Abenteuerlust.
Wie kann ich Abenteuer erleben, wenn ich mich nicht traue? Feigling. Das Gegenteil eines Abenteurers ist ein Feigling. Feigheit ist Selbstverrat. Die wahren Abenteuer sind im Kopf, hat André Heller gesagt. Und sind sie nicht im Kopf, dann sind sie nirgendwo.
Krankheit ist ein Abenteuer. Sie ist nicht nur ein persönliches Schicksal mit Angst, Schmerz und Ungewissheit, sondern auch interessant. Man kann sich in die objektive Beobachterrolle zurückziehen. Ich beobachte diese Situation und Angst und bin deshalb mehr als die Angst. Sich über die Angst erheben, über das Mühsal, den Stress, den Ärger, die Trauer, die Feigheit. Flügel bekommen, wachsen lassen. Flügel, um sich über alles zu erheben.
Der Geist besiegt die Materie. Die größte und stärkste Kraft im Universum ist der menschliche Geist. Stärker als alle Atombomben und mächtiger als jeder Herrscher. Ein Abenteurer. Und mehr. Unser Geist ermöglicht uns in jedem Alter eine kindliche Betrachtungsweise des Lebens. Alles nicht so ernst nehmen. Das Leben leicht nehmen, genießen. Trotz Krrankheit ist das möglich. Trotz Behinderung. Sicher nicht bei sehr schweren tödlichen Krankheiten. Sicher nicht, wenn man chronische Schmerzen hat oder verwirrt ist, aber das Abenteuer kann ein Rettungsanker sein.
Ich sehe inzwischen alles als großes Abenteuer und nehme es nicht so ernst. Sich selbst nicht so ernst nehmen. Ich nehme mich nicht so ernst, meine Probleme sind gar nichts im Vergleich zu dem Leid anderer Menschen, aber ich frage mich, wie würde ich reagieren, wenn ich eine wirklich ernsthafte Krankheit bekäme. Würde ich sie tapfer durchstehen und meinen Weg zu Ende gehen, selbst bis in den Tod? Ich weiß es nicht.
Das Guillain-Barré-Syndrom ist eine ernsthafte Krankheit und sehr schwer und man kann daran sterben, auch an den Folgeerscheinungen. Thrombose, Lungenembolie. Und sie verändert die Persönlichkeit zum Guten. Sicher ist das bei jedem Menschen anders. Ich muss sagen, dass ich sehr von GBS profitiert habe. Mein Menschenbild hat sich verbessert. Ich habe so viele liebe und hilfsbereite Menschen kennengelernt, nicht nur unter den Mitarbeitern der Krankenhäuser, des Rehazentrums und des Behindertendorfs, sondern auch unter den Patienten, denen ich begegnet bin. Ich habe nie jemanden kennengelernt, der nicht in irgendeiner Weise hilfsbereit gewesen wäre.
Aber Hilfsbereitschaft kann einen auch am Vornakommen hindern. Ich bin ja einer, der nicht so schnell aufgeben mag. Wenn mir etwas zu anstrengend wird, verschiebe ich es auf ein anderes Mal, oder wenn ich etwas fürchte, versuche ich es zu vermeiden, aber ich habe auch gelernt, zäh zu sein und mich selbst zu Dingen zu zwingen, die ich früher nie gemacht hätte.
Ich rede mehr mit den Menschen, und es fällt mir nicht mehr so schwer wie früher. Die klientenzentrierte Gesprächstherapie hat mir da sehr weitergeholfen, auch was meine negative Sicht auf das Leben und das Schicksal betrifft. Ich fahre mit meinem E-Rolli ganz alleine ins Kaffeehaus ein Eis essen. Einfach so. Vor einem Jahr für mich noch unvorstellbar. Die Gesprächstherapeutin sagte, wenn ich das regelmäßig mache, wird es zur Gewohnheit, und damit vergeht die Unsicherheit. Genauso war es auch.
Mit dem unerschütterlichen Mut eines strahlenden Helden stürzte ich mich ohne auch nur eine Sekunde zu zögern todesverachtend in den...
...Eisbecher Dänemark.
Mit Vanilleeis. Mit Schokosauce. Mit Waffeln.
Mit Schlagobers.
Draussen auf der Terrasse, im Sonnenschein meines wiedergewonnenen Sommers.
Das einzige, was den fantastischen Eisbechern im Café Hausruckwald fehlt, sind eine Prise Fettverbrennung und ein Kalorienkiller. Trotzdem finde ich die Empfehlung meiner Therapeutin, die Fahrt ins Kaffeehaus zur Gewohnheit zu machen, insgesamt richtig supie!
Kürzlich hat sie mir gesagt, ich könne die bewusste Entscheidung treffen, dass mir etwas, das ich vorhabe, gut gelingen wird. In der vergangenen Physiotherapiestunde ist es mir zum ersten Mal gelungen, mit den freibeweglichen Barren der Laufkatze aufzustehen. Ohne Hilfe meines Therapeuten Wolfgang. Und aus normaler Sitzposition im E-Rolli, ohne die Sitzfläche vorher anzuheben. Wenige Minuten davor, als ich draußen auf dem Gang auf den Beginn der Therapiestunde wartete, dachte ich, dass mir an diesem Tag nichts Besonderes gelingen werde. Ganz einfach aus dem Grund, weil das in den vergangenen Wochen auch so war. Ohne schieben, heben und stützen durch den Therapeuten ist mir so gut wie gar nichts gelungen.
Aber dann, auf einmal, ging es! Wenn Sie ein GBS-Kollege sind und selbst noch bewegungsunfähig im Bett liegen und mit Pudding gefüttert werden, denken Sie immer daran, dass beim Guillain-Barré-Syndrom die Veränderungen plötzlich kommen können. Insgesamt ist es ein sehr langwieriger Prozess, aber auf einmal, praktisch über Nacht, gelingt einem etwas, das man sich nicht zugetraut hätte. Ich habe das in den letzten zwei Jahren oft erlebt.
Zum ersten Mal hatte ich ein solches Erfolgserlebnis, als ich noch auf der Intensivstation in Vöcklabruck lag. Das war im Juni 2013. ich stand, festgezurrt in einer aufstellbaren Liege namens Stryker. Vor mir lag auf einem Tablett ein Papierhandtuch. Meine fantastische Ergotherapeutin Martina mit dem dunklen Haar und der lila Brille sagte, ich solle das Tuch an den Kanten des Tabletts entlangschieben. Einmal rundherum, gegen den Uhrzeigersinn. Ich dachte mir, das ist vollkommen unmöglich. Ich war noch immer im Zustand der Tetraparese, das heisst, alle vier Gliedmaßen waren gelähmt. Zwar konnte ich meine Arme ein wenig auf und ab bewegen, aber nicht mehr als ein paar Zentimeter. Mit einem Tuch über ein Tablett zu wischen erschien mir vollkommen unmöglich zu sein.
Trotzdem versuchte ich es. Und es war, als würden sich meine Hand und mein Arm ganz von alleine bewegen. Sie ignorierten meine Zweifel ganz einfach. Meine Finger waren zwar noch vollkommen gelähmt und nach innen gekrümmt, aber trotzdem schaffte ich es, das Tuch voran zu schieben. Und dann um die Ecke. Ich kam zwar nicht ganz um das Tablett herum, aber bis zur linken Kante.
"Jetzt kann ich Barkeeper werden", sagte ich, und Martina lachte. Sie hat überhaupt viel gelacht, war immer gut gelaunt und hatte in ihrer stämmigen Gestalt und ihrem fröhlichen Gemüt eine unglaublich starke Motivationsgabe.
Danke, Martina!
Das hat mir an der Ergo- und der Physiotherapie immer besonders gut gefallen: Mir wurde immer alles zugetraut. Vielleicht nicht sofort oder schon in einer Woche, aber nie hat ein Therapeut etwas für unmöglich gehalten. Vor einigen Monaten begann ich damit, meinem Therapeuten Vorschläge zu machen, was ich alles ausprobieren könnte. Ich wollte am Schreibtisch an der Wand meines Zimmers aufstehen. Ein paarmal habe ich das zwar mit Ach und Krach und Wolfgang geschafft, aber richtig erfolgreich war ich damit nicht. Wir probierten auch aus, dass ich mich am Galgen über meinem Bett festhalte und versuche, aus dem E-Rolli aufzustehen. Da habe ich mir allerdings zuviel zugetraut. Das klappte nämlich überhaupt nicht. Das hätte ich dir gleich sagen können, meinte Wolfgang. Aber er ließ es mich versuchen.
Eine der wichtigsten Lektionen, die ich im Laufe meiner Krankengeschichte gelernt habe ist, dass nichts unmöglich ist. Obwohl ich es lange Zeit nicht geglaubt habe, hat sich letztlich immer alles bewahrheitet, was die Therapeutinnen und Therapeuten gesagt haben. Sie haben nie zuviel von mir verlangt, aber unterfordert haben sie mich auch nicht.
Ich werde nie vergessen, wie ich während meiner Reha am Gmundnerberg in der Physiotherapie auf einer dicken blauen Rolle saß, die am Boden lag. Meine große und schlanke Therapeutin Christina saß vor mir und forderte mich auf, mich langsam abwechselnd nach links und rechts zu beugen. Ich tat es widerwillig, weil ich damit gerechnet habe umzukippen. Und es war tatsächlich eine äußerst wacklige Angelegenheit.
Genaugenommen bewegte ich mich gar nicht, sondern schwankte hin- und her wie ein besoffenes Walross. Ich weiß zwar nicht, on Walrosse Alkohol zu sich nehmen, aber wenn sie es tun, dürfte es genauso aussehen. Ich saß wie ein Cowboy auf einem Pferd, aber nicht so cool wie Clint Eastwood, sondern eher so wie Hoss aus Bonanza. Meine Füße hatte ich auf dem Boden, aber da ich sie nicht bewegen konnte, waren sie mir keine Hilfe. Meine Position konnte ich zwar irgendwie korrigieren, aber richtig abstützen hätte ich mich nicht können. Ich wäre einfach umgekippt. Dazu sollte man wissen, dass Christina sehr groß, schlank und hübsch ist. Das hat mich zwar alles nicht gestört, aber ihr zartes Gewicht machte mir doch Sorgen. Ritterlich wie ich nun mal bin, zumindest, wenn ich auf so einer fetten blauen Therapiewurst sitze, machte ich mir nicht sosehr Gedanken über mich, sondern über Christina. Ich glaube, ihr Anblick hätte jede Anmut verloren, wenn ich auf sie draufgefallen wäre. Da wäre sie nicht überrascht gewesen, sondern buchstäblich platt. Ich bin nämlich ein ziemlich schwerer Junge.
Aber als Physiotherapeutin wusste sie genau, was sie einem Patienten zutrauen kann, und ich muss zugeben, es hat mir sogar ein bisschen Spaß gemacht. Und danach fühlte ich mich großartig. Wieder einmal hatte ich etwas geschafft. Ich bin auf einer fetten blauen Therapiewurst gesessen. Damit keine Missverständnise entstehen, mit Terapiewurst meine ich das Trainingsgerät, nicht die Therapeutin. Und fett bin ich selber.
Oder, wie Garfield sagt, ich bin zu klein für mein Gewicht. Nicht übergewichtig, sondern untergroß. Aber wenigstens bin ich nicht mehr so Megaadipös wie früher. Ich war so fett, ich hatte einen eigenen Mond. Ich habe die Gezeiten des Attersees beeinflusst. Ich war der Herr der Speckringe.
In dem halben Jahr, das ich im Krankenhaus war, habe ich über fünfzig Kilo abgenommen. Ich nenne es die Guillain-Barré-Diät. Gelähmt im Bett zu liegen, gefüttert zu werden und nur Wasser zu trinken funktioniert hervorragend. Ich hatte nie Hunger, konnte essen, was ich wollte, besonders eiweißreiche Kost und fast jeden Tag köstliches Kalbfleisch, Apfelstrudel zum Nachtisch und als Vorspeise zum Mittagessen fantastische Suppen aus einer kleinen Schüssel, die allerdings manchmal so aussahen wie das Zeug in meinem Katheterschlauch. Ich nannte es Sedimentsuppe.
Trotzdem möchte ich die Guillain-Barré-Diät niemandem empfehlen. Ich überlege mir gerade, wie ich meinen blödsinnigen Pizzawitz hier einbringen könnte, aber mir fällt nichts ein. Sie wissen schon: Pizza Tetra Parese mit extra viel Käse.
Leider habe ich hier in Altenhof wieder einiges an Pfunden zugelegt. Das Dolce Vita im Rollstuhl bekommt meiner Figur nicht. Vielleicht schreibe ich einmal mehr darüber. Schlemmerreise Altenhof.
So sind sie, die Abenteuer eines GBSlers. Es ist nicht ganz dasselbe wie eine goldene Indiobüste aus einem Tempel zu stehlen, während man aus den Wänden mit Pfeilen beschossen und von einer gigantischen Steinkugel verfolgt wird, aber für mich ist es zumindest nicht weit davon entfernt.
Bei den Aufstehübungen an der Laufkatze ist es genauso. Zuerst traue ich mich nicht, überwinde mich dann aber doch und kann nicht glauben, was ich wieder erreicht habe. Vielleicht sollte ich das verfilmen. Einen Titel für meine Abenteuer hätte ich schon:
"Assista Jones und die Katze des Grauens".
Vielleicht liest ja ein Mensch mit dem Guillain-Barré-Syndrom diese Zeilen und findet ein bisschen Motivation und Aufmunterung. Ich weiß, wie man sich fühlt, wenn man 16 Stunden an die Zimmerdecke starrt, bevor man übergangslos in einen achtstündigen Albtraum verfällt, in dem man lebendig begraben wird. Wenn man wieder erwacht und keinen Unterschied zwischen einem Sarg und dem Bett, in dem man liegt, erkennen kann.
Wenn man sich nicht nur tot fühlt, sondern so gut wie tot ist und sich fragt, ob das die nächsten fünfzig Jahre so bleiben wird. Ich habe während der Zwei Monate auf der Intensivstation seitenweise Tagebuch geschrieben. Mit Kugelschreiber auf einem DIN-A-4-Collegeblock. Ich freute mich darüber, dass ich das kann.
Solange ich schreiben kann, lebe ich. Dachte ich. Bis ich aufwachte. Dann lagen meine Arme wieder an den Seiten meines Körpers. Alles, was ich bewegen konnte, war mein Kopf. Ich drehte ihn nach links und sah durch ein riesiges Fenster Häuser, Straßen und gehende Menschen. Es war eine Welt, die direkt hinter einer Glasscheibe lag. Da draußen ist das Leben, dachte ich. Ich dachte viel. Auch jetzt denke ich noch viel nach. Ich würde sogar sagen, zuviel. Mit meinen Gedanken mache ich mir das Leben oft schwerer als es ist. Wenn ich zuerst darüber nachdenke, was mir passieren könnte, wenn ich mit Schwung an der Laufkatze aufstehe. Ich könnte stürzen, mir das Genick brechen und dann unheilbar am ganzen Körper gelähmt sein.
Christina sagte damals zu mir "Es kann immer irgendwas passieren." Sie meinte damit, dass ich mich von den Gefahren nicht abschrecken lassen sollte. Inzwischen habe ich mir diese Lebenseinstellung zumindest zum Teil angeeignet.
Danke, Christina!
Ich würde zur Laufkatze sagen "Hello, Kitty. Just Do It!" Allmählich entwickle ich diese Mentalität, aber ich werde die Katze noch oft kicken müssen, bevor ich ganz normal aufstehen kann.
Vielleicht können Sie das auch, lieber GBS-Leidenskollege. Vielleicht können Sie es sogar besser als ich. Und falls Sie auch noch nicht mehr tun können, als durch ein Fenster in die Welt zu schauen, kann ich nur ein weiteres Mal wiederholen, was ich immer schreibe, wenn mir kein besseres Schlusswort einfällt:
Der Weg ist da. Mein Freund, der Weg ist da. Näher als Sie vielleicht denken.
Ich kann jetzt selbst wieder in die lebende Welt hinaus. Noch nicht auf meinen eigenen Füßen, aber vier Räder sind auch gar nicht so schlecht. Ich fahre gerne über die Straßen des Assista-Geländes, obwohl sie zu beiden Seiten hin abschüssig sind. Das liegt wahrscheinlich an der hügeligen umgebung. Auf diesen Straßen fährt man mit dem E-Rolli auf einer Art Wulst im Asphalt, und links und rechts geht es bergab. Anfangs hatte ich damit Schwierigkeiten, aber ich habe mich daran gewöhnt. Ich mache gerne Videos von meinen Spazierfahrten. Besonders die Zeitrafferaufnahmen durch das ganze Dorf sind sensationell geworden. Ich werde sie demnächst auf YouTube hochladen.
So, also, hat sich meine Sicht auf das Leben geändert: Ich sehe im Rollstuhl nicht mehr ein Fortbewegungsmittel, aus dem ich vielleicht nie wieder rauskommen werde, sondern den sensationellsten Kamerawagen, den man sich nur vorstellen kann. Außerdem habe ich sogar in der größten Sommerhitze immer einen kühlen Fahrtwind.
Ich habe gelernt, das Leben mit GBS leichter zu nehmen.
Easy Rolli.