Samstag, 7. März 2015

Dämonengesichter

Auf der Neuro im Krankenhaus, wo ich im Jahr 2013 vier Monate meines Lebens verbrachte, habe ich mit einer Psychologin verschiedene Entspannung- und Visualisierungsübungen gemacht.
Eine davon heisst "Das Innere Team". Man kann diese Übung mit einem Therapeuten, Freunden, Verwandten, aber auch alleine machen. Natürlich ist es am besten, wenn ein erfahrener Therapeut dabei ist. Diese Übung wird nur in Gedanken durchgeführt, man gibt also nichts von sich preis.
Hier eine kurze Zusammenfassung dieser Übung. Ich zitiere aus Wikipedia: "Das Innere Team ist ein Persönlichkeitsmodell des Hamburger Psychologen Friedemann Schulz von Thun. Die Pluralität des menschlichen Innenlebens wird darin mit der Metapher eines Teams und seines Leiters dargestellt. Das soll die Selbstklärung in zwiespältigen Situationen unterstützen und damit die Voraussetzung für eine klare und authentische Kommunikation nach außen bieten."
Und das geht so: Zuerst beginnt man mit Entspannungsübungen. Am besten ist es, dabei im Bett zu liegen, aber sicher kann man das auch im Sitzen machen. Wenn Sie meditieren, werden Sie ihre bevorzugte Körperhaltung kennen. Ich hatte damals keine Wahl, denn mit den Resten einer ausgeprägten Tetraparese hat man nicht die Wahl, ob man sitzen oder liegen will. Zumindest nicht aus eigener Kraft. Eine Tetraparese ist eine Lähmung aller vier Gliedmaßen. Die Arme konnte ich damals zwar schon bewegen, aber ich konnte weder greifen, noch hatte ich auch nur die geringste Rumpfstabilität, um frei sitzen zu können.
Also lag ich in meinem Krankenbett, zugedeckt, die Hände auf der Brust und tat, was die junge Frau Magistra mir sagte. Ich schloss meine Augen, atmete gleichmäßig und ruhig und konzentrierte mich vom Kopf bis zu den Zehen auf meinen Körper. Ich sollte ihn so gut wie möglich entspannen und wahrnehmen. Den Körper zu entspannen ist beim Guillain-Barré-Syndrom kein Problem, denn es ist eine schlaffe Lähmung, und Spastiken hatte ich nur in den Händen. Darum sind auch jetzt meine Finger noch etwas verkrümmt, während ich diese Zeilen mit zwei Zeigefingern in mein iPad tippe.
Mit der Wahrnehmung sah es schon ganz anders aus. Ich spürte so gut wie nichts von meinem Körper, außer Hüftschmerzen und den transurethralen Dauerkatheter in meiner Harnblase. Den habe ich immer noch. Nicht denselben, aber das gelbe Scheusal ist im Laufe der letzten eineinhalb Jahre zu meinem besten Feind geworden.
Zurück zur Therapieübung. Frau Magistra Josefa sagte zu mir, ich solle mir vorstellen, ich würde in einem Raum an einem Tisch sitzen. Ich stellte mir einen Konferenzraum vor, wie ich ihn noch von meiner Arbeit als Grafiker aus Werbeagenturen kannte. mir gegenüber befand sich eine Tür, im Raum herrscht eine angenehme Athmosphäre. Ach ja, der Tisch ist rund. Natürlich. Man will ja auf gleicher Ebene miteinander reden.
Aber worüber reden? Und mit wem?
In weiterer Folge stellt man sich vor, wie man selbst den Raum betritt.
Zuerst als Embryo. Dann als kleines Kind. Dann als Teenager. Dann in den Jahren um die Zwanzig. Dann im gegenwärtigen Alter und zum Schluss als alter Mann.
Nach und nach unterhält man sich mit sich selbst in den verschiedenen Stadien seines Lebens. Man befragt sich darüber, wie das Leben zu jenen Zeiten ist, welche Träume und Ängste man hat und wie man sich seine Zukunft vorstellt. Danach verabschiedet man sich von allen Versionen des eigenen Ichs, und die stehen auf und verlassen nach und nach den Raum.
Ich entspanne mich wieder, atme tief und ruhig, und irgendwann sagt Magistra Josefa, ich solle die Augen öffnen und wieder im Hier und Jetzt sein.
Diese Übung "Das Innere Team" hat mich beängstigt. Sehr. Ich habe es meiner Therapeutin nicht gesagt, aber die Vorstellung, mit mir selbst zu reden und die Geschichten meines Scheiterns, meiner verlorenen Illusionen und zerbrochenen Träume zu hören, zehrten mehr an meinen Nerven als das Guillain-Barré-Syndrom.
Besonders der Embryo ist unheimlich, wie er winzig und verkrümmt, mit einem Gesicht wie E. T. auf einem rollbaren hohen Kinderesstisch sitzt und mich anlächelt. Er gestikuliert mit seinen Ärmchen und sagt mir, dass er mich lieb hat. Trotz meiner Lähmung zittere ich am ganzen Körper.
Ich mag meine Therapeutin Josefa. Sie ist sympathisch und kompetent. Ich freue mich immer, wenn sie mich besucht und mir mehrere Übungen vorschlägt, von denen ich mir eine aussuchen kann. Aber an diesem Tag bin ich froh, als sie wieder geht.
Inzwischen führe ich die Übung mit dem Inneren Team auf meine eigene Art durch. Auch dabei liege ich im Bett. Ich stelle mir Momente aus meinem Leben vor, in denen ich traurig, verletzt oder enttäuscht war. Ich suche mir ein Lebensalter aus, zum Beispiel, als ich Volksschüler war.
Ich stehe auf dem Schulweg zur Volksschule in Seewalchen am Attersee. Ich bin acht oder neun Jahre alt. Da gibt es ein Mädchen, in das ich sehr verliebt bin. Sie heisst Yvonne, hat wunderschöne lachende Augen und brünette Zöpfe. Es ist ein Regentag. Natürlich. Here' s That Rainy Day. Der Schultag ist vorbei, und ich bin auf dem Heimweg.
Aus irgendeinem Grund drehe ich mich noch einmal um und blicke zurück. Ich glaube zwar nicht an Dämonen, aber falls es sie doch gibt, muss wohl einer neben mir gestanden und mir das eingeflüstert haben. Oder er hat mich umgedreht, damit ich das sehen konnte, was mich bis heute nicht mehr loslässt.
Trivial, vielleicht. Aber ein Teil des Risses in meinem Herzen, der sich bis tief in die Seele zieht.
Mein bester Freund legt Yvonne einen gelben Regenmantel um den Kopf und den Rücken, umarmt sie, und sie gehen beide in die Richtung zu Yvonnes Haus. Ich weiß nicht, ob sie sich unter dem Regenmantel geküsst haben, aber ich könnte schwören, dass sie es getan haben. Und wenn nicht da, dann sicher später. Mich hat Yvonne nie geküsst. Ich war ein dickes Kind. Und unsportlich.
Ich habe damals nicht geweint, sondern mich umgedreht und bin nach Hause gegangen. Es kann auch sein, dass ich beim Fleischhauer Hringer. Neben der Kirche einen Zwischenstopp eingelegt habe, um mir in dem kleinen Geschäft eine Semmel mit aufgeschnittenem kalten Leberkäse und Essiggurken zu kaufen. Fünf Schilling, damals. Die hatte ich immer in der Hosentasche. Ich war ein dickes Kind.
Aber mir kommen heute die Tränen, wenn ich als erwachsener Mensch dem kleinen Buben von damals gegenübertrete, seinen enttäuschten Blick sehe, in die Hocke gehe und ihn in die Arme nehme. Ich tröste ihn. Wir weinen beide.
Dann öffne ich meine Augen und liege wieder in meinem Krankenbett in meinem Zimmer im Behindertendorf in Altenhof am Hausruck und blicke in die Dunkelheit, die nur von der grünen Glühlampe des Akkus an meinem elektrischen Rollstuhl erhellt wird.
Die Tränen sind tröstlich. Manchmal ist weinen schön. Es ist heilsam.
Es gibt viele Versionen von mir in verschiedenen Lebensaltern mit vielen ähnlichen und viel schlimmeren Erlebnissen. Viel schlimmer.
Also noch viele Markusse, die es zu trösten und Dämonen, die es zu bannen gilt.
Aber wissen Sie, was das Schlimmste an den Dämonen meines Lebens ist, an die ich ja gar nicht glaube?
Die Dämonen haben mein Gesicht.

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