Samstag, 13. Juni 2015

Was vom Leben übrig blieb

Heute hat mich mein Bruder besucht und mein früheres Leben durch die Tür hereingeschoben. Was vom Leben übrig blieb, befindet sich in zwei großen grauen Plastikkisten. Es sind die wichtigsten Erinnerungen, die er aus meiner früheren Wohnung in Seewalchen am Attersee retten konnte. 
Ich sage retten, weil die Landeswohngenossenschaft LAWOG sich dazu entschlossen hat, mir die Wohnung, in der ich 41 Jahre meines Lebens verbracht habe, wegzunehmen, weil ich seit dem Tod meiner Mutter ein Jahr lang nicht dort war. Meine E-Mail, in der ich erklärt habe, warum nicht, blieb unbeantwortet. Das von mir vorgebrachte Argument, dass ich die Wohnung nicht bewohnt habe, weil ich das aus gesundheitlichen Gründen nicht konnte, beeindruckte dort niemanden.
So werde ich die Wohnung, in der ich aufgewachsen bin, in der ich viel gelacht, geweint und mich gefürchtet habe, nie wieder betreten. Egal. Mama ist tot. Das ist das Schlimmste, was mir je passiert ist. Im Vergleich zu diesem Verlust ist mir das Guillain-Barré-Syndrom mit all seinen Begleiterscheinungen nur ein müdes Gähnen wert. Auch, der Verlust unserer alten Wohnung, die die einzige Heimat war, die ich jemals hatte, ist dagegen bedeutungslos. Und alt ist die Wohnung wirklich. Das Haus wurde, glaube ich, irgendwann in den 60er-Jahren erbaut, die Wasserleitungen waren schon ziemlich desolat, die Türen, samt Klinken, wacklig. Alles hat schon ziemlich altersschwach ausgesehen, und jeder vernünftige Mensch hätte sich gedacht, ich will da so schnell wie möglich weg. Selbst meine Mutter wollte das. Ihr Umzug auf einen Urnenfriedhof war dabei allerdings nicht vorgesehen. Außerdem wurden in Seewalchen nach und nach riesige neue Wohnblöcke aus dem Boden gestampft, und der Ausblick auf das bisschen Grün eines Hügels mit der Autobahn, ist inzwischen wohl auch schon weg. Es würde mich nicht einmal wundern, wenn man nicht einmal den Himmel mehr sehen kann.
Aber auch das ist egal. Wenn ich sehen will, wo Mama jetzt ist, kann ich auch hier in Altenhof in den Himmel schauen.
Doch selbst der Himmel hat sich seit dem Ausbruch meiner Krankheit verändert. Früher habe ich gerne die Wölkchen am blauen Himmel gesehen, aber jetzt sind sie mir unheimlich. Ich kann nicht erklären, warum, aber jedes Mal, wenn ich in den Himmel blicke und die Wolken sehe, schaue ich lieber schnell wieder weg. Wie sie an mir vorbeiziehen, genauso, wie das Leben an mir vorbeigezogen ist und jetzt in zwei grauen Särgen liegt. In der Zimmerecke. Weil anderswo kein Platz ist.
Kein Platz für das Leben.
Unheimlich. Der Himmel hat Zähne.
Ich frage mich, wann ich den Mut haben werde, die Kisten zu öffnen und hineinzusehen. Um einen Blick in mein ungelebtes Leben zu werfen. Wieder mal so ein Abgrund. Und wieder einmal blickt der Abgrund in mich zurück. Dieser Blick in die grauen Kisten wird für mich kein Stöbern in alten Erinnerungen sein. Keine Reise in die Vergangenheit Kein Wiederauflebenlassen der guten alten Zeiten. Keine Träne im Knopfloch oder ein Jaja-wie-die-Zeit-vergeht-Schmunzeln im wehmütig dreinblickenden Gesicht eines Junggebliebenen, der jedes Jahr seinen zweiten Geburtstag feiert. Oder irgendein anderer kitschiger Bullshit dieser Art. Es wird das sein, was die Auseinandersetzung mit meinen Erinnerungen immer ist.
Ein Blick in den Spiegel.
Ein Blick in zwei graue...
...Spiegelsärge.
Heute bin ich wieder mal ein bisschen depri drauf. Ich weiß nicht, ob Sie das schon bemerkt haben. Ich hoffe nur, dass Sie meinen heutigen Blogeintrag nicht mit guter Laune zu lesen begonnen haben und ihnen die jetzt vergangen ist. Ich würde ja lieber etwas Lustiges schreiben. Ich frage mich gerade, was das Lustigste ist, das ich jemals erlebt habe und stelle fest, dass ich auf diese Art das erreichen kann, wofür Buddhisten ihr ganzes Leben lang meditieren. Oder sogar viele Leben hintereinander.
Die absolute Leere.
Ich weiß, das klingt nicht komisch, hat aber doch einen gewissen Schmunzelwert. Wenn ich an das Lustigste Ereignis meines Lebens denke, fällt mir nichts ein. 
Im Laufe der letzten zwei Jahre habe ich oft die Erfahrung gemacht, dass ich auf gewisse Dinge anders reagiere als früher. Wenn ich mich eigentlich freuen sollte, werde ich traurig, gute Nachrichten machen mir Angst, Fortschritte werfen mich zurück, und anstatt endlich gesund werden zu wollen, warte ich lieber ab, weil mir alles zu schnell geht und ich sehr oft glaube, dass mir alles zuviel wird.
Insbesondere das Wollen müssen. Vielleicht sollte ich das in einem Wort zusammenschreiben. Wollenmüssen.
Das Wollenmüssen ist entmutigend.
Manchmal glaube ich, ich kann mich gar nicht mehr retten vor lauter Fortschritten und Erfolgserlebnissen. Die Krankheit Guillain-Barré-Syndrom scheint nach dem Mehrwertprinzip zu funktionieren. Alles wird besser, schneller und gesünder. Dass ich mich als Patient manchmal so fühlte, als würde ich auf dem Fortschrittsweg auf der Strecke bleiben, passt nicht in das Bild des Kämpfen-Wollen-Müssers und Gesund-Werden-Wollen-Müssers.
Schon bei der Reha, als ich nicht glaubte, dass ich es schaffe, stundenlang im Rollstuhl zu sitzen, hat mich eine Krankenschwester gefragt, ob ich eigentlich gesund werden wolle. Damals war ich noch so gut wie vollständig gelähmt und konnte nur die Arme ein bisschen bewegen. Ich sagte ja, ich wolle gesund werden, aber ich dachte mir, ich will nicht gesund werden wollen müssen.
Aber was tut das Ego gegen den Hoffnungszwang und die Hilfstyrannei?
Ich habe den Kampf gegen den Kampf irgendwann aufgegeben. Ich habe mich einfach der Diktatur des Gesund-Werden-Wollen-Müssens gebeugt und bin weiter meinem Ziel entgegengetaumelt, während mir das Schicksal einen Meilenstein nach dem anderen in den Weg gestellt hat.
Irgendwann wollte ich nicht mehr der Kämpfer sein, zu dem mit einem Ton herrischer Hilfsbereitschaft gesagt wird: "Sie wollen doch gesund werden, oder?" Ja, natürlich wollte ich gesund werden.
Aber ich will nicht gesund werden müssen.
Ich weiß, das klingt undankbar, denn letztlich war ich ja freiwillig in all den Therapien und bei all den Untersuchungen. Ich weiß auch, dass alle, die mir auf dem Weg bisher beigestanden haben und noch heute beistehen, nicht nur ihr Bestes getan, sondern auch ihr Bestes gemeint haben. Ich bin dankbar, sehr sogar. Unendlich dankbar. Das meine ich ernst, das ist kein Zynismus.
Ich will mit diesen Worten nur sagen, dass es oft unglaublich mühsam ist, das eigene Ich abzuschalten und das Wollen von Anderen definiert zu bekommen. Schließlich gibt es keine Argumente gegen Sätze wie: "Aber wir meinen es doch nur gut", "Sie sind doch freiwillig hier. Niemand zwingt Sie" und "Sie wollen doch gesund werden, oder?"
Aber ist nicht die Unterbreitung eines vermuteten Wunsches und das Voraussetzen des Geheilt-Werden-Wollens nicht doch ein Zwang? Ich bin oft gefragt worden, ob ich gesund werden will, aber niemand hat mich je gefragt, ob ich vielleicht gelähmt, hoffnungslos und mutlos bleiben will.
Natürlich will ich das nicht, aber ich hätte dann zumindest die Wahl gehabt. Klar, ich wäre dann überall rausgeflogen, und ich werde nie den enttäuschten Blick der Ergotherapeutin vergessen, als ich nicht querbett sitzend essen wollte, weil mir davon schwindlig wurde und der Katheter auf die Blase gedrückt hat wie ein Stacheldraht. Sie hat es gut gemeint, keine Frage. Und sie hat es auch gut gemacht, schließlich war sie es, die meine gelähmten Arme wieder mobilisiert hat. Danke, Christine.
Vielleicht denke und handle ich so, weil das Guillain-Barré-Syndrom mich verändert hat. Nicht der Himmel ist anders geworden, sondern ich. Und unheimlich sind auch nicht die Wolken und auch nicht die Spiegelsärge, sondern die Verwandlung, die mit mir geschehen ist.
Und jetzt ein Bekenntnis, das wohl keiner von mir erwartet, der diesen Blog liest oder mich persönlich kennt:
Ich glaube, es ist eine gute Verwandlung.
Eine sehr gute sogar.
Vielleicht noch nicht ganz so gut wie die von der bösen Frau Marzahn in den goldenen Drachen der Weisheit, aber schon ein gewaltiger Unterschied zu meinem früheren Ich. Noch wird aus dem gewissen Schmunzelwert kein Lachkrampf, aber ein Schmunzelkrampf ist doch auch ein Anfang.
Letztlich liegt doch ein Trost in den schönen Erinnerungen. Die Vergangenheit ist tot und die Zukunft ungeboren. Die Gegenwart heilt langsam, Schritt für Schritt. Aber die Erinnerung lebt. Man darf sie nur nicht durch die Trauer über den Verlust beflecken lassen. Schließlich ist die lebendige Erinnerung an vergangene Glückstage das einzige, was die Zeit überdauert.
Was vom Leben übrig blieb.

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