich habe dann schnell festgestellt, dass es doch gar nicht so schwer ist, vor allem im Vergleich zu dem Zustand, in dem ich mich noch drei Jahre davor befunden hatte. Mich selbst zu zwingen, meine Gehübung zu machen und nicht auf den nächsten Tag zu verschieben, war unerlässlich für meine Fortschritte und meinen Selbstrespekt.

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