Samstag, 27. Juni 2015

Krankheit und Heilung - Meine GBS-Chronik

Heute gebe ich wieder einmal einen Überblick über meinen Gesundheitszustand und meine Fortschritte, seit ich im Juni 2013 am Guillain-Barré-Syndrom erkrankte. Dieser Beitrag soll dazu dienen, allen Betroffenen, die selber unter GBS leiden, zu zeigen, was sich nach der sogenannten Plateau-Phase, also dem akuten Anfangsstadium der Krankheit,innerhalb von zwei Jahren alles tun kann.
Ich werde keine medizinischen Befunde zitieren und auch nicht zu sehr ins Detail gehen oder mich in Kleinigkeiten verzetteln, sondern einen grobe Schilderung der wichtigsten Momente geben.
Ich habe schon einmal einen Blogartikel mit einer Zusammenfassung der Ereignisse von Juni 2013 bis November 2014 veröffentlicht. Das Wichtigste daraus gebe ich hier noch einmal wieder, danach dann meinen Weg seit Januar 2015.
Was erwartet einen Menschen, der die Diagnose Guillain-Barré-Syndrom gestellt bekommt? Was steht Ihnen bevor, wenn Sie aufwachen und vom Kopf bis in die Zehenspitzen komplett gelähmt sind?
Es muss nicht jedem Menschen mit GBS genau so ergehen wie mir, aber meine Geschichte ist durchaus exemplarisch. Es besteht also für jeden, der an GBS leidet, dieselbe Hoffnung und Wahrscheinlichkeit, wieder geheilt zu werden.
Ganz geheilt bin ich jetzt, 24 Monate nach dem Ausbruch meines Krieges, noch immer nicht, aber auf dem besten Weg dorthin.
Der Weg ist ja da, wie Sie vielleicht aus meinen anderen Blogartikeln wissen. Man muss ihn nur sehen, bevor man ihn beschreiten kann. Meine Verzweiflung hat sich zuerst in Hoffnung verwandelt, dann in Fortschritte und Zuversicht, in Kraft, in Kampfgeist und in wiedererwachende Lebensfreude.
Und in eigene Schritte.
Eigene Schritte, Leute!
Hier sind sie:

Juni - August 2013: 

• Zusammenbruch zu Hause. Ich falle vor dem Bett hin und kann nicht mehr aufstehen.
• Einige Tage bleibe ich zu Hause. Ich weigere mich, ins Krankenhaus eingeliefert zu werden. Angst.
• Einlieferung ins Krankenhaus Vöcklabruck/Oberösterreich (www.lkh-voecklabruck.at).
• Bin bewusstlos. Keine Erinnerung.
• Herzstillstand
• Wiederbelebung
• Intensivstation.
• Intensivstation (Stroke Unit). Bewusstlos.
• Nierenversagen.
• Künstliche Beatmung.
• Dialyse.
• Massive Darmblutungen.
• Darmsepsis.
• Notoperation. 2 Meter Dünndarm werden entfernt.
• Transversaler Stoma wird angelegt.
• Diagnose Guillain-Barré-Syndrom. 
• Vom Hals abwärts bis zu den Zehenspitzen vollkommen gelähmt. 
• Immunglobuline (intravenös).
• Ich werde von Krankenschwestern gefüttert.
• Ich glaube, ich bin kein Mensch mehr.
• Schöne Gespräche mit Seelsorgerin. Schöpfe wieder Hoffnung.
• Ergo- und Physiotherapie.
• Minimale Bewegungen der Arme und Schultern.
• Aufrecht stehen im Stryker.
• Immer durstig. Darf fast nichts trinken. Träume vom Wassertrinken.
• Angst. Oneiroide Albträume der schlimmsten Sorte.
• Tränen, Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit.
• Muskelzucken, besonders vor dem Einschlafen.


August - Dezember 2013:

• Verlegung auf Station für Neurologie.
• Ein Arzt sagt mir, dass ich vielleicht den Rest meines Lebens gelähmt bleibe.
• Weiterhin Therapien, Tabletten, Infusionen.
• Hüftschmerzen bei der Physiotherapie und beim Sitzen im Bett.
• Ängste. Psychotherapie.  
• Immunglobuline (intravenös).
• Katheterwechsel. Panik. Antibiotika gegen Harnwegsinfekt.
• Noch immer komplett gelähmt mit der Fähigkeit, die Schultern ein bisschen zu bewegen. • Ich werde von Krankenschwestern gefüttert.
• Physiotherapie in einem Pflegesessel.
• Katheterspülungen.
• Motomed-Training, um die Arme zu stärken.
• Elektrische Beinschienen, um die Muskeln und Gelenke durchzubewegen.
• Aufbauende Gespräche mit Seelsorgerin.
• Weitere langsame Fortschritte.
• Kann linken Zeigefinger minimal bewegen. 
• Spritzen zur Thrombosevorbeugung. 
• Therapien schlagen an, kann meine Arme bewegen und mich im Bett ein wenig zurechtpositionieren.
• Mit den Ellenbogen betätige ich die Steuerung des Krankenbettes. Manchmal verkeile ich mich so, dass ich mich nicht mehr aufsetzen kann. Kollege im Zimmer ruft Krankenschwester.
• Kann auf dem iPad tippen. Drei Sätze, dann wird es zu anstrengend.
• Mehr Fortschritte.
• Entlassung aus dem Krankenhaus.


Dezember 2013 - April 2014:

• Verlegung ins Neurologische Therapiezentrum Gmundnerberg (www.ntgb.at).
• Herrlicher Ausblick auf den Traunstein. Kann es schon am zweiten Tag nicht mehr hören.
• Sehr viel Therapie (bis zu viermal täglich je eine Stunde). Das Training ist oft anstrengend, aber selbst ein Pessimist wie ich sieht die Fortschritte.
• Besserung.
• Hüftschmerzen bei den Therapien. Fühlt sich an, als würde man mir einen Meissel in die Knochen schlagen.
• Katheterspülungen.
• Physiotherapie. Querbettsitzen zum Training der Rumpfstabilität. Seitliches Hinlegen und wieder hochstemmen. Sehr anstrengend, geht aber. Nach Plastikhütchen greifen und aufeinanderstapeln. Therapeutin Christine hält sie hoch und weit weg.
• Langsame Fortschritte
• Querbettsitzen auf Therapieliege. Übungen wie gehabt.
• Zunehmende Kraft. 
• 2-Euromünze in Cola-Automat geworfen. I Am The Greatest!
• Aktivierende Pflege in der Früh. Ich werde gewaschen und somit aktiviert. Allerdings fühle ich mich danach genauso inaktiv wie vorher. 
• ADL (Aufgaben des Lebens). Selber Oberkörper waschen im Bett. 
• Ergotherapie im Bett. Frühstücken. Nach kleinen Brotstückchen greifen.
• Kann nicht greifen, lerne aber wieder selber zu essen und die Zähne zu putzen.
• Mittag- und Abendessen werden mir eingegeben. Füttern sagt man nicht. Dann selber essen mit Gabel und einem Sicherheitsring am Teller. Putenfleisch. Kartoffeln. Spinat.
• Anpassung Rollstuhl. Werde vermessen. Mein rollender Sarg, denke ich. Maßgeschneidert.
• Sitzen im Aufenthaltsraum. Essen zuerst noch mühsam. Herrlicher Ausblick! Herrlich! Ehrlich!
• Elektrotherapie der Arme und Beine, kann Arme gut bewegen, Hände noch fast gar nicht.
• Katheterwechsel.
• Motomed für die Arme. 
• Übungen für die Rumpfstabilität,  
• Ergotherapie im Bett. Zwei Therapeutinnen kommen und bewegen meine Beine durch. Schmerzen. Extrem unangenehm, aber ebenso extrem hilfreich.
• Tippen auf iPad und iPhone mit linkem Zeigefinger. 
• Spritzen zur Thrombosevorbeugung. 
• Angst, aber nicht mehr so große. Kaum Zuversicht. Immer Traurig.
• Weihnachten. Silvester. Interessiert mich nicht.
• Aufstehübungen mit Gurt an einem Stehtisch. Funktioniert gut. Hüfte tut weh, aber ich freue mich über die ungewohnte Perspektive. Zum ersten Mal sehe ich meine Therapeutinnen in Augenhöhe.
• Zirkumzision in Vöcklabruck. Schwitze Blut und Wasser. Extremer Stress, trotz sieben Anästhesiespritzen. Schnipp-schnapp, Vorhaut ab! Endlich bin ich ein richtiger Mann! Yeaaah!
• Back on Gmundnerberg. Was ein Wunderwerk!
• Wieder Physiotherapie. Am Seilzug. Gewichte hochziehen. Gefällt mir. Fühle mich stark.
• Sekundärnaht zur Zirkumzision. Bei Therapie aufgeplatzt. Zehn Tage Krankenhaus.
• Keine Spritzen zur Thrombosevorbeugung mehr. 
• Dickes rechtes Bein. 
• Tiefenvenenthrombose im Becken.
• Gefahr einer Lungenembolie.
• Wenn das Blutgerinnsel meine Lunge erreicht, heißt es "Adios, muchachas!"
• Extreme Todesangst. Damit meine ich nicht "Zu Hüüülfe! Ich stööörbe!", sondern das Gefühl, der grimme Schnitter steht mit hoch erobener Sense hinter mir. Ich hatte in meinem Leben noch nie eine solche Angst und will sie auch nie wieder haben. 
• Don' t Fear The Reaper. 
• Hohes Fieber, Bettruhe eine Woche lang.
• Zurück in den Rollstuhl.
• Wieder Anti-Thrombosespritzen. 
• Katheterspülungen.
• Wenig Lebensfreude.
• Starkes Blutverdünnungsmedikament.
• Teilexzision rechte Zehe (Zehennagel wird gezogen).
• Antrag auf Reha-Verlängerung abgelehnt.
• Entlassung. Mount Gmunden is überwunden.


April - Dezember 2014:

• Verlegung nach Altenhof am Hausruck (www.assista.org).
• Angst gehabt, aber gleich wohl gefühlt. 
• Viele liebe und lebensfrohe Menschen.  
• Katheterangst. Zwickt, staut, drückt. Ich hasse ihn. ICH HASSE IHN!
• Mineralwasserflasche anzuheben versucht. Geht mit zwei Händen, aber nur kurz und nur wenige Zentimeter über den Tisch.
• Ergotherapie mit Erbsen. Nicht zählen, sondern Münzen aus Eimer rausfischen. 
• Keilkissen gegen Hüftschmerzen, schmerzfrei innerhalb einer Woche.
• Ausflug im E-Rolli mit Pfleger Christoph und Mitbewohner Rainer in den Wald bei Altenhof. Super Tag, trotz Katheter.
• Cola-Flasche aufgeschraubt. Fühle mich stärker als Popeye. Ohne Spinat.
• Selber gegessen. Suppe problemlos. Hauptgericht wird mir geschnitten.
• Physiotherapie: Cola-Flaschen heben.
• Aufstehübung im Stehlifter.
• Aufstehen am Barren.
• Handschienen zum Training des Abduktors. Daumenmuskel.
• Neuro Move. Elektrische Impulse für die Muskelaktivierung der Hände.
• Daumenballen wird beweglicher.
• Beinmuskulatur wird stärker.
• Angstanfälle.
• Katheterspülungen.
• Elektrischer Rollstuhl. Fahre durch die Gegend. Über die unendlichen Highways von Altenhof. Ich spüre den Fahrtwind in meinem Gesicht und rieche den Duft der Freiheit. Nein, Moment...Der Stoma ist aufgegangen.
• Harnwegsinfekt.  
• Latente Gefahr einer Nierenbeckenentzündung mit anschließendem Begräbnis. Aber ich bin cooler geworden und mache mir wenig draus. Irgendwann stirbt man sowieso.
• Aufstehen aus dem Rollstuhl.
• Motorik der Hände wird besser. Bekomme die Daumenspitzen aber noch nicht zu den Fingerspitzen.
• Aufstehen am Barren.
• Tippen mit beiden Zeigefingern.
• Bloggen.
• Freihändiges Stehen am Rollator, allerdings sehr wacklig. Ich balanciere mit den Armen und sehe dabei echt cool aus. Wie ein Surfer. Rede ich mir ein. 
• Drei eigene Schritte vorwärts. In diesem Moment ändert sich alles. Ich kann wieder gehen. 
• I' m walking. Yes, indeed! 


Januar - Juni 2015:

• Aufstehen aus dem Rollstuhl an zwei Stützen im Bad.
• Körperlich große Fortschritte. Mehr Kraft. Mehr Sicherheit. 
• Glaube an Heilung wird trotzdem immer schwächer.
• Immer deprimierter. Glaube nicht mehr, jemals wieder gesund zu werden.
• Angst.
• Wöchentliche Gesprächstherapie. Neue Hoffnung.

• Weitere Aufstehübungen im Badezimmer mit zwei langen Querstützen an der Wand.
Transferübungen auf die Toilette. Ich stütze mich an den beiden Stangen ab, stehe aus dem E-Rolli auf drehe mich mit kleinen Schritten um 180 Grad und setze mich auf die Toilette. Nur zur Übung. Alles andere erledigen Stoma und Katheter. Anfangs fällt es mir sehr schwer, aber mit jedem Mal wird es leichter.

• Gehraining mit Laufkatze. Ein Holzbarren, der sich mit mir mitbewegt. Es fällt mir nicht schwer, eine Distanz von etwa fünf Metern dreimal hintereinander zurückzulegen. Ich bin glücklich. Ich kann zwar noch nicht freihändig gehen, aber ich kann wieder gehen!

• Gößtes Problem: Meine Füße. Ich kann die Vorfüße (Fußrücken) nicht anheben und habe dadurch keinen Halt. Ich kippe nach hinten weg. Das macht das freihändige Stehen zum Balanceakt und das freihändige Gehen unmöglich. Noch! Ich bin wesentlich zuversichtlicher geworden. 
• Here I Go Again On My Own.

• Ich mache noch immer wöchentlich die klientenzentrierte Gesprächstherapie nach Carl Rogers. Dabei kann ich mir bei meiner Therapeutin alles von der Seele reden und bin überrascht über meine seelischen Fortschritte und was ich alles von mir preisgebe.

• Aufstehversuche am Schreibtisch in meinem Zimmer. Ohne Stützstangen an der Wand. Meine Idee. Mein Physiotherapeut Wolfgang unterstützt mich. Ich versuche, mich aus dem E-Rolli hochzustemmen, die Handflächen auf die Tischplatte gelegt Vergeblich. Zu schwach und zu schwer. Mein Therapeut schiebt ein bisschen an (raten Sie mal, wo. Ja, genau dort) und stabilisiert meine Füße mit den seinen. Es klappt!
Ich stehe doch tatsächlich ohne Hilfsgeräte aus dem Rollstuhl auf!

• Eine Woche später: Wolfgang sagt, ich solle die Sitzfläche meines E-Rolli ein Stück schräg stellen. Aber nur ein bisschen. Ich mache es, und stehe unter großer Anstrengung, schwitzend und keuchend, aber problemlos aus dem Rollstuhl auf. Alleine. ohne Hilfe. Ganz ohne Hilfe.

• Ergotherapie: Die Motorik meiner Finger wird besser. ich staple kleine Holzwürfel mit Daumen und Zeigefinger im "Pinzettengriff" aufeinander. Ich wickle Gummiringe um die Zinken einer Gabel. Mit einer Grillzange nehme ich Hirsebällchen und lege sie in eine kleine Plastikdose. Mit meinem Therapeuten Johannes mache ich eine Salamipizza mit Mozzarella. Ich kann es selbst nicht glauben, was ich schon alles kann. Na ja, essen konnte ich schon immer gut.

• Meine Ängste und Depressionen sind fast vollständig weg. Ich bin motivierter und empfinde wieder mehr Lebensfreude. Ich schmiede Pläne und schreibe viel. Leider esse ich auch viel und trinke viel Cola. Seit April 2014 habe ich 15 Kilo zugenommen. Keiner hier in Altenhof nennt mich fett, aber das bin ich. Das erschwert natürlich mein Training. Ich esse aber keine Milchbrötchen mehr. Ich arbeite an meinem Gewicht. Ergebnis ungewiss.

• Mein Humor war nie tot, aber jetzt wacht er wieder richtig auf. Allmählich. Ist noch ein bisschen müde und hat schlecht geträumt. Aber er ist mittlerweile stärker als meine Ängste. Ich erziele große persönliche Fortschritte bei der Gesprächstherapie. Carl Rogers Rules! Und meine Therapeutin Betina!

Also, liebe Leidenskollegen mit Guillain-Barré-Syndrom. So kann es gehen. Aus dem Zustand der Tetraparese, der Lähmung aller vier Gliedmaßen und der vollständigen Unbeweglichkeit meines Körpers vom Hals bis zu den Zehenspitzen, bis hin zum Pizzabäcker und Laufkatzengeher.
Von der Tetraparese zur Pizza Caprese...
Vom Angstsklaven zum Mutmenschen.
Das schaffen Sie auch!
Und da Sie dies hier lesen oder vorgelesen bekommen, vergessen Sie eines nicht: Sie haben den schlimmsten Teil des Guillain-Barré-Syndroms überstanden.
Sie leben!
Das ist doch was.
Also verzweifeln Sie nicht und geben Sie niemals auf.


GBS IS OVER!
IF YOU WANT IT!


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