Mittwoch, 25. Oktober 2017

Tigerschritte


        

Heute habe ich in der Physiotherapie einen sehr großen Fortschritt gemacht. Das war einer der wichtigsten Tage in meiner gesamten Krankengeschichte und in der Zeit, seit ich Physiotherapie mache. Ich bin mit den Krücken vom E-Rolli zweimal bis zu meiner Zimmertür gegangen. Dabei habe ich mich nur ein bisschen unsicher gefühlt. Mit der Kraft hatte ich keine Probleme, und ich habe festgestellt, dass ich beide Beine leicht anheben kann, wenn ich mich auf die Krücken stütze. Die stehen jetzt allerdings sehr weit und schräg vor mir. Das gibt mir mehr Sicherheit. Wenn ich Sie näher am Körper halte, wird alles ziemlich wacklig. Angst hinzufallen hatte ich keine. Den zweiten Versuch habe ich mir zuerst gar nicht zugetraut, aber als ich dann unterwegs war, habe ich schnell bemerkt, dass meine Bedenken unbegründet waren und meine Kondition leicht bis zur Tür ausgereicht hat.

Wolfgang, mein Physiotherapeut, war voll des Lobes. Ich konnte ihm die Erleichterung darüber ansehen, dass er es endlich geschafft hat, mich soweit zu bringen, dass ich mit den Krücken eine kurze Distanz zurücklegen kann. Ich selber bin froh, dass der Albtraum mit den vergeblichen Aufstehversuchen, der, glaube ich, im Mai begonnen hat, endlich zu Ende ist. Alles hat sich mit dem neu aufgepumpten Sitzkissen schlagartig verändert. Ich fühle mich mit den Krücken sogar sicherer als mit dem Gehbock, weil es den Moment nicht gibt, wo ich das ganze Gerät aufheben und ein Stück nach vorne stellen muss. Das ist bei den Übungen mit dem Gehbock das schwierigste. Da muss ich immer kurz innehalten, um das Gleichgewicht zu finden und nicht nach hinten umzukippen. Das fällt jetzt weg, ich bin immer mit einer Körperhälfte gut gestützt und fühle mich dadurch sicher. Ich traue mich auch, das linke Bein anzuheben und muss nicht schlurfen.

Ich habe den Eindruck, dass ich insgesamt mehr Mut habe als noch vor wenigen Wochen. Heute habe ich den Durchbruch geschafft, den ich mir von der Reha erhofft hatte. Problemlos mit den Krücken aus dem E-Rolli aufstehen und ein paar Meter weit gehen, ohne dabei die Füße über den Boden schleifen zu lassen.

Das ist jetzt der Beginn einer völlig neuen Phase in meinem Leben. Mit ausreichend Training stehe ich jetzt kurz davor, auch längere Strecken mit den Krücken zu gehen. Ich glaube, dadurch werden meine Kraft und meine Sicherheit noch wesentlich besser werden, und vielleicht werde ich irgendwann, in nicht zu ferner Zukunft, feststellen, dass ich die Krücken eigentlich gar nicht mehr brauche, um wenigstens ein paar Schritte zu gehen.

Ich glaube, so ganz realisiert habe ich die Bedeutung des heutigen Erfolgs noch nicht. Und wahrscheinlich wird alles doch länger dauern, als ich es mir jetzt vorstelle. Da mir das gehen mit den beiden Krücken allerdings wesentlich leichter fällt als mit dem Gehbock, bin ich sehr zuversichtlich, dass ich die nächsten Fortschritte in kürzerer Zeit schaffen werde.

Das war heute das Erfolgserlebnis, nach dem ich mich so lange gesehnt habe. Ein halbes Jahr lang habe ich fast täglich versucht, mit meinen beiden metallicgrünen Krücken aus dem elektrischen Rollstuhl aufzustehen, aber es ist mir nur einige wenige Male gelungen. Und das auch nur mit allergrößter Kraftanstrengung, zittrigen Knien und der Ungewissheit, ob ich nicht am Boden landen werde, anstatt aufrecht zu stehen. Ich musste viel Schwung nehmen und mich weit nach vorne beugen, um mich dann in die Höhe zu wuchten. Ich habe nie mitgezählt, aber es gab Tage, da habe ich es bestimmt zwanzigmal hintereinander probiert, bin aber immer wieder in den Rollstuhl zurückgefallen.

Es war unendlich frustrierend und deprimierend. Ich habe geglaubt, dass ich es niemals schaffen werde, aus dem Rollstuhl wieder rauszukommen und normal gehen zu können. Und das schlimmste daran war, dass ich es mir nicht erklären konnte. Ich hatte es ja davor schon 25 Mal hintereinander geschafft.

Heute weiß ich, was das Problem ursprünglich verursacht hat. Mit dem ständigen zurückfallen in den E-Rolli habe ich mein Sitzkissen so gründlich ruiniert, dass in der vorderen Hälfte die Druckkammern total plattgedrückt waren. Mit diesem Kissen war ich auf Reha, und habe mich gewundert, warum es nicht klappen will, endlich aufzustehen. Sicher war mein hohes Gewicht von 136 Kilo auch mit schuld daran. Inzwischen wiege ich nur noch 125 Kilo, wahrscheinlich sogar noch weniger, weil ich mich das letzte mal vor zwei Wochen auf die Waage gestellt habe. Mehr als zehn Kilo weniger sind jedenfalls eine große Erleichterung beim Trainieren. 

Das Sitzkissen ist repariert, ich sitze jetzt ein paar Zentimeter höher und sehr stabil. Das scheint den ausschlaggebenden Unterschied gemacht zu haben. Ich brauche keinen Schwung mehr zu nehmen und stehe fast nur mit der Kraft meiner Beine auf. Beim gehen brauche ich dann allerdings noch sehr viel Kraft in den Armen, weil mich die Füße allein noch nicht tragen. Ich kann meine Vorfüße zwar schon besser anheben, aber da scheint noch immer ein Rest Lähmung drinzustecken. Das ist der Grund, warum ich das Gleichgewicht noch nicht halten kann. Ich kann nicht sicher und fest stehen und kippe sofort nach hinten, wenn ich die Griffe des Gehbocks loslasse. Ich glaube aber, das wird sich auch noch bessern.

Vor einer Woche war ich im Zoo im niederösterreichischen Haag. Dort bin ich etwa eine halbe Stunde im E-Rolli vor dem Tigergehege gesessen und habe eines dieser wunderschönen Tiere beobachtet. Ich habe den Tiger gezeichnet, fotografiert und kurze Videos gemacht. Er kam einige Male ganz nahe zum Zaun heran, hat mich beäugt und ist vor mir auf- und abgestreift. Wahrscheinlich hat er erwartet, gefüttert zu werden. Dann ist er auf die Spitze eines künstlich angelegten Felsens gegangen, hat sich hingelegt und geschlafen.

Es ist sehr schwer zu beschreiben, was es für ein Gefühl ist, aus so kurzer Distanz von nur wenigen Metern einem Tiger direkt in ein Auge zu blicken. Ich war durch den Zaun zwar in Sicherheit, wollte ihn aber trotzdem nicht zu lange intensiv anschauen. Ich weiß nicht, ob Zootiger aggressiv reagieren, wenn man das tut, aber sicher ist sicher. Möglicherweise übertreibe ich mit dieser Schilderung, denn mir ist klar, dass es sich um einen gezähmten Tiger in einem Tiergarten handelt. Trotzdem war ich beeindruckt, von dem festen Blick dieses Tieres und dem Ausdruck in seinen Augen. Mir kam es vor, als würde ich direkt in die pure wilde Essenz des Lebens blicken. Jagen. Töten. Fressen. Ich muss sagen, es war schauderhaft. Und gleichzeitig traumhaft schön.

In Indien sagt man, wenn man einem Tiger in ein Auge schaut, blickt man in den tiefsten Grund der eigenen Seele. Ob mir das gelungen ist, weiß ich nicht, aber ich habe zumindest einen Eindruck davon bekommen, wie es ist, absolut im Augenblick zu leben. Frei von den Bürden des Denkens, des Bewertens, des Abwägens und des Zweifelns. Nicht denken, nicht planen, nicht fürchten.

Manchmal, wenn man sehr konzentriert an einer Sache arbeitet oder meditiert, streift man diesen Zustand, in dem nichts anderes existiert als das reine, auf einen unendlich konzentrierten Punkt reduzierte Bewusstsein. Kein soll ich, darf ich, muss ich? Kein, was wäre, wenn? Oder was könnte geschehen? Auch kein besser nicht, wer weiß?

Einfach nur sein. Ewig und ohne Worte.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Hier ist Ihr Platz! Ich freue mich über Kommentare, Anregungen und Kontakte!