Samstag, 19. Mai 2018

Im Kunstmuseum




Ich war im Museum. Lentos in Linz. Klimt, Schiele, aber auch viele andere bedeutende und nicht so bedeutende Künstler. Manche verdienen die Bezeichnung Künstler nicht einmal. Andere habe ich neu entdeckt. Zugegeben, ich mochte Schiele nie besonders, aber das hat sich geändert, als ich im Museum die Originale seiner Bilder gesehen habe. Sie strahlen auf sehr kraftvolle Art pure menschliche Verzweiflung aus. Und in den Frauenportraits von Gustav Klimt begegne ich vollkommener und anmutiger Schönheit.




Mit meiner Krankheit hat das zwar nichts zu tun, zumindest nicht direkt, aber ich berichte davon, weil es mich jedesmal eine große Überwindung kostet, solche Ausflüge zu unternehmen, und das hat durchaus mit meiner Krankheit zu tun. Das Guillain-Barré-Syndrom habe ich zwar schon lange überstanden, und es sind nur noch ein paar Lähmungserscheinungen in meinen Füßen davon übrig, allerdings hindern mich genau die daran, frei gehen zu können. Es ist jetzt fünf Jahre her, dass ich die Krankheit bekommen habe. Zwar bin ich davon überzeugt, dass diese Lähmungen auch noch verschwinden werden, aber trotzdem frustrieren und deprimieren sie mich immer noch sehr.

Ich bin schon so nahe an der vollständigen Heilung dran, aber meine Füße wollen noch immer nicht mitspielen. Ich kann zwar schon ganz gut frei stehen und auch im Stand die Krücken ein paar Sekunden anheben, aber das alles ist immer noch eine sehr wacklige Geschichte, und wenn ich mich nicht sehr konzentriere, das Gleichgewicht zu halten, kippe ich einfach nach hinten um. Immer noch. Trotzdem bleibe ich optimistisch.

Ich weiß, dass es möglich ist, die Lähmung des Guillain-Barré-Syndroms vollständig zu überwinden und wieder normal gehen zu können, und darum verliere ich den Mut nicht. Manchmal bin ich aber nahe dran. Momentan sind meine orthopädischen Schuhe in der Reparatur, weil ich neue Sohlen brauche, die nicht so rutschen. Also trage ich inzwischen grüne Jägerschuhe, die mir mein Physiotherapeut schon vor Jahren gegeben hat. Die Schuhe sind gut, nur, wenn ich aus dem E-Rolli oder aus dem Bett aufstehe, knickt mein linker Fuß nach innen und hindert mich daran, normale Schritte zu machen. Also muss ich mich sehr auf meine Krücken stützen. An sich ist das kein Problem, und ich schaffe es auch vom Bett in den E-Rolli, aber es zeigt mir, dass ich von einem normalen freien gehen noch meilenweit entfernt bin. Das ist sehr deprimierend. Ich habe mir mehr erhofft und geglaubt, wenn ich meine Gehübungen mit den Krücken und den normalen Schuhen mache, würde das auch gut klappen, aber davon kann keine Rede sein. Das lässt mich natürlich daran zweifeln, jemals wieder einen Fuß vor den anderen zu setzen, wie ich es früher gemacht habe. Trotzdem gebe ich die Überzeugung nicht auf, dass ich irgendwann wieder über die spitzen Felsen in Kroatien werde gehen können, barfuß oder mit Flip-Flops, und keinen Gedanken darauf verschwenden werde, ob ich auf dem glitschigen grünen Seetang ausrutschen könnte. Jetzt gerade, während ich darüber schreibe, erscheint es mir unvorstellbar, dass das für mich früher völlig normal war. Zugleich erinnere ich mich sehr bildhaft daran und kann das Gefühl, über die harten Steine zu gehen so nachvollziehen, als wäre ich jetzt dort.

Der Besuch im Museum Lentos in Linz war schön. Es hat mich sehr fasziniert, die Zeichnungen und Skizzen von Gustav Klimt und Egon Schiele so unmittelbar und direkt vor mir zu sehen. Platz war auch genug, um mit dem E-Rolli umherzufahren. Ich habe viele der Bilder fotografiert und Videos gemacht. Auch einige Selfies mit den Bildern im Hintergrund. Zwei Siebdrucke von Andy Warhol waren ebenfalls dabei, ein Portrait von Caspar David Friedrich, das mich besonders beeindruckt hat und viele andere berühmte Künstler, deren Werke teilweise wild durcheinandergemischt waren. Eine kleine Tuschezeichnung von Goya und, in einem anderen Raum, das riesige Marilyn Manson Portrait mit weißen Mickey Mouse Ohren von Gottfried Helnwein. Ein besonders eindrucksvolles Bild, insbesondere, weil es so riesig und bis ins kleinste Detail fotorealistisch gemalt ist. Toll. Viele schöne Eindrücke, aber besonders die Tatsache, dass die Bilder dieser großen Künstler zum greifen nahe waren, hat mich sehr begeistert. Ich weiß, wie es ist, ein Blatt vor sich liegen zu haben und dann mit Bleistift darauf zu zeichnen. Genau dasselbe hat Klimt mit den vielen Aktskizzen gemacht. Er hat ein Blatt Papier genommen und hat gezeichnet. Ich weiß genau, wie er sich dabei gefühlt hat. Für mich war es, als würde der Künstler neben mir stehen und ich könnte ihm beim zeichnen zusehen. Vielleicht muss man selbst ein Zeichner sein, um zu erkennen, in welche Richtung Klimt seine minimalistischen Linien gezogen hat. Einige der Bilder habe ich in meinen kleinen Taschenkalender abgezeichnet. Am liebsten hätte ich das mit allen gemacht, aber soviel Zeit und Geduld hatte ich dann doch wieder nicht. Geärgert habe ich mich darüber, dass ich mein ursprüngliches Vorhaben, ein richtiges Skizzenbuch mitzunehmen, im letzten Moment verworfen habe, weil ich mir gedacht habe, im Museum wird es sicher sehr hektisch zugehen, und ich werde gar keine Gelegenheit haben, dort zu zeichnen. Naja, jetzt habe ich halt ein paar Klimt- und Schiele-Skizzen in einem linierten Kalender. Trotzdem ein schönes Andenken, aber noch viel besser ist die Tatsache, dass ich diese paar Zeichnungen nach den Originalgrafiken dieser beiden Künstler gemacht habe. 

Mein Krankenpfleger Josef und ich waren etwa zwei Stunden im Museum. Für Rollstuhlfahrer ist zwar genug Platz, um sich alles anzusehen und gut zurecht zu kommen, aber die Aufzüge sind ein Witz. Dass Liftkabinen eng sind und wackeln, bin ich ja gewöhnt, aber dass man durch enge graue Korridore manövrieren muss und dabei den Eindruck hat, man wäre unterwegs in den Zellentrakt eines unterirdischen Hochsicherheitsgefängnisses, habe ich noch nie erlebt. Gut, dass ich keine Platzangst habe, ein Mensch mit Klaustrophobie würde dort durchdrehen. Rein technisch gesehen ist es wohl gerechtfertigt, dass das Lentos auf seiner Internetseite mit Barrierefreiheit wirbt. Die eigentlich Barriere ist allerdings das Gefühl der Beklemmung, wenn man durch diese Gruft fährt. Die beiden schweren Türen hätte ich alleine übrigens nicht aufgebracht. Wenn ich es so betrachte, ist der Zugang aus der Tiefgarage des Museums Lentos in Linz alles andere als barrierefrei. Schade. Witzig ist, dass man im Museum Lentos in Linz, wenn man mit den Knastlift aus der Unterwelt der Tiefgarage in die Ausstellungsräume gelangen will, zuerst noch im Regen einen weiten Platz und eine Straße überqueren muss, bevor man in das eigentliche Museum gelangt. Normalerweise befindet sich eine Tiefgarage nicht außerhalb eines Gebäudes. 

Dort findet man sich in einem großen Raum wieder, in dem, ich kann es nicht anders ausdrücken, kitschige Souvenirs verkauft werden. Aber auch schöne Bücher, Bildbände natürlich, mit Werken von Klimt und Schiele natürlich, aber auch Kunstpostkarten, Geduldspiele, Fidget Spinner für das Fingertraining, ein Kartendeck mit den besten Bieren der Welt, Pocket Quizkarten zu unterschiedlichen Themen, Klimt-Bleistifte, Klimt-Spieluhren (habe ich mir gekauft, ist echt schön), Klimt-Lesezeichen, Klimt-Magneten für den Kühlschrank, Klimt-Radiergummis, zwischendurch irgendwas von Koloman Moser, damit der Künstler nicht in Vergessenheit gerät, den schon vor dieser Ausstellung niemand gekannt hat. Ach so, nicht zu vergessen Star-Wars-Figuren. Storm Trooper. Was die in einem Museum zu suchen haben, bleibt mir schleierhaft. Wenn sie wenigstens eine C3PO und einen R2D2 gehabt hätten, aber nein, Storm Trooper. Boba-Fett-Klone. Und Yoda? Wo ist Yoda? 

Ich fahre mit meinem E-Rolli durch die Hallen des Museums, vorbei an komischem Gekritzel, die so aussehen wie meine Schmierzettel, wenn ich male, riesigen Bildern mit schwarzen Streifen, wie ich sie in meiner Ausbildung zum Grafiker mit Tusche auf Papier gezeichnet habe, um das genaue arbeiten mit solchen Mustern zu lernen. Striche, Balken, Dreiecke, Rechtecke, coole optische Täuschungen mit höchstem künstlerischen Anspruch oder so ähnlich. Ich will damit sagen, dass viel, was heutzutage am Kunstmarkt zu horrenden Preisen gehandelt wird, in Wirklichkeit nichts anderes ist als uninspirierter seelenloser Mist. Gipsköpfe mit Farbflecken drauf. Büste einer Frau mit Einhorn, ein kleiner, schlampig und lieblos zusammengeschusterter Pappmachéschädel mit einem langen Horn mitten am Kopf. Dann ein Bild,  bestehend aus einer großen lila oder purpur oder so Fläche mit einem schwarzen Quadrat in der Mitte. Mein Pfleger fragt mich, ob es bei solcher Kunst darum geht, die Leute zu verarschen. Nein, es geht um Dekonstruktivismus. Oder ist dieses Bild vielleicht doch nur auf eine Leinwand gepinselter Schwachsinn? Ohne Aussage und in billiger Ausführung, nicht einmal als Tapetenmuster brauchbar.

Und dann,  mittendrin unter diesem ganzen Schrott - BUMM! -, ein kleines Ölportrait von Caspar David Friedrich, fast schon in Bodenhöhe aufgehängt. Irgendein Edelmann, der meinem Cousin ähnelt. Ein unscheinbares Bild, aber von einer beseelten Lebendigkeit, dass ich es mir am liebsten stundenlang angesehen hätte. Der Blick und diese Augen und die Feinheit der Malerei. Wobei ich zugeben muss, das riesige schwarze Kreuz von Arnulf Rainer hat auch etwas. Schwer zu beschreiben. Riesig, klobig, schwarz mit ein paar Farbklecksen. Aber eindrucksvoll. Erschütternd, bedrohlich, aber getragen von der Hoffnung auf Erlösung von diesem menschlichen Dasein. Schön. Ein wunderschönes Memento Mori. Eine übergroße schwarze Fläche, die mehr Inspiration und Licht ausstrahlt als so manches dämliche Neonröhrendings in einem der anderen Räume.

Ziemlich viele schöne Frauen. Nicht an die Wand gehängt, sondern echte lebendige Frauen, die einen Hauch intellektueller Erotik versprühen. Als würden sie nur darauf warten, aus der elitären Langeweile der akademischen Welt auszubrechen. Einfach durchbrennen mit einem coolen E-Rolli-Piloten. Endlich frei sein! Endlich leben! Moment, ich glaube, meine Phantasie geht mit mir durch. Aber mal im Ernst...Wer richtig scharfe Bräute aller Altersklassen kennenlernen will, sollte ins Museum gehen. Dort findet man keine übriggebliebenen Mauerblümchen mit Zahnspangen aus Stacheldraht und einem Überbiss zum Kokosnüsse knacken. Nein, im Kunstmuseum begegnet man jenen rätselhaften weiblichen Wesen, die, gespielt desinteressiert, einen kurzen Seitenblick unter ihrer schwarzen Nerdbrille auf den Easy-Rolli-Rider werfen. Vielleicht rede ich mir da was schön, aber wenn ich besser zu Fuß unterwegs wäre und keinen Krankenpfleger im Schlepptau hätte, würde ich die Mädels fragen, ob sie bei einem Kaffee die unbestreitbaren Vorteile und die klare Schönheit der Farbenlehre des Johannes Itten auch dem stümperhaften und uninspirierten Dilettantismus des Johann Wolfgang von Goethe vorziehen. Als Dichter spitze, aber als Zeichner und Maler eine Lachnummer. Googelt Sie mal nach Gemälden von Goethe. Viel Spaß!

Dann noch mit Josef im Kaffeehaus des Museums gewesen. Auch das außerhalb des Hauptgebäudes. Dafür ist der Platz dazwischen überdacht. Zu regnen hat es inzwischen aufgehört. Es ist stark bewölkt. Wenn die Donau in Linz nicht sowieso ein vollkommen vergesseswerter Anblick wäre, könnte man fast enttäuscht sein. Josef und ich essen Schinken-Käse-Toaste. Er trinkt einen Kaffee, ich ein Bier. Der Toast schmeckt, obwohl er mir ein bisschen leid tut, weil er von einem riesigen Haufen Salat beinahe erdrückt wird. Der Anblick des Tellers erinnert mich ein bisschen an das Gemälde mit der Welle und dem Fischerboot von Hokusai. Wenn dieser Toast lebendig und der Salat eine Naturgewalt wäre, hätte er keine Überlebenschance. Schmeckt aber trotzdem. 

Zurück ins finstere Reich des Höllenhundes Zerberus, durch den mausgrauen Gang mit den vielen Wasserflecken, ich mit dem E-Rolli rückwärts aus der sardinendosenartigen Liftkabine fahrend, weil nicht genug Platz zum wenden ist. Trotzdem fahre ich mit Vollgas (9 km/ h), weil der Korridor so eng ist, dass es unmöglich wäre, mit einem elektrischen Rollstuhl aus der Bahn zu geraten. Wieder in der Tiefgarage. Unheimlich, dort. George A. Romero hätte seine Freude gehabt. Vor meinem inneren Auge sehe ich die Zombies, wie sie unter den Neonlichtern durch die düstere Halle wanken. Oder es leuchten plötzlich Scheinwerfer auf, und sie steht vor einem. Christine, das böse Auto von Stephen King.

Als wir schließlich losfahren, schaue ich mir die Autos an, die in der Tiefgarage geparkt sind. Ist die Menschheit in eine kollektive Depression gefallen, oder warum sind alle Autos schwarz? Gut, ein paar graue sind dabei, aber Farbtupfer sucht man vergeblich. An Farben fehlt' s im Revier, würde Goethe sagen (der als Dichter wirklich einmalig war). Ich frage mich, was all die Menschen, die in schwarzen Autos unterwegs sind, sehen, wenn sie ein Museum besuchen. Wegen der Farben gehen sie sicher nicht hin. Die kriegen wahrscheinlich einen riesigen Schreck, wenn sie Andy Warhols Maoportrait sehen. Aber nicht aus politischen Gründen, sondern weil ihr Leben ein Rorschachtest mit plötzlichem Farbschock ist.

Stau auf der Autobahn. Lange nicht mehr erlebt. Es fehlt nur die unerträgliche Sommerhitze und der Gestank von flirrendem Asphalt. Dafür regnet es jetzt. Irgendwie schön. Mein Leben, fast so, wie es früher einmal war. Nicht, weil es da immer geregnet hat, sondern weil ich mich in einem Zustand befinde, von dem ich längst vergessen hatte, dass es ihn gibt. Ein Stück alltägliche Normalität. Natürlich bin ich müde, und natürlich möchte ich in mein Krankenbett mit elektrisch aufstellbarem Rückenteil und Galgen über dem Kopf. Schlafen, und wenn ich Glück habe, von spitzen Felsbrocken und dem Meer träumen. Aber auch ein Stau im Regen hat seinen Reiz.

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