Samstag, 15. August 2015

Wir sind im Süden!

Heute ist der 15. August 2015. Der erste Todestag meiner Mutter. Das sogenannte Trauerjahr ist vorbei, aber ich trauere heute noch genauso wie am 15. August 2014. Den Verlust meiner Mutter werde ich nie überwinden, und die Trauer wird nie aufhören. Aber ich gewöhne mich daran.
Die Erinnerungen bleiben. Mamas Tod hat daran nichts geändert. Die schönsten Tage kommen nicht zurück und waren auch schon vorbei, als sie noch gelebt hat. Ich werde wohl nie erfahren, ob sie für Mama genauso schön waren, wie für mich, aber in meiner Erinnerung sehe ich ihr strahlendes Gesicht, wenn wir uns über gemeinsame Erlebnisse unterhielten.
Erlebnisse, die in der Zeit verschwunden sind wie eine Träne im Meer.
Träumst du? frage ich mich. So, wie meine Mutter mich gefragt hat, als ich noch ein Kind war und bei den Hausübungen für die Schule unkonzentriert war.
Ja, Mama. Ich träume.
Von den kleinen Langusten, die im Meer bei Savudrija an meinen Zehen knabbern, während ich ihnen dabei zusehe. Unbeschwert. Glücklich. Jung. Lähmung, Tod und Rollstuhl noch zwanzig Jahre weit weg. Geduldig wartend. Und ich träume von den Pinien, Zypressen und Olivenbäumen in Tucepi, dem klaren Salzwasser des Meeres. Von blühenden gelben Ginstersträuchen und dem Duft von Lavendel am Abend, wenn die Wärme der Sonne noch auf meinem Gesicht liegt. Ich höre zirpende Grillen in der Nacht und das rauschende Meer. Das Meer. Das bei Wind hohe Schaumkronen trägt, weit draußen am Horizont.
Von hier will ich nie wieder weg. Für immer bleiben. Im Süden. Meine Mutter öffnet die Balkontür des Bungalows, tritt auf die Veranda hinaus, sieht einen Lorbeerstrauch und sagt, mit Freudenklang in ihrer Stimme:
"Wir sind im Süden!"
Jetzt nicht mehr, Mama. Du nicht. Papa nicht. Ich nicht. Der Süden existiert nicht mehr. Meine einzige Himmelsrichtung ist ein orientierungsloses Irgendwo. Aber sie führt nicht in den Süden. Mein Süden ist eingestürzt, genau wie meine Stari Most in Mostar, über die ich als Kind mit Dir und Papa gegangen bin. Kaufleute und ihre Stände überall. Fremde Klänge, Stimmen, Musik, Düfte und Farben. Schön. Uns ist ein wütender Teppichhändler nachgelaufen, weil Papa sich für einen handgeknüpften Teppich interessiert, ihn dann aber doch nicht gekauft hat. Er war uns aber nicht wirklich böse. Wir haben oft darüber geredet und gelacht.
Manchmal, wenn ich meine Augen schließe, sehe ich Fackeln. In der Abenddämmerung zieht eine Prozession über die steinerne Wand des Biokovo-Gebirges. Titos Geburtstag. Ich bin fünf Jahre alt, noch nicht in der Schule, aber ich weiß, wer Tito ist, und ich kenne die Monde des Jupiter. Papa erklärt mir abends beim Spazierengehen die Planeten. Am Ende des zypressengesäumten Weges steht der Jupiter am Himmel. Und manchmal sieht man den Mars, meinen Namensstern. Er funkelt rötlich, aber ich muss genau hinsehen und die Augen ein bisschen zusammenzwicken. Papa zeigt mir den Großen und den Kleinen Wagen. Aber lieber verwendet er die Bezeichnungen Großer Bär und Kleiner Bär.
Wir beide stehen da auf dem Weg der Zypressenallee und schauen in den Himmel. Am nächsten Tag fahren wir nach Makarska. Krapfen essen. Fette süße Krapfen mit Marmeladefüllung und Staubzucker. Wir holen Mama ab, die von einem Schiffsausflug auf die Insel Hvar zurückkehrt. Mama hat immer gesagt, die dalmatinischen Inseln sähen aus wie die Schöpfung am ersten Tag. Ich habe Angst, dass sie nie wieder zurückkommt und stirbt. Ich ahne noch nicht, dass sich diese Angst vierzig Jahre später erfüllen wird.
Dieses Mal kommt Mama noch zurück, und ihr ganzes Leben lang schwärmt sie von der Insel Hvar und den Schwertfischen, die sie aus dem Meer hat springen sehen.
All das sehe ich aus der Distanz meines Rollstuhls. Der kleine Bär, der neben dem großen Bär in der Zypressenallee steht und zum Jupiter schaut, kommt mir bekannt vor. Ich habe ihn erst kürzlich irgendwo gesehen. Es fällt mir ein. Er hat einen Waschlappen in der Hand und sieht mich aus dem Spiegel heraus an. Vierzig Jahre später. Und er steht nicht, sondern er sitzt.
Das Lachen ist gestorben wie der Süden und die verletzte Möwe am Strand. Immerhin im Sonnenschein.
Jetzt brennt mir die Sonne im Gesicht bei meinen Traumflügen über das Meer und hinter den Horizont.

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