Samstag, 21. März 2015

Meine Seele hinkt

Heute möchte ich über ein Thema schreiben, das mich schon seit dem Beginn meiner Erkrankung am Guillain-Barré-Syndrom beschäftigt. Das war vor eineinhalb Jahren. Seitdem schwelt es unter der Oberfläche und will jetzt offenbar zum Vorschein kommen.
Es geht um die Scham.
Damit meine ich aber nicht die natürliche Scham vor Nacktheit. Nackt zu sein bin ich inzwischen gewöhnt. Seit Juni 2013 werden an mir Untersuchungen durchgeführt, einzelne Teile meines Körpers wurden zu Dokumentationszwecken fotografiert, und ich bin nach wie vor pflegebedürftig, zumindest teilweise. Ich kann mir den Oberkörper zwar selbst waschen, nicht aber den Intimbereich, den Rücken und die Beine. Ich könnte es zwar mit vielen Verrenkungen, bin aber froh, dass es für mich gemacht wird. Dazu kommen noch die Katheter- und Stomapflege.
All das hat es mir schon sehr früh auf der Intensivstation abverlangt, jegliches Schamgefühl abzulegen. Interessanterweise fiel mir das nicht einmal schwer. Ich hatte ja auch keine andere Wahl. Sollte ich mich genieren, wenn junge Krankenschwestern meinen nackten Körper sahen und wuschen? Nein. Das habe ich nie getan. Dafür war mein Nervenkostüm viel zu löchrig. Selbst das Wechseln oder Saubermachen des Stomas im Beisein der Zimmerkollegen hat mich nicht gestört. Es war nunmal notwendig. Das ist es auch heute noch, obwohl ich hier im Behindertendorf in Altenhof ein eigenes Zimmer habe.
Nein, es ist nicht die Scham vor der Entblößung meiner intimsten Körperstellen, es ist etwas anderes. Etwas, womit ich nicht gerechnet habe, als ich noch im Krankenhaus auf der Intensivstation und auf der Neuro lag. Es begann erst im Reha-Zentrum am Gmundnerberg, aber selbst dort war es noch nicht so ausgeprägt wie jetzt. Mittlerweile belastet es mich doch sehr, und ich mache mich dadurch selbst zum Aussenseiter.
Es ist die Scham vor der Genesung.
Ich habe in einem früheren Blogartikel schon über die Angst vor dem Gesundwerden geschrieben. Über die ganzen Veränderungen, die dann auf mich zukommen werden und die Ungewissheit, was mir die Zukunft bringen wird. Aber Angst ist nur ein Teil des Gefühls, das ich gegenüber meinem Heilungsprozess habe. Vielleicht ist sie nicht einmal der bedeutendste Teil.
Viel wichtiger, weil so schwer zu begreifen, sind die Schuldgefühle, die ich bei der Aussicht auf Gesundung habe. Ich habe die besten Chancen, aus dem Rollstuhl wieder rauszukommen. Ich müsste nur mehr und etwas härter trainieren, mich mehr bemühen und richtig anstrengen.
Aber das tue ich nicht.
Gut, in der Vergangenheit hatte es noch körperliche oder technische Gründe. Entweder fühlte ich mich noch nicht sicher genug oder hatte Probleme mit meinem Katheter, der mir dann äußerst unangenehme Gefühle bescherte. Das hat mich davor zurückschrecken lassen, mich vor die beiden Stützstangen im Bad zu stellen, aufzustehen und meine Schrittübungen zu machen. Inzwischen habe ich festgestellt, dass das Training keine Probleme körperlicher oder technischer Art verursachen. Auch meine Unsicherheit und die Angst zu fallen sind weg.
Ich glaube, dass ich unterbewusst mein Training sabotiert habe, weil ich befürchtet habe, zu schnell wieder auf die Beine zu kommen. Diese Befürchtung habe ich jetzt noch.
Aber warum?
Ich möchte noch einmal kurz meine gegenwärtige Lebenssituation und mein Umfeld beschreiben. Ich habe das zwar schon in anderen Blogartikeln getan, aber zum besseren Verständnis dieses Textes hier eine kurze Übersicht.
Ich, Markus Gregory Pärm, 45 Jahre alt und im Jahre 2013 am Guillain-Barré-Syndrom erkrankt, lebe in einem kleinen Dorf für Menschen mit Beeinträchtigungen in Altenhof am Hausruck in Oberösterreich. Offiziell wird das Wort Beeinträchtigung verwendet, aber Behinderung oder Behinderter darf man auch sagen. Seit gut einem Jahr bin ich jetzt hier, habe hier meine größten Erfolge, meine schlimmsten Ängste und den furchtbarsten Moment in meinem Leben erlebt.
Hier, in Altenhof, bin ich zum ersten Mal selbstständig und aus eigener Kraft aus dem Rollstuhl aufgestanden, hier habe ich meine ersten zögerlichen drei Schritte gemacht, hier habe ich viele wunderbare Menschen kennengelernt, die mich entweder pflegen oder therapieren oder aber selbst hier wohnen, hier habe ich Angstanfälle, Depressionen und Schmerzen kennengelernt, und hier habe ich über die Mailbox meines Handys von meinem Bruder erfahren, dass meine Mutter gestorben ist.
In den gesamten 44 Jahren davor habe ich nicht so viele außergewöhnliche, beängstigende, hoffnungsvolle, schöne, schreckliche und todtraurige Dinge erlebt wie hier, im Behindertendorf Altenhof.
Ich kann nicht sagen, dass das Dorf zu meiner Heimat geworden ist, ich fühle mich hier auch nicht als Fremder, aber ich unterscheide mich von allen anderen Bewohnern in Altenhof in einem wesentlichen Punkt:
Ich bin gekommen, um zu gehen.
Wortwörtlich.
Ich bin hier, um aus dem Rollstuhl aufzustehen und das Gehen wieder zu erlernen. Die anderen Menschen hier im Dorf haben diese Möglichkeit nicht. Zumindest nicht, soviel mir bekannt ist. Immer wieder versterben Bewohner. Fast jede Woche sehe ich eine schwarze Fahne am Fahnenmast vor dem Haus. Ich begegne hier vielen leidenden, aber auch unglaublich optimistischen und lebensfrohen Menschen. Mein Ergotherapeut Johannes hat mir kürzlich gesagt, dass er niemanden hier im Dorf kennt, der sich selbst als krank bezeichnen würde. Ich will es ihm glauben, obwohl es für mich sehr schwer vorzustellen ist.
Dieser Umstand, dass ich der Einzige hier bin, der wieder gesund wird, hat dazu geführt, dass ich mich doch weitgehend isoliere und in mich selbst zurückziehe. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch! Das liegt nicht an den Menschen hier, sondern ausschließlich an mir selbst.
Worüber soll ich mit einem schwer behinderten Menschen reden? Soll ich ihm von meinen Fortschritten erzählen und dass ich inzwischen problemlos aus dem E-Rolli aufstehen kann, vorausgesetzt ich habe etwas zum Abstützen und festhalten? Soll ich damit prahlen was ich wieder alles kann, wie zum Beispiel einen Viererpack 1, 5-Liter-Flaschen Cola aufzuheben, wo ich doch vor eineinhalb Jahren noch nicht einmal einen leeren Joghurtbecher auch nur einen Millimeter über die Tischplatte heben konnte, weil die Lähmung noch zu stark und die Muskeln noch zu schwach waren?
Das kann ich nicht. Und das will ich auch nicht. Aber früher oder später würde es in einem Gespräch wohl passieren, oder man würde mich fragen. Was soll ich dann erzählen? Was für ein unbeschreiblich schönes Gefühl es ist, wenn die Kraft in den Beinen wieder zurückkommt? Oder auch nur der Hauch eines Gefühls auf der Haut?
Eine Bewohnerin hat mich in den letzten Monaten mehrmals darauf angesprochen, ob ich Interesse hätte, dieses Jahr nach Lourdes mitzukommen. Es wird alles von Assista organisiert, und es fliegen ein paar Dutzend Krankenschwestern mit, die sich um Katheter, Stoma, Pflege und den Rollstuhl kümmern würden. Ich habe abgelehnt, mit der Begründung, ich hätte Angst vor dem Fliegen, und das Ganze sei mir zu anstrengend. Das stimmt zwar beides, aber es ist nur ein Teil der Wahrheit.
Um geheilt zu werden, muss ich nicht nach Lourdes fliegen, ich muss nur mit dem E-Rolli ins Bad fahren, mich an die Stützstangen stellen und mein Training machen.
Aber ich tue es nicht.
Oder zumindest nur selten.
Ich weiß nicht, wie verrückt es ist, einen Genesungsschuldkomplex zu haben, aber ich weiß, dass ich ganz bestimmt einen habe. Ich habe hier Menschen gesehen, denen es im Laufe des letzten Jahres immer schlechter ging, bis sie schließlich gestorben sind. Ich hingegen werde wahrscheinlich nicht mehr sehr lange brauchen, um nicht mit dem elektrischen Rollstuhl ins Esszimmer zu fahren und mein Ragout mit Semmelknödeln in mich hineinzulöffeln, sondern auf meinen eigenen Füßen mit dem Rollator hineinzugehen.
Im Grunde ist es nur eine Frage des Trainings. Im Schweiß liegt der Unterschied zwischen üben und trainieren, hat mein Physiotherapeut Wolfgang gesagt. Er hat recht. Genau das sollte ich tun: Täglich trainieren.
Aber ich tue es nicht.
Auch hier bitte ich Sie, mich nicht falsch zu verstehen. Ich will nicht herumjammern, wie arm ich doch bin, weil es mir so gut geht und was für ein schweres Schicksal es doch ist, vom vollständig gelähmt sein wieder aus dem Rollstuhl aufstehen zu können. Aus eigener Kraft und auf eigenen Füßen, um diese Floskel zu verwenden. Zugegeben, ein prall gefüllter Stomabeutel ist eine gewisse Belastung, aber eher für alle anderen Menschen, als für mich selbst. Natürlich will ich den Stoma wieder loswerden und die Nahrung auf natürliche Art dem Kreislauf der Natur übergeben, aber solange ich ihn habe bin ich dankbar dafür. Wie oft wünscht man sich schnell eine Toilette herbei, befindet sich aber leider mitten auf einem mit Menschen angefüllten Stadtplatz oder in einem Kino? Ich weiß, dass es tragbare Toiletten gibt, aber möchten Sie sich da draufsetzen, während Sie in Salzburg über den Residenzplatz schlendern oder sich im Kino "Shades of Grey" ansehen?
Ich habe meine Campingtoilette direkt am Bauch angebracht.
Leider geil.
Doch zurück zum wahrscheinlich dümmsten Komplex der Welt: dem Schuldkomplex des Genesenden. Heilungsscham. Ich weiß, wie absurd es ist, sich dafür zu schämen, dass man wieder gesund wird, während andere krank oder behindert bleiben müssen.
Aber genau das tue ich.
Ich habe bisher mit niemandem darüber gesprochen. Ich weiß ja, was man mir sagen würde. Dass es absurd ist. Und dass ich diese Schuldgefühle nicht haben muss.
Aber ich habe sie trotzdem.
Wie genau die unterbewussten Mechanismen der Heilungsverzögerung und der Selbstsabotage funktionieren, weiß ich auch nicht. Ich weiß nur, dass ich es nicht absichtlich tue. Natürlich will ich gesund werden. Natürlich will ich wieder das Gras unter meinen Fußsohlen spüren und das Wasser des Attersees und der Adria auf meiner Haut. Ich möchte wieder einen Schneemann bauen, ein Glas Wasser mit einer Hand halten und daraus trinken ohne hinsehen zu müssen. Ich möchte wieder im Supermarkt in der Schlange stehen und mich im Bett im Halbschlaf von einer Seite auf die andere drehen. Einfach so.
Aber ich will dabei keine Schuldgefühle haben.
Ich glaube, ich bin der einzige werdende Ex-Behinderte in Altenhof. Nicht, dass das ein besonders schweres Schicksal wäre, aber es ist eine Tatsache, die mich blockiert. Und so einfach ansprechen kann ich sie auch nicht. Es gibt zwar viele Helfer, denen ich voll vertraue, aber das ist doch ein heikles Thema. Außerdem bin ich mir noch immer nicht sicher, wie bedeutend es wirklich ist.
Mein größtes Problem im Moment ist, dass ich mich selbst als gesunden Menschen noch nicht sehen kann. Es erscheint mir viel zu irreal zu glauben, dass ich einfach über den kleinen Platz zum Hauptgebäude gehen kann, oder die Straßen zwischen den Häusern entlang, hinunter zu dem kleinen Teich mit den Fischen, die aussehen wie Kois, aber keine sind. Ich frage mich, ob ich jemals das Reha-Service betreten werde. Betreten. Nicht mit dem E-Rolli hineinfahren, um den Reifendruck messen oder eine Sitzkissenanpassung machen zu lassen. Einfach reingehen, locker in die Runde grüßen, ein bisschen plaudern und mich an die alten Zeiten erinnern, als ich im Winter hierherfuhr, Angst hatte, eine Blasenentzündung oder eine Nierenbeckenentzündung zu bekommen, weil es draußen so kalt ist und ich friere und zittere und keinen Schneemann bauen kann, weil ich im Rollstuhl sitze und weil es in diesem Winter nicht schneit, sondern regnet.
Wie werde ich mich fühlen, wenn ich an den Rollstuhlfahrern vorbeigehe? Wie werden sie mich ansehen? Was werden sie denken? Sie werden sicher nicht neidisch sein, dafür schätze ich die Bewohner von Altenhof zu hoch ein.
Aber vielleicht irre ich mich.
Werde ich glücklich sein, wenn ich wieder gehen kann?
Ja, das werde ich.
Werde ich glücklich auf dem Weg dorthin sein?
Vielleicht. Wenn ich Glück habe.
Und wie überwinde ich die Scham der Genesung? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich entweder die Scham überwinden muss, oder sie wird mich niederdrücken. In den Rollstuhl, in die Depression, in die Angst vor mir selbst.
Kein sehr optimistisches Schlusswort, oder? Übrigens schreibe ich diesen Text, weil Sie sich darin vielleicht wiedererkennen. Vielleicht leiden auch Sie am Guillain-Barré-Syndrom. Oder sie kennen die Schuldgefühle des Überlebenden aus einem anderen Grund. Viele Menschen sind am Guillain-Barré-Syndrom gestorben. Ich nicht. Bin ich deshalb etwas Besseres? Sicher nicht. Oder doch? Darf ich so denken? Darf ich mich den Anderen überlegen fühlen? Den Kranken und den Toten?
Als ich auf der Intensivstation aufwachte und nicht mehr war als ein Kopf, hätte ich nie geglaubt, dass mich jemals solche Gedanken plagen würden. Ich wollte nur Eines: wieder gesund werden. Jetzt ist dieses Ziel in greifbarer Nähe, ich spüre die Zielbanderole sogar schon an meinen Fingerspitzen.
Meine Füße wollen über die Ziellinie, aber meine Seele hinkt.
Habe ich es überhaupt verdient, gesund zu werden? Im Vergleich zu anderen Menschen, denen es viel schlechter geht, die viel mehr leiden und die viel bessere und umgänglichere Menschen sind als ich.
Ich weiß, dieser Blogbeitrag ist keine große Motivation für  GBS-Leidensgenossen und andere Betroffene. Aber ich wollte einen kleinen Einblick in die schräge Gedankenwelt eines werdenden Ex-Behinderten geben. Vielleicht lesen Sie diese Zeilen selbst in einem Rollstuhl oder einem Krankenbett. Oder sie bekommen sie vorgelesen. Wie auch immer, ich hoffe, diese Zeilen spenden Ihnen ein bisschen Trost und geben Ihnen etwas Hoffnung, weil Sie sich in meiner Welt wiedererkennen.
Ich habe keine Antworten auf all die Fragen, die mich beschäftigen. Noch nicht. Vielleicht finde ich sie unterwegs. Möglicherweise nicht. Vielleicht werde ich gesund, ohne die große Weisheit zu erlangen.
Aber wenn ich auch nur den Hauch einer Antwort auf meiner Haut spüre, lasse ich es Sie wissen.
Das tue ich ganz bestimmt!

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