Samstag, 13. Oktober 2018

In weite Räume


         
 


Wenn ich gehe, ist jeder Schritt eine Überwindung. Immer noch. Ich fühle mich unsicher, weil ich keinen festen Stand habe. Stabil und sicher stehen kann ich weder mit den Krücken noch ohne. Wenn ich die Krücken anhebe, muss ich nach wie vor balancieren, um das Gleichgewicht halten zu können. Nach wenigen Sekunden kippe ich nach hinten. Wenn ich mein Gleichgewicht dann nicht rechtzeitig ausbalanciere, falle ich um. Darum mache ich die Übungen im freien Stehen nur neben meinem Bett. Wenn ich umkippe, lande ich wenigstens auf der Matratze.



Mein Physiotherapeut sagt, ich könne gar nicht nach hinten kippen, weil ich dafür viel zu weit nach vorne gebeugt stehe. Das wird beim Training zum Treppensteigen sicher stimmen, nur beim Versuch, frei zu stehen und dabei ein Bein anzuheben, ist es eine Fehleinschätzung, da ich das Gleichgewicht nicht halten kann. Der Grund dafür dürfte wohl noch eine restliche Lähmung in den Fußgelenken und im Sprunggelenk sein.

Die Physiotherapie mit dem Treppensteigen ist für mich momentan der reinste Horror. Ich fühle mich jeden Montag, als müsste ich einen großen Sprung in einen Abgrund machen. Nicht, weil das Verletzungsrisiko so hoch ist, sondern, weil mein Therapeut zu viel von mir erwartet und verlangt. Ich habe nicht die Kraft und die Ausdauer, um diese Doppelbelastung aus körperlicher Anstrengung und Angst vor dem Stürzen so ohne weiters zu bewältigen.

Ich möchte mich auf die Physiotherapie freuen. Früher war das so, da hatte der Therapeut noch viel mehr Verständnis. Jetzt aber jagt er mich von einer psychischen Belastung zur nächsten, und ich weiß nicht mehr, wie ich das alles schaffen soll. Mehr trainieren, sagt er dann. Ich weiß, dass das stimmt, aber ich glaube nicht, dass ich mit dem Gehtraining und dem Einbeinstand meine Kraft und Sicherheit für das Treppensteigen verbessern kann. Da gibt er mir sogar recht.

Wenn ich versuche, im sitzen oder liegen meine Füße zu bewegen, geht das nur bedingt. Ich kann die Fußrücken zwar anheben, aber nicht weit, und wenn ich mich noch zusätzlich anstrenge, bewegt sich der Vorfuß nach unten, anstatt nach oben. Die Zehen kann ich minimal bewegen, aber nicht spreizen. Mit den Füßen kreisförmig rotierende Bewegungen machen, geht nicht. Beim gehen schaffe ich es nicht, die Vorfüße anzuheben. Sie hängen herunter, und darum ist es mir unmöglich, normale Schritte zu machen, indem ich die Ferse zuerst am Boden aufsetze und den Fuß dann nach vorne abrolle. 

Mein rechtes Bein hat eine starke Außenrotation, die von der Hüfte ausgeht. Aus meiner Perspektive betrachtet, sieht es beim Krückengehen so aus, als wäre mein rechter Fuß um 45 Grad nach außen gedreht. Das erschwert das gehen noch zusätzlich. Zwar kann ich den Fuß einige Zentimeter nach innen drehen, das macht die Gehbewegung aber noch unsicherer.

Das größte Problem sind für mich aber nicht die körperlich-motorische Beeinträchtigung und die noch immer mangelhafte Muskelkraft, sondern die psychische Belastung. Wenn ich in der Physiotherapie die Stufe einer Treppe hinaufsteige, ist es für mich, als würde ich am Rand eines Wolkenkratzers stehen. Alle Symptome meiner Angst und der ganze Stress flammen wieder auf.

Ich werde nervös, unsicher, und meine Füße fühlen sich an, als wären sie Holzklötze, die aber nicht stabil genug sind, mich zu stützen. Es kommt mir vor, als wollten sie mich in die Tiefe ziehen. Ich beginne zu schwitzen, aber nicht aus Anstrengung. Es ist ein kalter
 Schweiß. Mein Magen zieht sich zusammen, in der Brust und im Bauch beginnt ein kaltes Vibrieren, das Blut klopft in meinen Ohren, und meine Knie fühlen sich weich wie Knetmasse an.

Ich konzentriere mich darauf, nicht zu stürzen und dabei gleichzeitig die Erwartung des Physiotherapeuten zu erfüllen. Mit den Füßen in schweren orthopädischen Schuhen, stehe ich auf dem Boden vor der ersten Stufe, auf die Krücken gestützt. Ich hebe die linke Krücke auf die erste Stufe, danach die rechte. Allein diese Bewegungen kosten mich Überwindung. Das balancieren, damit ich einen einigermaßen festen Stand habe, mit dem ich mich sicher genug fühle, um diese eine Stufe hochzusteigen, ist für mich jedesmal, als müsste ich einen Abrund überqueren.

Mit jedesmal meine ich nicht jede Woche oder jeden einzelnen Schritt. Diese eiskalte Angst in meiner Brust und auf meiner Stirn ist jede Sekunde und jeden Atemzug präsent. Jeder Gedanke ist nur auf ein einziges Ziel gerichtet: Nicht stürzen. Ich möchte die Einstellung haben, mit jeder Bewegung einen weiteren Fortschritt in Richtung freies Gehen in ein freies Leben zu machen. Das wäre der Idealfall und die beste Motivation für mich.

Davon kann keine Rede sein. In Wirklichkeit ist jeder Gedanke nur darauf ausgerichtet, möglichst heil aus der Situation wieder rauszukommen. Das Treppensteigen ist für mich mehr denn je reine Sturzvermeidung. Eine Therapie, die ich jede Woche mit Freude und Zuversicht mache, ist sie nicht. Trotzdem mache ich weiter und verliere mit jedem Versuch, die Treppe zu erklimmen, ein weiteres Stück Mut, Zuversicht und Selbstwertgefühl.

"Konzentrier' dich", sagte mein Physiotherapeut. "Heb das linke Bein hoch genug, ohne dabei an der Stufe entlangzuscheuern. Das ist noch zu wenig. Knick' dein Knie ab, beweg' dein Bein nach hinten und steig' auf die Stufe... Immer noch zu wenig. Höher, streng dich an, richte dich auf, steh gerade."

All das versuche ich richtig zu machen, und dabei konzentriere ich mich noch darauf, dass ich so sicher auf die Krücken gestützt bin, dass ich nicht nach links oder rechts schwanke. Ich achte darauf, dass mein rechtes Bein genug Kraft und mein Fuß einen einigermaßen sicheren Stand hat. Vorsichtig, um nur ja nicht eine zu hastige Bewegung zu machen, die mich zu Fall bringen könnte, hebe ich meinen linken Oberschenkel und bemühe mich, meinen linken Fuß über die Stufe und auf die Trittfläche zu stellen. Dabei stoße ich mit der Fußspitze in dem Stützschuh, der für mich schwer wie Blei ist, am Rand der Stufe an.

"Angestoßen. Schon wieder. Du musst deinen Fuß höher heben. Versuch' es. Ja, schon besser. Ich bin neben dir."

In meinem Bauch drückt die rotierende Luft, und ich hoffe insgeheim, dass sie meinen Stoma zum platzen bringt, damit ich für heute aufhören kann, mich zu quälen. Aber ich strenge mich noch einmal an, versuche, meinen linken Oberschenkel so hoch wie möglic zu heben. Ich beiße die Zähne zusammen, Schweiß rinnt mir in die Augen. Irgendwann spüre ich dann, dass die Schuhsohle über der Treppenstufe ist. Ich bewege den Fuß nach vor und stehe auf der ersten Stufe. Diese Haltung ist unbequem und wackelig. Die beiden Krücken stehen direkt vor meiner Fußspitze, der rechte Fuß ist noch am Boden.

Ich konzentriere mich wieder, stütze mich an den Krücken ab, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren und zu stürzen, tariere, balanciere, während ich zögerlich meinen rechten Fuß anhebe. Dabei vibriert es in der Brust, klopft es in den Ohren, rinnt der kalte Schweiß in meine Augen, und mir kommt es vor, als wäre die Treppe aus Watte. Meine Knie sind schwach, aber das glaubt mir der Therapeut nicht. Ich weiß, dass er recht hat und es mir nur so erscheint, als wären sie nicht stark genug, um mich aufrecht zu halten. 

Ich bringe meine ganze Kraft auf, um den rechten Fuß auf die Stufe zu heben, und es gelingt. Jetzt beginnt der schwierige Teil.

"Stell dich aufrecht hin!" sagt er.

Ich richte mich auf und ziehe erschrocken die Luft ein. Gleich falle ich hin, denke ich. Ich bemühe mich, ruhig zu stehen, aber ich wackle und schwanke und fühle mich, als würde ich gleich zusammenbrechen. Leichter Schwindel. Ein bisschen Übelkeit. Angst. Brustvibrieren. Krampf im Bauch. Zittrige Knie. Ein Gefühl, als würden die Schultern gleich schlapp machen.

Ich muss so schnell wie möglich wieder runter, denke ich. Sonst knicke ich ein. Mit einem Sturz hat alles begonnen. Vor fünfeinhalb Jahren. Jetzt könnte ein Sturz alles beenden. Aber dieses Mal breche ich mir den Hals und das wird schlimmer als die abklingende Lähmung des Guillain-Barré-Syndroms. Dann werde ich den Rest meines Lebens nur noch ein Kopf sein, der nichts anderes mehr kann als schlucken und schweigen. Diese Angst ist nicht weit hergeholt. Genau so habe ich ein Jahr lang gelebt.

Damals wollte ich mich bewegen, konnte aber nicht. Jetzt kann ich mich bewegen, will aber nicht. Jedenfalls nicht so. Ich habe nichts gegen die Anstrengung, den Schweiß und die Erschöpfung. Davon erhole ich mich schnell. Aber die Angst vor dem Fallen ist unüberwindbar. Sie ist eine der beiden vererblichen Urängste. Dagegen können wir nichts machen, außer uns zur Überwindung zu zwingen. Die andere Urangst ist die vor plötzlichen lauten Geräuschen. 

Die Angst ist immer noch groß. Das Schwitzen, das Zittern, das Vibrieren, die Unsicherheit und die Selbstverachtung. Ich bin ein Feigling, ein Versager, eine Memme, ein Taugenichts, ein Verlierer. Ich bin ein Trottel, der nicht in der Lage ist, seine kindischen Ängste zu überwinden und endlich wie besessen daran zu arbeiten, wieder so normal gehen zu 
können wie früher. Ich nehme es mir vor. Ich nehme mir ganz fest vor, jeden Tag immer mehr zu trainieren, immer öfter und weiter meine Gehübungen zu machen, keine Angst mehr vor den Fugen zwischen den Fliesen am Boden zu haben. Oder davor, das Bewusstsein zu verlieren und der Länge hinzuknallen, weil der Kreislauf überfordert ist. Dabei ist mein Kreislauf in Ordnung. Aber ich bin immer ein wenig schwindlig, wenn ich gehe. Wahrscheinlich, weil ich es nicht mehr gewohnt bin und den ganzen Tag nur sitze und die ganze Nacht nur liege.

Aber noch schlimmer, als all diese Ängste und das Gefühl, nicht einmal mehr zu der geringsten körperlichen Leistung in der Lage zu sein, ist die tägliche Erfahrung, dass niemand versteht, wie es in meinem Inneren aussieht, und dass das mit Faulheit und Selbstbetrug überhaupt nichts zu tun hat.
Bei jedem Schritt über den Boden und bei jeder Bewegung während des Treppensteigens begleitet mich die Angst, das Training nicht überleben zu können oder an den Folgen eines Sturzes zu sterben. Ich erwarte nicht, dass das irgendjemand versteht. Aber es ist eine Tatsache, über die ich nicht gerne rede. Es ist keine panische Todesangst, aber der Gedanke daran ist mir näher als jeder Fortschritt.

Physiotherapie und Krückentraining sind für mich ohne einen Hauch Todesangst nicht durchführbar. Ich weiß, dass das übertrieben ist. Ich weiß, dass es lächerlich ist. Ich bin jeden Tag davon überzeugt, dass das nicht passieren kann, und dass auch sonst nichts passieren wird. Ich bin optimistisch und zuversichtlich. Ich bin sogar bereit, Schmerzen aller Art auf mich zu nehmen. Die dauern nie lange, und ich habe gelernt, alle Arten von Schmerzen innerhalb weniger Minuten wegzumassieren.

Das Gehtraining und das Treppensteigen sind also überhaupt kein Problem. Bis ich die Krücken in die Hände nehme und aus dem Rollstuhl aufstehe. Mit einem Mal sieht die Welt ganz anders aus. Und ich bin nicht mehr der mutige Optimist, sondern wieder derselbe zitternde, ängstliche Feigling, der das Training und die Physiotherapie körperlich zwar überstehen wird, der aber mit jedem Fehlversuch, jeder Demütigung, jedem nicht gemachten Schritt und jeder nicht erklommenen Treppe wieder auf das reduziert wird, was er schon seinen ganzes Leben ist.

Ein verängstigtes Kind, das sich nicht traut, einen Schritt in die Welt hinaus zu machen. So will ich aber nicht sein. Ich will mich etwas trauen, und ich will sicher und zielstrebig meinen Weg in ein freies Leben gehen. Gehen, nicht rollen. Auch nicht schwanken, zittern oder einknicken. Aber wenn es schwierig wird, anstrengend und bedrohlich, ist es nicht der kläffende innere Schweinehund, wie mir mein Physiotherapeut jedesmal, aufs neue auf die Nase bindet. Das ist für ihn der Inbegriff des psychologischen Verständnisses. Trotzdem bin ich ihm für seine Geduld dankbar. Er hat ja recht, und sein Trainingsplan ist sicher richtig, so wie er ist.

Nur mit dem kläffenden Schweinehund irrt er sich. Was mich am vorankommen hindert, sind die Brocken und die Trümmer meiner eingestürzten Welt, die mein früheres Leben tief unter sich begraben haben. Auf dem Schutt meiner alten Träume und Sehnsüchte stehe ich mit meinen Krücken und wage es nicht, mich zu bewegen, weil jeder Schritt den Trümmerhaufen zum endgültigen Einsturz bringen könnte.

Allerdings weiß ich auch, dass sich das Blatt manchmal schnell wendet, und mir gelingt wieder etwas, auf das ich stolz sein kann. Ein Erfolgserlebnis. Höhenflug statt Höllensturz. Wird schon gehen, denke ich. Wird schon werden, wird schon gut. Haut hin, hau drauf, hauruck. Hauruck am Hausruck. Immer vorwärts, nie zurück. Auffi, auffi, weiter, höher, schneller, besser, öfter, mehr. Füße heben, Bein anwinkeln, balancieren, austarieren, Sicherheit geht anders. Zuversicht getrübt. Nicht genug trainiert, nicht genug geübt. Nicht genug, Selbstbetrug,

Jäger schießt auf den Eber. Warten auf den Totengräber. Lieber schnell weggerannt. Heimatwelt abgebrannt. Weitergehen, Schritt um Schritt. Training macht den Körper fit. Arbeit ist Kraft mal Weg. Weg ist weit, Kraft ist weg. Selbstvertrauen ist verfault. Seinerzeit durchs Meer gekrault. Unter Pinien geschrieben von der Sehnsucht nach dem Leben. Sehnsucht blieb unerfüllt. Lebenstraum schwarz verhüllt. Hoffnung auf neue Träume. Schritte brauchen weite Räume.



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