Dienstag, 2. April 2019

Beiß und Bohr

"Sein Maul ist beiß,
Sein Griff ist bohr.
Vom Jabberwocky 
sieh' dich vor."

- Englisches Gedicht


Mit meinen Zähnen ist das so eine Sache. Ich habe zwar noch relativ viele, aber es ist zu befürchten, dass mir der Zahnarzt alle ziehen wird. Rausreißen. Oder besser, extrahieren. Das klingt gleich viel schöner. Zum Glück habe ich keine Zahnarztangst mehr. Das ganze Gebohre, Geschleife, Gekratze und Gereiße stört mich nicht besonders. Zumindest dann nicht, wenn es eine Spritze gibt.
Wenn das nicht vorgesehen ist, lasse ich mir eine auf die Rechnung setzen. Das macht mich zwar um 100 Euro ärmer, aber dafür erspare ich mir den Stress, ständig meine Hände an die Haltebügel meines E-Rollis zu klammern und Schmerzen zu erwarten. Die sind dann gar nicht einmal so schlimm, müssen aber nicht sein. Schließlich bin ich nicht Jack Nicholson.

Warum meine Zähne in einem so, nun ja, erbarmungswürdigen Zustand sind? Warum sie eine Sanierung brauchen?

Also. Hmm. Ich glaube, am besten wird es sein, wenn ich die Wahrheit rausrücke, obwohl es peinlich ist. Egal. Na dann los...

Ich hatte mit meinen Zähnen immer schon das große Pech, dass sie mir nie wehgetan haben. Zahnschmerzen sind ein Zustand, der mir vollkommen unbekannt ist. Hätte ich oft Zahnschmerzen gehabt, wäre ich schon viel früher zum Zahnarzt gegangen. Bis zum Ausbruch meiner Krankheit, dem Guillain-Barré-Syndrom, habe ich meine Zähne auch regelmäßig normal geputzt, und hatte wahrscheinlich deshalb nie Probleme damit.

Dann kam die totale Lähmung meines gesamten Körpers vom Hals bis zu den Zehenspitzen. Ich lag auf der Intensivstation, wusste nichts über diese Krankheit, außer, dass sie wieder abheilt. Das würde allerdings Jahre dauern. Heute, sechs Jahre später weiß ich, dass diese Prognose absolut richtig war. Die Füße sind zum Teil noch immer taub, und die Zehen kann ich auch nicht gut bewegen. Auch die Vorfüße kann ich nicht anheben. Die Hoffnung, dass sich das noch bessern wird, habe ich inzwischen aufgegeben. Mir dauert das alles schon zu lange, um noch Fortschritte zu erwarten.

Ich war also ungefähr so beweglich wie ein Gummibaum. Man konnte mich zwar in alle möglichen Richtungen drehen, biegen, umlagern, mit Decken und Schaumgummiwürsten bobathisieren, bis die Schwarte gekracht hat, aber selber bewegen konnte ich mich nicht. Die Zähne wurden mir damals geputzt. Nicht sehr beliebt war bei den Krankenschwestern, dass ich, trotz Dialyse, jedesmal ein paar Schlucke Wasser aus dem Zahnputzbecher getrunken habe. Ich wurde öfter gefragt, ob ich wahnsinnig sei, und mir wurde erläutert, wie lebensgefährlich es ist, während einer Dialyse etwas zu trinken.

Als Faustregel gilt, dass man während einer Dialyse bis zu einen halben Liter Wasser trinken darf. Das hat mir aber niemand gesagt. Vielleicht haben sie es nicht gewusst. Schwer vorstellbar, aber möglich. Jedenfalls haben die zwei oder drei Schlucke Wasser den ganzen Aufstand und all die oberlehrerhaften Ermahnungen nicht gerechtfertigt.

Zwei Monate war ich auf der Intensivstation und danach vier Monate auf der Neuro. Ich war also ein halbes Jahr durchgehend im Krankenhaus. Die Zähne wurden mir noch immer geputzt. Erst als ich auf Reha war, haben mir die Krankenschwestern nahegelegt, ich könnte mir die Zähne doch selber putzen, weil meine Arme und Hände schon beweglich genug waren. Das habe ich auch eine zeitlang gemacht, bin dann aber immer nachlässiger geworden. Ich war noch immer fast vollständig gelähmt.

Ich war insgesamt vier Monate auf Reha am Gmundnerberg, habe dort fantastische Fortschritte gemacht, und außerdem hat es mir dort sehr gut gefallen. Probleme hatte ich lediglich mit meinem transurethralen Dauerkatheter. Der war für mich der reinste Horror. Mein Gemütszustand wurde nicht besser, ich war meistens hoffnungslos, dass alles wieder gut werden würde. 

Nach drei Monaten wurde bei mir die Thromboseprophylaxe Lovinox abgesetzt. Warum weiß ich nicht. Jedenfalls hatte ich wenige Tage später eine Tiefenvenenthrombose mit einem rechten Bein, das fast auf die doppelte Größe angeschwollen war. Schmerzen hatte ich nicht. Ich wurde ins Krankenhaus Gmunden gebracht, es wurde eine Computertomographie meiner Lunge gemacht, um herauszufinden zu können, ob sich schon Blutgerinnsel in die Lunge bewegt hatten. Das war nicht so, und ich war erleichtert, zumindest vorläufig. Dann ist ein Ultraschall gemacht worden. Die Diagnose Tiefenvenenthrombose war schnell gestellt. Zurück am Gmundnerberg wurde mir Xarelto verschrieben, ein Blutverdünner, den ich immer problemlos vertragen habe. Und schicke weiße Stützstrümpfe habe ich auch bekommen. 

Nicht so amüsant waren die seelischen Qualen, die ich in den letzten Wochen meines Aufenthalts in der Reha durchgemacht habe. Ich hatte regelrechte Todesangst. Mir hat niemand gesagt, wie gefährlich der Zustand meiner Thrombose jetzt noch war. Fragen wollte ich auch nicht. Mein Bedarf an schlechten Nachrichten war gedeckt. Also habe ich das eben alleine durchgestanden, viel darüber geschrieben, Videotagebücher erstellt und versucht, mich mit dem lesen von E-Books abzulenken.

Und weil eine Tiefenvenenthrombose und schon an Panikattacken grenzende Anfälle der Todesangst noch nicht ausreichen, um einem die Lebensfreude aus dem Herz und dem Gemüt zu reißen, gesellte sich noch eine Grippe mit 42 Grad Fieber hinzu. Das hat mich komischerweise nicht so gestört. Rein körperlich habe ich mich wohlgefühlt. Nur in meinem Kopf haben sich die grauenhaftesten Schreckensszenarien angespielt. Ich habe halt viel Phantasie. Einerseits ist das gut, denn ohne meine rege Hirnaktivität könnte ich nicht so viel schreiben, aber andererseits ist es manchmal geradezu eine Pest.

Mit anderen Worten, in dieser Situation war mir der Zustand meiner Zähne herzlich scheißegal. Außerdem waren sie da ja noch in Ordnung. Geändert hat sich das erst, als ich eine Methode gefunden habe, Ängste, depressive Verstimmungen und unter der Oberfläche schwelende Verzweiflung zu bekämpfen und mich trotz Lähmung, Katheter, Thrombose, Angst, Panik und Hoffnungslosigkeit einigermaßen bei guter Laune zu halten.

Nein, nicht Alkohol. Auch keine amourösen Abenteuer mit Krankenschwestern. Da war der Anreiz aber auch gering. Außerdem haben die keine Lust auf Patienten. Frauen sind zwar hinreißende Wesen, aber sie haben keine Chance gegen Schokolade.

Schokolade hat mir mein Seelenleben gerettet. Das ist keine Übertreibung. Eine halbe große Tafel Milka Vollmilchschokolade, also 150 Gramm, haben meine Laune angehoben und die Ängste unterdrückt. Zahnschmerzen hatte ich noch immer keine, und meine Zähne waren mir nach wie vor herzlich scheißegal. Ich habe mir damals , das war 2014, gedacht, wenn die Schokolade meine Zähne zerstört und sie alle gerissen werden müssen, dann ist das eben so. Aber dafür werde ich nicht damit aufhören, Schokolade zu essen. Und weh tun mir die Zähne ja sowieso nie. Besser zahnlos glücklich als depressiv mit makellosen Zähnen. Glücklich war ich allerdings nie. Auch jetzt nicht. Ich habe das wohl verlernt.

Doch, ich war schon glücklich. Immer, wenn meine Mutter mich besucht hat. Im August 2014 ist sie verstorben.  

So ist auch meine Motivation, die Zähne gründlich zu putzen, immer tiefer gesunken. Mir war einfach egal, was mit meinen Zähnen passiert. Ich hatte andere Probleme. Zu retten waren sie sowieso nicht mehr.

Seit Februar 2018 stelle ich mir meinen Zahnersatz selber her. Dafür verwende ich ein Material namens Thermoplast. Das sind weiße Kügelchen, die sich im siedenden Wasser zu einer durchsichtigen gallertartigen Masse verformen. Dieses Material lege ich über eine bei Amazon gekaufte Zahnblende, Veneers genannt, die eigentlich dazu da ist, sie direkt in den Mund einzusetzen. Diese Veneers lassen sich aber so gut wie gar nicht verformen, nicht einmal, wenn das Wasser kocht. Zum Wasser kochen verwende ich übrigens einen Thermosbecher und einen Tauchsieder. Dieses Gerät hat mir einige unvergesslich heitere Momente beschert, wenn junge Krankenpflegerinnen mit großen staunenden Kulleraugen auf diese Metallspirale mit einem Kabel dran geblickt und mich gefragt haben, was das denn sei.

Ein Tauchsieder.

Ein was?

Zum Wasserkochen.

Na, echt jetzt?

Ja, echt jetzt.

Man erkennt, dass man alt wird, wenn man Geräte verwendet, die junge Menschen nicht mehr kennen. Dabei ist ein Tauchsieder ein Allroundgerät für fast alles, was erhitzt werden muss. Mit einem Tauchsieder kann man  den besten Instantkaffee machen, wenn' s schnell gehen soll. Wasser erhitzen, Nescafé hinein, umrühren. Keine Kaffepads, kein Entkalkungsmodus, der nie richtig funktioniert, kein befüllen, ausleeren von Wasser in umständliche Tanks, kein Garantieverfall, wenn man versucht, diese Blechkübeln selbst zu reparieren. Und vor allem keine Wucherpreise für Kaffepads, die dann eine Menge an Kaffee ergeben, die mit freiem Auge kaum zu erkennen ist. Da lobe ich mir doch meinen Tauchsieder. Übrigens auch zum kochen asiatischer Nudelsuppen sehr geeignet.

Den selbst gebastelten Zahnersatz forme ich dann im Mund, indem ich ihn, wenn er schon leicht gehärtet ist, sorgfältig zurechtbeiße. Funktioniert super und geht ruckzuck. Mit einem Fingernagel füge ich dann noch die Rillen zwischen den Zähnen ein. Wenn das Do-it-yourself Gebiss fertig ist, trocken, hart und strahlend weiß, setze ich es mit nur wenig weißer Haftcreme ein, lasse die Creme trocknen, indem ich die Zähne leicht zusammenbeiße. Insgesamt dauert es etwa zwanzig Minuten, bis das Zahnteil fest sitzt und ich damit nicht nur reden, sondern auch essen kann. Mit der Ausnahme von heißen Suppen.

Ach so, noch etwas. Wenn ich mir wirklich Mühe gebe und einen richtig schönen Zahnersatz mache, fällt es niemandem auf. Das ganze Konstrukt fügt sich so nahtlos zwischen die echten Zähne ein, dass man schon extrem genau hinschauen und danach suchen muss. Ich habe das mit mehreren Krankenschwestern getestet. Erkannt haben sie den Zahnersatz erst, als ich Ihnen gesagt habe, wo er genau sitzt.

Trotzdem ist das nur ein Provisorium. Ein Tauchsieder kann einen Zahnarzt nicht ersetzen. Na ja, eigentlich schon, aber besser ist es, einen Fachmann zu konsultieren. Wo kämen wir denn da hin, wenn sich jeder den Zahnersatz selber basteln kann? Natürlich wäre das möglich, und vielleicht spricht sich mein System durch meinen Blog ja herum, und es machen dann wirklich alle so. Also, falls Sie einmal zum Zahnarzt gehen und sich wundern, warum Sie der einzige Patient im Wartezimmer sind, bin höchstwahrscheinlich ich schuld daran. Aber soweit soll es natürlich nicht kommen. Da hätte ich echt ein schlechtes Gewissen. 

Zahnärzte sind unsere Freunde. Sie zaubern ein strahlendes Lächeln auf unser Gesicht. Alle Menschen gehen gerne zum Dentisten. Was wäre das Leben ohne den beruhigenden Klang der Bohrmaschine und dem Wohlgefühl einer lokalen Anästhesiespritze. Gt, mn knn dnn nct nrml rdn, aber das wird ja wieder besser.

So. Jetzt kennen Sie die Geschichte meiner Zähne. Während ich dies schreibe, erlebe ich den Vorabend meines nächsten Zahnarztbesuchs. Ich bin froh, dass endlich alles in Ordnung gebracht wird. Damit ich auch morgen noch kraftvoll zubeißen kann. Vielleicht lasse ich mir ein Stahlgebiss anfertigen, wie es der Beißer aus den James-Bond-Filmen hat. Oder aus Gold. Oder ein schwarzes Gebiss, falls ich zu traurigen Anlässen muss, wie Begräbnissen oder Hochzeiten.

Und was Jack Nicholson betrifft...Sein erster Film war "Little Shop of Horrors". Darin spielt er einen masochistischen Patienten, der nur deswegen zum Zahnarzt geht, um dort Schmerzen zu erleiden. Schließlich wird er dann von der riesigen fleischfressenden Pflanze Audrey verschlungen. Die gibt es bei echten Zahnärzten natürlich nicht. Wirklich nicht.

Inzwischen sind mir meine Zähne nicht mehr egal. Wenn das Gebiss so aussehen wird, wie meine Zähne früher waren und sich auch so anfühlt, bin ich zufrieden. Implantate kann ich mir in einer Privatklinik zu ungarischen Preisen immer noch einsetzen lassen. Ein komplettes Implantat würde dort 700 Euro kosten. Ich würde vielleicht vier davon brauchen. Den Rest könnte man mit Brücken oder einem Klickgebiss machen. Auch zu ungarischen Preisen. Klingt fast zu schön, um wahr zu sein. Ist es aber.

Was dann aus den heimischen Zahnärzten mit österreichischen Preisen wird, weiß ich nicht. Zahnärzte wird es höchstwahrscheinlich immer geben. Sorgen muss man sich um diesen Berufsstand jedenfalls keine machen, auch wenn es woanders viel billiger ist.

Die Zahnärzte beißen sich schon irgendwie durch.

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