Samstag, 11. August 2018

Von Gnus und Elefanten



Oft wünsche ich mir, ich könnte mit meinen Fortschritten Schritt halten. Ich stoße auf wenig Verständnis, wenn ich sage, dass ich manchmal glaube, den Anforderungen des Gehtrainings nicht gewachsen zu sein. Ich habe immer noch Angst davor hinzufallen, allerdings nicht mehr annähernd so extrem wie noch vor zwei Jahren. 


Neulich hatte ich zwei Tage Fieber, ein grauenhaftes Hitzegefühl am Kopf, Kopfschmerzen und Schweißausbrüche bei den kleinsten Bewegungen. Am dritten Tag ging es mir wieder gut, aber ich habe bei meiner Gehübungen von meinem Zimmer auf den Gang hinaus und bis zum Kaffeetisch auf meiner Wohnebene geglaubt, ich würde zusammenbrechen. Nicht stolpern, sondern vor Erschöpfung. Dabei bin ich nur zehn Schritte gegangen und habe schon bei meiner Zimmertür den Rückzug angetreten, hoffend, ich würde es noch bis ins Bett schaffen ohne hinzufallen. Geschafft habe ich das zwar, aber Spaß macht das Training auf diese Art nicht. An solchen Tagen ist es nur eine elendige Quälerei. 

Wenn es mir aber gut geht, mache ich dieses Training inzwischen gerne, weil ich schon deutlich mehr Kraft in den Beinen habe als letztes Jahr am Gmundnerberg. Die würden dort schön staunen, wenn sie mich jetzt sehen könnten. Neulich hat mich eine Krankenpflegerin hier auf meiner Wohnebene gesehen, wie ich alleine mit den Krücken unterwegs war. Später, bei der Abendpflege, hat sie sich vor Begeisterung regelrecht überschlagen. Seit wann ich so mutig bin, und ich habe meinen Augen nicht getraut, und Respekt, und Hut ab und alle Achtung und so weiter. Ich habe mich darüber sehr gefreut, obwohl ich zu cool bin, mir soetwas anmerken zu lassen.

Ursprünglich habe ich diesen Blog begonnen, weil ich Leidensgenossen mit dem Guillain-Barré-Syndrom Erfahrungsberichte aus der Sicht eines Patienten zur Verfügung stellen und ihnen Mut machen wollte. 28.000 Seitenklicks sprechen dafür, dass mir das ganz gut gelungen ist. Ich bekomme zwar nicht viele Rückmeldungen, aber das stört mich nicht sehr. Die Anzahl der Aufrufe ist mir Beweis genug, dass viele Menschen meine Berichterstattung zum Leben mit dem Guillain-Barré-Syndrom nützlich finden. Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich auf der Intensivstation war und mir mehr Informationen über diese Krankheit gewünscht habe. Damals war ich aber noch vollständig gelähmt, und meine einzige Abwechslung war der Blick aus dem großen Fenster auf den Platz vor dem Krankenhaus und auf den Dialyseapparat, an dem ich mein Blut durch einen Schlauch habe fließen sehen. 

Ich verstehe den Unmut meines Physiotherapeuten darüber, dass ich zu wenig trainiere. Er gibt sich viel Mühe, und grundsätzlich verstehen wir uns gut. Es ist auch kein Wunder, wenn es ihn stört, dass ich seine Therapiepläne- und Vorschläge einfach so abändere, wie ich gerade lustig bin. Ich bewundere Wolfgang dafür, dass er mich nicht schon längst aufgegeben hat und bin ihm dafür sehr dankbar.

Einmal, als wir eine Übung machten, in der es darum ging, die Innenrotation meines linken Beines zu stärken und ich den ausgestrecktem Fuß auf einem Hocker liegen hatte, sagte er, so, wie ich im E-Rolli sitze, sehe ich aus wie ein junges Gnu. Ich betrachte das als Kompliment, obwohl ich gar nicht gewusst habe, dass junge Gnus mit E-Rollis unterwegs sind. 

Und Spaß macht die Physiotherapie ja auch. Manchmal. Kürzlich bin ich mit meinen Krücken über eine Holzstufe gestiegen und habe mit einem Bein eine balancierende Bewegung nach hinten gemacht, um nicht hinzufallen. Wolfgang hat mir wieder die Geschichte erzählt, wie er einmal im Zoo einen Elefanten beobachtet hat, der mit seinem Rüssel ein Blatt von einem Baum pflücken wollte. Der Vergleich mit dem jungen Gnu ist mir zwar lieber, aber okay. Der Elefant konnte das Blatt nicht erreichen, weil er nicht über den Wassergraben drüberkam. Also hat er mit einem Bein einen Ausfallschritt nach hinten gemacht und konnte so das Blatt problemlos in seinen Besitz bringen. Daran habe ich meinen Therapeuten also erinnert. Kein Problem, ich mag Elefanten. Sie sind sehr kluge Tiere, und ich bin ein Fan der indischen Elefantengottheit Ganesha. Der war ja auch ein Schriftsteller und hilft außerdem beim ebnen von wegen und dem beseitigen von Hindernissen. Und Glück bringt er auch und ist ein Symbol für Intelligenz und Bildung. Gefällt mir. 

Ihm verständlich zu machen, warum mir das Training oft so schwer fällt, ist allerdings sinnlos. Ich will nicht herumjammern und immer wieder die mittlerweile fast überwundene generalisierte Angststörung (GAD) als Grund nennen. Meine Überzeugung, beim nächsten Schritt werde ich hinfallen und mir einige Knochen brechen, hält er für eine reine Kopfsache, was sie ja auch ist. Aber es ist leider unmöglich, sie loszuwerden. Ich glaube, solange die Angst vor einem neuen Zusammenbruch, wie damals 2013, sosehr im Vordergrund steht, werde ich nicht sehr weit kommen. Ich habe sowieso große Probleme damit, meinem Körper zu vertrauen. Das kommt noch aus der Kindheit. Ich war immer der Dicke und Unsportliche, habe mich schnell erkältet, und der Turnunterricht in der Schule war für mich jedesmal wie eine Hinrichtung. Verstanden haben das weder meine Mitschüler, noch die Turnlehrer, die nichts im Kopf hatten außer ihren Trillerpfeifen.

Egal, das ist vorbei. Schwamm drüber. Oder doch nicht? Für mich gibt es keinen Zweifel, dass der Schulsport und der damit einhergehende Spott und die Verhöhnungen meiner sportlichen Mitschüler, die Saat des Bösen ausgestreut haben. Ich würde praktisch meine ganze Kindheit und Pubertät über zu der Überzeugung erzogen, dass mein Körper, zu plump, zu träge, zu faul und zu fett sei. Dieses Selbstbildnis schleppe ich heute noch mit mir herum. Es gibt sie, die Zeitmaschine, mit der man in die Vergangenheit reisen kann. In meinem Fall ist es die Erinnerung an die Schulzeit. 

Vielleicht gefällt es mir deshalb im elektrischen Rollstuhl so gut. Darin lacht mich niemand aus, keiner macht abfällige Bemerkungen über meinen Körper, und in einem Dorf voller Behinderter falle ich nicht einmal auf. Wieder gehen zu können, ganz frei und ohne Hilfsgeräte, hat für mich nicht den Reiz, den es für die meisten Menschen hat, die im Rollstuhl sitzen und die Chance haben, da wieder rauszukommen und wieder normal gehen zu können. Die kehren aber auch nicht auf einen Weg voller Hohn und Spott zurück. Ich weiß natürlich, dass die Zeit von damals vorbei ist und dass die seelenfressenden Ungeheuer aus meiner Kindheit und Jugend lediglich trübe Erinnerungen an eine Zeit des pubertären Wahnsinns sind.

Aber manchmal kommen sie wieder. Dann stehen sie wieder hinter mir und lachen, während ich versuche, ein Seil hochzuklettern. Oder wenn ich an der Sprossenwand nicht viel höher als drei Stangen komme. 

Ich will auch nicht immer wieder von meinen leichten und regelrecht bedeutungslosen Wehwehchen reden, die für mich jedesmal Vorboten des Weltuntergangs sind. Ich gehöre leider zu den Menschen, die mit körperlichen Schmerzen nicht gut umgehen können. Ich betrachte sie als Strafe für mein nachlässiges Trainingsverhalten.

Wenn ich gut drauf bin. Wenn mir aber die Angst in die Knochen kriecht und jeder Schritt nichts anderes ist, als eine zittrige Sturzvermeidung, kommt es mir so vor, als würde ein Fluch auf mir lasten, wie ein spukhafter Aufhocker, der auf meinen Schultern sitzt und versucht, mich niederzudrücken. Ich weiß, dass es diese Wesen nicht gibt, aber im Augenblick der Angst, wenn sich meine Beine anfühlen als wären sie aus Eis, der Stoma an meinem rechten Oberbauch drückt wie der Kopf einer Mißgeburt und sich meine Schulterblätter verhalten, als würde ein Metzgergeselle versuchen, ein besonders großes Filetstück mit einem rostigen Blech aus mir herauszuschälen, sind die Ungeheuer so real wie ein Schwarm wütender Hornissen.

Vielleicht wird jetzt verständlich, dass ich nicht gerade freudetrunken den zwanzig Meter von meinem Zimmer entfernten Speisesaal betrete. Und dann soll ich vielleicht noch etwas essen und anschließend den Rückweg antreten. Tut mir leid, Captain Winnetou, aber diese Friedenspfeife muss erst noch gestopft werden.

So, jetzt kennt mein Physiotherapeut endlich meinen streng geheimen Spitznamen für ihn. Trotz gelegentlicher Meinungsverschiedenheiten mache ich die Physiotherapie gerne, weil die Fortschritte letztlich doch überwiegen. Auch, wenn die Sonne in diesem Jahr direkt aus der Hölle an den Himmel gestiegen ist, um die Menschen zu quälen.

Aber schwitzen ist gut. Nicht nur, weil es Giftstoffe aus dem Körper schwemmt, sondern vor allem, weil die Aufhocker abrutschen. 

Sie glauben noch immer nicht an diese Gestalten? Beneidenswert. Falls Sie einmal in der Nacht im sommerlichen Glutofen Ihres Bettes erwachen und einen Druck auf Ihrer Brust spüren, schalten Sie auf keinen Fall das Licht an.

Ihnen würde nicht gefallen, was sie da sehen.


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