Samstag, 28. Februar 2015

Die Engel am Galgen

Wie viele Engel passen an einen Galgen?
        Es ist oft schwer, mit Hilfe und guten Ratschlägen zurechtzukommen. Ich habe im Krankenhaus, auf der Reha und hier im Behindertendorf Altenhof festgestellt, dass es Menschen gibt, die mich motivieren und mir Mut zusprechen. Zumindest tun sie ihr Bestes. Bei mir ist das schwer, weil ich dazu neige, immer das Negative zuerst zu sehen. Davon gab es in meinem Leben einfach schon zuviel, und das macht mir unmöglich zuerst das Positive und Schöne zu sehen.
        Bei all der Hilfe, die ich durch die wunderbaren Menschen in den letzten eineinhalb Jahren erfahren durfte, ist etwas passiert, womit ich nicht gerechnet habe. Es ist ein Gefühl, dass ich schon sehr früh auf der Intensivstation erlebt habe und dass sich im Laufe der folgenden Monate noch verstärkt hat. Sosehr verstärkt, dass ich sagen muss, dass ich darunter genauso gelitten habe, wie unter dem Guillain-Barré-Syndrom selbst.
Ich wurde zum Opfer meiner Ohnmacht.
Irgendwann fühlte ich mich in diesem wunderschönen und friedlichen Wald aus fachlicher Kompetenz, positivem Denken und ehrlicher Hilsbereitschaft total verloren. Ich war kein Mensch mehr. Ich fühlte mich wie ein Tier, das gewaschen und gefüttert werden muss. Ich war eine Art lebender Toter. Ein untoter Kopf ohne Körper.
Und rund um mich herum waren freundliche Gesichter, die lächelnd auf mich herabblickten und mir jede Hilfe gaben, die man sich nur wünschen kann. Und all diese Hilsbereitschaft und Freundlichkeit war echt. Dahinter steckten keine Geschäftsinteressen und kein Egoismus. Keine Habgier, keine Falschheit und kein Neid.
Ich kannte das nicht. Wir begegnen auf unserem Lebensweg doch so vielen grauen Gestalten. Wer kennt nicht eine Unzahl von schlecht gelaunten, grantigen und pessimistischen Menschen? Sehen wir nicht fast überall finstere Minen und traurige Gesichter? Wie oft sind wir schon nicht gegrüßt worden oder haben es selbst nicht getan? Wir alle neigen doch zum negativen Denken, oder nicht? Wir alle haben doch schon so viele Haare in der Suppe gefunden, dass wir daraus eine ganze Legion aus Yetis schaffen könnten.
So auch ich. Und plötzlich war ich in einer beängstigenden Parallelwelt aus Hoffnung, Aufmunterung und positiven Prognosen. Ohne Scherz, das war beängstigend. Dieses ständige "das wird schon wieder", "gib nicht auf", "du musst positiv denken", "hab Vertrauen" und "es geht bergauf" hat genauso an meinen Nerven gezehrt wie das Guillain-Barré-Syndrom. Ich kam mir hoffnungslos gerettet und behütet vor. Ich wäre damals auf der Intensivstation niemals in der Lage gewesen, ohne Hilfe zu überleben, aber genau diese Hilfe, die Pflege und alle Arten von Therapien haben mich zu 100% abhängig gemacht.
Plötzlich war ich ein Opfer meiner Retter.
Ich weiß, das klingt hart und undankbar, aber es war so. Jede Form der Selbstbestimmung wurde mir durch die Krankheit geraubt. Ich konnte nicht einmal alleine atmen. Ich wurde künstlich beatmet, reanimiert, und das Blut in meinem Körper wurde gewaschen, weil meine Nieren versagt hatten.
Ich bin nicht undankbar, nein. Jeder Arzt, jede Ärztin, alle Krankenschwestern und Krankenpfleger, Therapeutinnen und Therapeuten und alle anderen, die an meiner Rettung beteiligt waren, sind meine Schutzengel. Danke, euch allen! Wirklich!
        *herziundbussischick*
Trotzdem...Es ist nicht leicht, seine Eigenständigkeit zu verlieren. Und so wurde mein Weg für mich scheinbar immer länger, der Berg immer steiler und selbst bei wiederhergestellter Lungenfunktion die Luft immer dünner. Ich wurde immer ängstlicher, deprimierter und hoffnungsloser. Mit jedem Fortschritt. Je fester der Boden unter meinen Füßen wurde, desto schneller verlor ich mich ich im Morast meiner Angst, und je mehr Auftrieb ich hatte, desto tiefer versank ich in einem Meer der Hoffnungsdiktatur.
Ich musste gesund werden wollen. Ich musste wieder gehen können wollen. Ich musste kämpfen wollen und positiv denken wollen. Auch den Satz "du musst es wollen" habe ich gehört.
Ich musste wollen wollen.
Schon bald wollte ich nur noch eines:
Nicht mehr aufwachen.
So habe ich wohl unbewusst und getrieben von Genesungsangst damit begonnen, meine Heilung hinauszuzögern. Ich hätte jederzeit trainieren können. Hier in meinem Zimmer in Altenhof habe ich zwei lange Stützen an der Wand im Bad, an denen ich gut aus dem E-Rolli aufstehen kann. Und wie oft mache ich das? Alle paar Tage. Immer noch. Ich bin mittlerweile viel motivierter als noch vor einem Jahr und kann jetzt schon Dinge tun, an die früher gar nicht zu denken war, wie volle 1,5-Liter-Flaschen Cola vom Boden aufzuheben und auf den Tisch zu stellen. Auf der Neuro konnte ich noch nicht einmal einen leeren Joghurtbecher heben.
Dennoch gewinnt der Pessimismus immer wieder die Oberhand. Beispielsweise kann ich meine Füße noch immer nicht bewegen, also ist für mich der naheliegenste Gedanke: Alles andere ist verheilt oder fast verheilt, aber an den Füßen ist Schluss. Das wird nichts mehr. Wozu trainieren, wenn ich nie wieder richtig werde gehen können?
Also bleibe ich lieber im Rollstuhl sitzen und warte ein paar Tage, bis mein Physiotherapeut Wolfgang kommt und mich wieder motiviert. Er schafft das. Andere auch. Nur einer schafft das nicht:
Ich.
Meine negativen Gedanken umkreisen und belauern mich wie die Vögel in Hitchcocks Film. Nicht nur mein Weg, sondern das ganze Land bis hin zum Horizont ist bevölkert mit schwarzen Vögeln.
Irgendwann habe ich festgestellt, dass die Ängste und Sorgen zwar eine Bedrohung waren, aber sie hatten einen großen Vorteil:
Sie waren da.
Sie sind immer noch da.
Auf mich selbst kann ich mich nicht verlassen, aber die Angst ist da, wenn ich meine Zukunft nicht sehen kann. Ich bin Grafiker, aber ich habe kein Bild von meinem Leben. Meine Vergangenheit habe ich verloren, und meine Zukunft ist unauffindbar. Aber auf die Angst ist Verlass. Sie ist da, auch, wenn ich sie nicht brauche. Sie gibt mir Konsistenz. Meine Angst ist mein Anker im Sumpf.
So dachte ich lange Zeit. Mittlerweile wird mein Blick wieder klarer. Ohne es verschreien zu wollen, aber was meine Krankheit betrifft, kann mir eigentlich nichts mehr passieren. Das Wort eigentlich kann ich nicht leiden, es hat so etwas Schwammiges, als wäre die Zuversicht nur eine Qualle in meinem Sumpf. Aber meine Krankheit hat mich ein bisschen abergläubisch gemacht. Vorsichtshalber nichts verschreien.
Leider führte mich diese Vorsicht in einen Strudel aus negativem Denken, Hoffnungslosigkeit und Schicksalsergebenheit. Wenn man in der Früh aufwacht und als erstes eine Galgen und ein Trapez über sich sieht, ist das nicht gerade eine Motivation, gut gelaunt in den Tag zu starten. Keine Frage, meine Helfer sind meine Schutzengel, aber mein erster Blick fällt jeden Tag auf diesen Galgen und die Engel, die darunter stehen und mich ansehen. Inzwischen macht mir das nichts mehr aus, und die gute Laune kommt auch wieder zurück. Mit kleinen Schritten, so wie ich zurück ins Leben. 
Nur manchmal, in hoffnungsdunklen Nächten, wenn das Licht von draußen durch das Fenster in mein Zimmer scheint, wirft der Galgen ein schwarzes Kreuz an die Wand.
Dann fühle ich mich wie in einem Grab und spüre, wie meine Haare und meine Fingernägel wachsen.
Überkommt Sie gerade ein eiskalter Schauer? Gut. Dann wissen Sie, wie ich mich seit eineinhalb Jahren fühle. Tag für Tag. Nacht für Nacht. Und da soll man noch positiv denken müssen wollen.
Jetzt, heute, 21 Monate nach dem Ausbruch meines Krankheitsvesuvs, kühlt die Lava allmählich ab, und meine Lebensweg wird wieder begehbar. Meine dunklen Gedanken werden heller, und die Vögel fliegen weg. Sie können mich nicht mehr belagern, denn mit einem haben sie nicht gerechnet:
Die Straße ins Leben ist gesäumt mit Engeln.

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