Samstag, 14. Februar 2015

Im Ozean der Schmerzen

Ich sitze in einem Pflegesessel. An sich nichts Ungewöhnliches. Wenn ich zur Physiotherapie gebracht werde, wird der immer verwendet. Ein Pflegesessel ist nicht dasselbe wie ein Rollstuhl, sondern sieht eher aus wie ein Campingsessel mit Kopfstütze und kleinen Rädern. Man kann ihn selbst nicht steuern, sondern muss geschoben werden. Außerdem könnte ich das sowieso nicht, weil meine Arme sind gelähmt und meine Hände auch. Ich kann die Oberarme zwar ein bisschen anheben, aber nur notdürftig.
An diesen Pflegesessel werde ich mich wohl mein Leben lang erinnern. Für einige Zeit soll er für mich der Inbegriff des Schreckens werden. Schon in der Nacht vor einem Physiotherapietag habe ich Angst davor. Ich habe so gut wie keine Rumpfstabilität, kann nicht alleine aufrecht sitzen. Beim Querbettsitzen muss ich hinten und an den Seiten gestützt werden, sonst kippe ich um. Keine Kraft. Keine Nervenimpulse.
Ist das Kippen im Bett nur ein technisches Problem, so wird es im Pflegesessel für mich zu einer Tortur. Es ist die einzige Zeit während meiner gesamten Erkrankung mit dem Guillain-Barré-Syndrom, in der mich die Schmerzen fast in den Wahnsinn treiben. Da ich mich nicht aufrecht halten kann, kippe ich immer zur rechten Seite weg. Die rechte Körperhälfte ist bei mir aufgrund der Krankheit noch schwächer als die linke. Während der Therapie ist das kein großes Problem. Ich werde gestützt, während ich nach Kegeln und Bällen greife, mit der Hand über ein Tablett wische, mit einem gelben Igelball übe oder die Kraft meiner Arme am Motomed trainiere.
Aber nach der Therapiestunde bestehen meine Therapeuten Wolfgang und Alfred darauf, dass ich noch in diesem Sessel bleibe. Zum Mittagessen und am besten danach noch ein oder zwei Stunden. Ich bitte darum, ins Bett zu dürfen, aber sie appellieren an mich, so lange im Pflegesessel zu bleiben, wie ich kann. Ich stimme zu. Man legt mir Polster und eine dicke Schaumgummischlange an die Seiten meines Körpers. Eine Zeit lang fühlt sich das ganz gut an, aber etwa nach einer Viertelstunde beginnt der Druck in meiner rechten Hüfte.
Zuerst ist es nur unangenehm, und ich denke mir, na ja, wenn' s so bleibt, werde ich es schon irgendwie aushalten.
Es bleibt nicht so.
Eine der jungen Krankenschwesternschülerinnen betritt das Krankenzimmer der Neuro, wo ich mitten im Raum sitze. Sie bringt das Essen und wird mich damit füttern. Aber sie sagen "eingeben", damit es nicht so kindisch klingt. Wir befinden uns gerade im August 2013, und ich bin noch auf der Neuro im Landeskrankenhaus Vöcklabruck. Der Druck auf meine Hüfte wird stärker. Ich weiß nicht, ob ich essen kann. Ich sage Alexandra, dass ich nicht kann. Der Schmerz intensiviert sich. Es ist ein starkes, pulsierendes Drücken, das immer wieder an- und abschwillt. Ich versuche, es zu ignorieren und mich von der sympathischen Alex mit einer Suppe füttern zu lassen, die aussieht wie das Sediment in meinem Harn im Katheterbeutel. Allerdings schmeckt sie gut. Sonst. Wenn ich keine Schmerzen habe.
Ich fange an zu schwitzen und atme schwer.
"Tut es so weh?" fragt Alexandra. Sie ist eine sehr gute Schwester. Sehr einfühlsam, auf ehrliche Weise gut gelaunt und hat immer gute Ideen. Nur jetzt nicht.
"Ja", antworte ich. "Bitte rufen Sie bei der Physiotherapie an. Sie sollen mich mit dem Kran ins Bett legen."
Alexandra nickt und sagt, dass sie sofort anrufen werde. Sie eilt aus dem Zimmer. Auf dem Beistelltisch vor mir steht die Suppe. Als Hauptspeise hätte es ein Stück Gemüsepizza gegeben. Die hatte ich schon einmal. Ich habe mich darauf gefreut, aber im Moment ist Freude nur eine vage Erinnerung.
Jetzt beginnt die Zeit des qualvollen Wartens. Ich weiß, dass die Therapeuten nicht sofort ihre Arbeit stehen und liegen lassen, um mich aus dem Sessel zu befreien. Ich rechne mit einer halben Stunde, aber schließlich werden es fast eineinhalb. Irgendwann zwischendurch frage ich Alexandra, ob die bald kommen. Sie weiß es auch nicht.
Meine Hüfte klopft, hämmert, tobt. Den brennenden Schweiß kann ich mir nicht aus den Augen wischen. Ich bin ja gelähmt. Ich atme vor mich hin, versuche mich zu beruhigen und zähle meine Atemzüge, um mich auf die nächste größere Schmerzwelle vorzubereiten.
        Ich bin ein Schiffbrüchiger auf einem Nagelbrett. Zumindest fühle ich mich so. Ich frage mich, was schlimmer ist: in einem Ozean aus Schmerz zu ertrinken oder langsam aufgespießt zu werden, während mir das Wasser bis zum Hals steht.
Fünfundzwanzig. Nach fünfundzwanzig Atemzügen ist sie endlich da.
Ich versuche, mir nichts anmerken zu lassen und nicht zu stöhnen oder zu fluchen. Es sind noch drei andere Patienten im Zimmer. Ich schwöre mir, mich nie wieder in diesen verdammten Pflegesessel setzen zu lassen, da kann Alfred mit seinen Bobath-Polstern "bauen", was er will. Er nennt es so. "Wenn Sie schlecht sitzen, baue ich Ihnen was", sagt er. Was er baut ist auch sehr gut und verhindert noch größere Schmerzen, aber seine architektonischen Meisterwerke verrutschen natürlich irgendwann, während ich versuche, mich im Sessel irgendwie zu bewegen, um meine Hüfte zu entlasten.
Wolfgang und Alfred sagen immer wieder zu mir, wie wichtig es für mich ist, in einem Pflegesessel zu sitzen. Für den gesamten Bewegungsapparat, die Muskeln, das Rumpftraining und für die Lunge. Wenn man immer nur liegt, kann man eine Lungenentzündung bekommen. Das liegt daran, dass sich in der Rückenlage das Herz auf die Lungenflügel legt.
Ich weiß das. Ich weiß das alles, und ich weiß, dass die beiden Therapeuten recht haben. Das macht es noch schlimmer. Ich kann sie nicht einmal dafür hassen, dass ich diese Schmerzen erleiden muss. Erstens sind sie beide sympathisch, zweitens kompetent und hervorragende Physiotherapeuten, und drittens haben sie leider recht. Immer. Jedesmal.
All das ist mir klar. Aber es tut so Scheißweh! Die Armlehne des Pflegesessels bohrt sich in meine Hüfte, und der drückende Schmerz pulsiert bis in meine Zehenspitzen. Da spüre ich sie dann plötzlich. Aber wenn sie abgetastet werden, um meine Reaktionen zu testen, fühle ich gar nichts. Umgekehrt wäre es mir lieber.
Immer wieder denke ich mir, dass der Schmerz auch etwas Gutes hat. Immerhin spüre ich ihn. Das heißt, die Nerven leiten wieder. Toll. Ich bin begeistert.
Es klopft an der Tür. Das ist er nicht, denke ich mir. Physiotherapeuten klopfen immer nur einmal. Das ist mir irgendwann aufgefallen. Zumindest meistens. Eine ganz attraktive Frau kommt herein. Eine Ärztin von einer anderen Station und besucht einen Patienten.
Ich verfalle in einen schmerzhaften Dämmerschlaf. Ich zähle meine Atemzüge und nicke ein, werde von den dumpfen Schmerzen aber sofort wieder aufgeweckt.
Schließlich klopft es wieder. Nur einmal. Ich weiß, dass das Alfred ist. Er betritt den Raum, grüßt freundlich und lächelt. Ich glaube, er bemerkt, dass ich leide, aber ich versuche, meine Fassung zu bewahren. Es fällt mir schwer. Schließlich, nach einem abschließenden scharfen Stich in der Hüfte, als ich in den Hebelifter gehoben werde, hänge ich in der Luft, und Alfred manövriert den Kran zwischen Bett und Kasten hindurch und legt mich vorsichtig hin.
Wieder einmal kann ich mein Glück nicht fassen. Der Schmerz hört auf. Ich spüre zwar einen stichelnden Zug in meiner Blase, der vom Katheter verursacht wird, aber im Vergleich zu dem Sitzen im Pflegesessel ist das harmlos. Ich bedanke mich bei Alfred. Er sieht mir die Erleichterung an. Er hat Verständnis dafür, dass ich nicht länger in dem Sessel bleiben will.
Heute weiß ich nicht mehr, ob das der letzte Aufenthalt im Pflegesessel war, aber ich erinnere mich, dass ich später nach den Therapien in den Stryker gesetzt wurde. Den kann man in der Position verstellen. Zwar kann ich das nicht selbst, aber irgendjemand ist immer da, der mir hilft. Mein Leben wird erträglicher.
Heute bin ich meinen Therapeuten sogar für die Qualen dankbar, die ich im Pflegesessel oft erlitten habe. Es waren hauptsächlich seelische Qualen, körperlich gibt es viel schlimmere Schmerzen, das weiß ich auch.
Aber in meinem Kopfleben war das Sitzen im Pflegesessel einer der furchtbarsten Aspekte meiner Erkrankung. Heute sitze ich in einem elektrischen Rollstuhl. Auch darin habe ich meine Probleme, aber keine Schmerzen. Ich kann mich sogar ganz gut entspannen, wenn ich die Rückenlehne flachstelle.
Der Schmerz im Pflegesessel hat mich eines gelehrt: es gibt keinen leichten, bequemen Ausweg aus dem Guillain-Barré-Syndrom. Das muss ich leider allen Betroffenen sagen. Wenn Ihr noch ganz am Anfang des Weges steht, denkt daran, dass er da ist.
Der Weg ist da. Und er führt in die Freiheit. In ein Leben ohne Lähmung, ohne Angst und ohne Schmerzen. Verliert euren Weg nicht aus den Augen. Das dürfte allerdings ohnehin unmöglich sein, denn es ist ein krummer, harter und mit spitzen Steinen gepflasterter Weg. Man kann ihn gar nicht übersehen.
Die Reise des Guillain-Barré-Syndrom-Patienten beginnt mit einem kleinen, schmerzhaften Schritt, der sich wie ein Meissel in den Körper und in die Seele bohrt.
Aber wie so viele Wege, lohnt es sich, ihn zu beschreiten. Was bleibt uns auch Anderes übrig?
Wir haben nur diesen einen Weg.

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