Samstag, 30. Dezember 2017

Schritt um Schritt

Es hat sich viel getan in letzter Zeit.

Ich kann mit Krücken zwanzig Meter weit gehen, sogar um Ecken und Kurven herum, habe in fünf Monaten zwanzig Kilo abgenommen, kann fast normal greifen, zeichnen, schreiben, tippen und essen. Mein Blutzucker hat sich wesentlich gebessert, ich brauche keine Medikamente dafür. Meine gesundheitlichen Fortschritte sind so erfreulich, dass ich mich wieder auf Kleinigkeiten und Wehwehchen konzentrieren kann, die offenbar eine Art Lückenbüßerfunktion übernehmen, weil die echten Probleme immer weniger werden.

Seit meinem Erwachen auf der Intensivstation vor viereinhalb Jahren hat sich mein Leben nicht nur total geändert, sondern es sind die wesentlichen Konstanten trotzdem gleicph geblieben. Vieles von dem, was ich verloren glaubte, habe ich mit unendlich viel Hilfe der Menschen rund um mich herum zurückgewonnen.


Die einzige noch verbleibende Krankheit ist Trägheit. Ich habe es nie verstanden, warum ich nicht von Tag eins meiner Krankengeschichte an mit Feuereifer und dem Mut der Verzweiflung dafür geschuftet habe, meine Tetraparese zu besiegen und wieder gehen und normal leben zu können. Wahrscheinlich werde ich es auch nie verstehen, aber es ist mir inzwischen egal. Es hat ja auch ohne Schinderei und fanatischem Volle-Kraft-Voraus-Gebrüll funktioniert.

Ich möchte heute die Ereignisse des vergangenen Jahres 2017 kurz Revue passieren lassen. Ich habe in letzter Zeit nicht viel gebloggt. Das liegt daran, dass der größte Teil dieses Jahres für mich sehr frustrierend war. Bis April ging es zwar noch voran, aber dann habe ich es einfach nicht mehr geschafft, mit den Krücken aus meinem elektrischen Rollstuhl aufzustehen. Auch während meiner Reha im August ist es mir nicht gelungen. Oder kaum. Ich glaube, ich habe es in vier Wochen Reha insgesamt dreimal geschafft. Von sicherem gehen könnte dabei keine Rede sein. Ich habe immer mindestens zehn Fehlversuche gebraucht, um schließlich doch noch auf die Beine zu kommen. Wenn Sie genaueres über meine Reha lesen wollen, haben Sie weiter oben in meinem Blog ausgiebig Gelegenheit dazu. Ich habe damals mein Rehatagebuch als Blogartikel veröffentlicht, in dem ich meinen Frust auf die ausbleibenden Fortschritte schildere.

Wahrscheinlich kann man sich diese Situation nicht vorstellen, wenn man sie nicht selbst erlebt hat. Über einen Zeitraum von drei Jahren habe ich kontinuierlich Fortschritte gemacht, zugegeben mit Ach und Krach, aber doch Fortschritte. Und auf einmal, als wäre ich aus der Realität in einen Albtraum aus einer Parallelwelt gerutscht, war es mir nicht mehr möglich, mich mit meinen beiden Unterarmstützkrücken aus dem E-Rolli hochzustemmen. Mit dem wackligen Gerüst namens Gehbock hat das hingegen gut funktioniert.

Fast jeden Tag habe ich von Ende April bis Anfang September versucht, von dem Sitzkissen in meinem E-Rolli aufzustehen, aber geschafft habe ich es vielleicht zehn mal bei hunderten Fehlversuchen. Entweder hatte ich nicht genug Kraft in den Beinen, um die Hürde zwischen sitzender und stehender Position zu überwinden, oder ich hatte Schmerzen vom falschen trainieren, meistens aber habe ich mich nicht getraut, mich weit genug nach vorne zu beugen, um aufstehen zu können. Einmal habe ich sogar versucht, eine neue Aufstehtechnik zu entwickeln. Ich habe die Krücken hinter mir, etwa in Höhe der Rückenlehne platziert und habe mich auf diese Art mehr schlecht als recht in die Höhe gewuchtet. Wenn ich es dann aber geschafft hatte und aufrecht vor meinem Rollstuhl stand, hatte ich ein völlig neues Problem, auf das ich nicht vorbereitet war.

Die Krücken waren jetzt so weit hinter mir, dass ich nach hinten gelehnt schief dastand und es unmöglich schaffte, meine Arme mit den Krücken nach vorne zu bewegen, um mich an den Krücken vor mir abstützen zu können. Ich habe es natürlich auch so gut wie nie geschafft, auch nur einen einzigen Schritt zu machen oder wirklich sicher zu stehen. 

Es war wie verhext, und ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass es für mich der reinste Albtraum war. Ich bin fast ein halbes Jahr lang jeden Tag mit dem Gedanken aufgewacht, heute muss ich wieder mit den Krücken aufstehen, aber ich werde es wieder nicht schaffen.

Dabei habe ich mich wirklich bemüht. Ich hatte immer Angst, beim aufstehen nach vorne umzukippen und mich dabei zu verletzen. Ich könnte mir ja einen oder mehrere Knochen brechen oder vielleicht sogar das Genick und dann den Rest meines Lebens ohne einen einzigen funken Hoffnung auf Heilung vom Hals abwärts gelähmt zu sein und zu bleiben.

Diese Gedanken rasten wie ein Flächenbrand durch meinen Kopf. Und zwar genau in den paar Sekundenbruchteilen kurz bevor ich aufstehen sollte. Es war zum verzweifeln, zum aus der Haut fahren. Ich weiß nicht, wie ich diese monatelang anhaltende Situation überzeugend schildern soll. Es hat einfach nicht und nicht und wieder nicht geklappt, meinen Hintern aus dem Rollstuhl zu schwingen und ein paar Schritte voran zu machen.

Ich glaube, mein Physiotherapeut war schon am Rande eines Nervenzusammenbruchs, aber er hat es sich nicht anmerken lassen. 

Jeden Montag und Mittwoch dieselbe Prozedur: Krücken nehmen, mich im E-Rolli nach vorne beugen, Füße nach hinten ziehen. Etwas Schwung nehmen und mich regelrecht voran in den Abgrund zu stürzen.

Aber nicht weit genug. Angst. Hinfallen. Hals brechen. Gelähmt für immer. Nur noch ein Kopf zu sein. Keinen Körper mehr zu haben. Nur nach links und rechts schauen können. Gefüttert werden. Das habe ich exakt so länger als ein halbes Jahr erlebt, allerdings mit zunehmender Verbesserung meiner Lage. Wenn ich jetzt aber hinfalle, dachte ich mir, wird es nicht so glimpflich ausgehen. Dann werde ich für immer starr im Bett liegen und den Kopf ein wenig nach links drehen, um ein bisschen aus dem Fenster schauen zu können. Blauer Himmel. Wolken, Baumkronen. Sonst nichts. Ein Stückchen Hoffnung direkt vor meinem Zimmer.

Das waren keine übertriebenen Ängste. Ich erinnere mich noch sehr genau daran, wie es zu Beginn meiner Erkrankung mit dem Guillain-Barré-Syndrom war. Nämlich genau so. In meinen Träumen konnte ich gehen. Ich habe Spaziergänge über Wiesen und durch Städte unternommen. Ich war oft schwimmen. Ich war ein freier Mensch auf eigenen Beinen.

Bis ich aufwachte. Dann war ich wieder nur ein Kopf. Das wollte ich nie wieder erleben. Besser, den Rest meines Lebens im elektrischen Rollstuhl durch die Landschaft zu düsen, als im Bett zu liegen und an die weiße Zimmerdecke zu starren. 

Neulich habe ich es zum ersten Mal geschafft, ohne Pause mit den Krücken von meinem Zimmer bis in den Speisesaal zu gehen. Das sind ungefähr zwanzig Meter. Es war sehr anstrengend, aber je weiter ich schon war, desto weiter wollte ich noch kommen. Als ich es dann bis in die Mitte der Halle geschafft hatte und bemerkte, dass ich nur unsicher war, aber keineswegs erschöpft, habe ich mich zusammengerissen und bin die letzten paar Meter auch noch gegangen. Zum Schluss habe ich den linken Fuß schon sehr nachgezogen und musste mich sehr konzentrieren, ihn hoch genug anzuheben, damit ich nicht über die Fugen zwischen den Fliesen am Boden stolpere. 

Als ich dann im Speisesaal wieder in meinem E-Rolli saß, war ich unglaublich stolz auf mich. Ich war so glücklich, dass ich diese riesige Hürde endlich genommen hatte. Nicht einmal mit dem Gehbock habe ich es in einem Durchgang bis in den Speisesaal geschafft. Nur beim aufstehen hatte ich wieder Probleme und habe mich dann gleich dazu entschlossen, die Sitzfläche des E-Rolli etwas anzuheben. Mein Physiotherapeut Wolfgang hat das zwar nicht gefallen, aber er ließ es mich machen. Später war er dann aber sehr zufrieden mit mir. Ich glaube, er hat sich sogar gewundert, dass ich das heute geschafft habe. Er war fast sprachlos. Jetzt soll ich das aufstehen mit den Krücken trainieren. Ich glaube ja, dass wieder viel zu wenig Luft im Sitzkissen ist, aber probieren werde ich es trotzdem.

Kurz vor Weihnachten habe ich meine abendliche Gehübung zum ersten Mal mit Krücken gemacht. Ich wollte eigentlich aus meinem Zimmer hinaus bis zur gegenüberliegenden Wand neben dem Bad gehen, fühlte mich dann aber noch vor der Tür zu unsicher. Ich setzte mich wieder in den E-Rolli und fuhr zum Bett. Vielleicht ist die Uhrzeit nach 18 Uhr einfach nicht mehr geeignet für solche Anstrengungen. Ich hatte noch einen Muskelkater von der Physiotherapie zwei Tage zuvor. Dadurch habe ich mich schon bei den ersten Schritten nicht getraut, das rechte Bein richtig zu belasten. Dann habe ich das linke wieder mehr nachgezogen als angehoben, und die Kraft in den Händen ist mir auch noch ausgegangen. Nach und nach wird das immer einfacher werden. Ich wünsche mir zwar, dass es nicht zu schnell geht, aber ich will gleichzeitig so schnell wie möglich wieder normal gehen können. Ich höre schon lange nicht mehr auf Fragen wie "Was ist normal?" oder auf Aussagen wie "Vollständige Heilung gibt es nicht".

Ich bin jetzt fest dazu entschlossen, wieder so normal wie früher gehen zu können. Ich will alles tun, um mir meine Träume doch noch zu erfüllen. Wieder gehen zu können und auch ansonsten körperlich gesund zu sein. Geistig sowieso.

Manchmal reduziert einen das Leben auf die einfachen Dinge. 

Erst vor vier Wochen habe ich in der Physiotherapie meine beste bisherige Leistung erbracht. Ich bin in einem Durchgang bis hinter die zweite Bodenmarkierung in der Halle gegangen. Es ist mir schon leichter gefallen als am Montag. Mitten auf dem Gang, etwa auf halber Höhe des Wäschekastens habe ich bemerkt, dass es fast gar nicht anstrengend ist. Ich bin erst auf den letzten paar Metern ins schwitzen geraten. Ich war eher besorgt, vielleicht doch zu stolpern und hinzufallen. Dabei sind nicht mehr die Fliesenfugen das Problem, sondern meine generelle Unsicherheit. Allerdings fühle ich mich mit den Krücken viel sicherer als mit dem Gehbock. Das liegt wohl daran, dass ich auf den Krücken mein Gewicht besser verlagern kann. Auch falsche Bewegungen lassen sich besser ausgleichen, und es ist nicht so eine Belastung für den ganzen Körper, nur eine Krücke nach der anderen anzuheben und einen Fuß vor den anderen zu setzen, als das ganze Gestell des Gehbock anzuheben und nach vorne zu wuchten. Obwohl der aus Aluminium und überhaupt nicht schwer ist. Auch die Art der Fortbewegung ist mit den Krücken viel natürlicher. Mit dem Gehbock mache ich immer nur einen Schritt nach vorne und steige dann mit dem anderen Bein nach. 

Letztlich stehen dann beide Füße fast nebeneinander. Das hat schon meine Physiotherapeutin am Gmundnerberg im vergangenen August kritisiert. Damals habe ich mich maßlos darüber geärgert, heute weiß ich, dass sie recht hatte und ich es doch viel besser kann. Ich glaube fast, dass es ihr gefallen würde, was ich heute alles zustande bringe. Ich will gar nicht daran denken, was ich während der Reha alles geschafft hätte, wenn ich das Sitzkissen meines E-Rollis rechtzeitig hätte in Ordnung bringen lassen. Das defekte, vorne total abgeflachte Kissen war der Grund, warum ich es damals nicht geschafft habe, mit den Krücken aufzustehen. Heute habe ich es beim zweiten Versuch geschafft. Es wäre auch beim ersten Aufstehversuch kein Problem, wenn ich mich von Anfang an trauen würde, mich ein Stückchen weiter nach vorne zu bewegen. Na ja, was vorbei ist, ist vorbei. Aus Schaden wird man klug. Ich stelle gerade mit größtem Entsetzen fest, dass ich mich in die Niederungen der abgedroschen Volksweisheiten begebe.

Zeit, dass es wieder bergauf geht. Nicht nur physisch, sondern auch verbal. Geht nicht, kann ich nicht, schaff' ich nicht, will ich nicht, diese Sätze gehören für mich wieder einmal der Vergangenheit an. Das war zwar schon einige Male so, und ich habe geglaubt, ich stünde vor der endgültigen Heilung mit Pauken und Trompeten und jubelnden Therapeutinnen, gestärktem Selbstbewusstsein, einem breiten Grinsen im sonnengebräunten Gesicht, mit Tusch, Feuerwerk und am Abend mit Beleuchtung.

War dann halt nicht so. Auch egal. Aber jetzt. Jetzt erst recht!

Was ich jetzt brauche, ist ein bisschen mehr Standsicherheit. Richtiges Vertrauen in meine Füße und meinen Körper. Unerschütterliche Kraft. Like a Rock, um es mit einem Song von Bob Seger zu sagen.

Apropos Musik...Hier eine kurze Liste der musikalischen Titel, die mich in den vergangenen viereinhalb Jahren durch die Zeit meiner Krankheit begleitet haben und für mich eine Kraftquelle waren:

I' m Still Standing (Elton John)
Like a Rock (Bob Seger)
Tougher Than The Rest (Bruce Springsteen)
River of Dreams (Billy Joel)
Wonderful Life (Black)
Island In The Sun (Alexia Gardner)
A Whiter Shade of Pale (Annie Lennox)
Wonderful World (Louis Armstrong)
What Are You Waiting For? (Nickelback)
Some Die Young (Laleh)
Riders On The Storm (The Doors)
Bridge Over Troubled Water (Simon & Garfunkel)
I Don' t Want to Miss a Thing (Aerosmith)
Glück, das mir verblieb (Josef Schmidt)
Cavalleria Rusticana: Intermezzo (Pietro Mascagni)
Kein Zurück (Wolfsheim)
Bad Moon Rising (Creedence Clearwater Revival)
Krieger des Lichts (Silbermond)
I Still Haven' t Found What I' m Looking For (U2)
I Can' t Dance (Genesis)
Land unter (Herbert Grönemeyer)
Cryin' In The Chapel (Elvis Presley)
I Don' t Care Anymore (Phil Collins)
Have You Ever Seen The Rain (Creedence Clearwater Revival)
Here I Go Again (Whitesnake)
I' m Walking (Fats Domino)

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