Samstag, 8. August 2015

Grinsende Geisterschiffe

Alles ist gut. Ich bin in Sicherheit. Es war ein heißer Tag. Das mag ich. Sommerhitze. Ich fühle mich fast wohl. Das Schreiben über Sommertage fällt mir schwer. Jetzt gerade liege ich im Bett, das Licht ist ausgeschaltet. Ich tippe in mein iPhone. Dreiviertel eins in der Nacht. Aber wenn man schreiben muss, ist es eben so. Die Mitternachtskrankheit, wie wir Autoren das nennen.
Heute zirpt nur eine Grille vor meinem Fenster. Und selbst die lässt sich bitten. Drei Glockenschläge der Kirchturmuhr von Gaspoltshofen. Ich werde diesen Text am Samstag in meinem Blog posten, und am nächsten Tag wird mir der sentimentale Schmarrn peinlich sein. Ich werde hoffen, dass mich niemand darauf anspricht. Die Leute wollen sowas nicht lesen sie wollen etwas Lustiges. Katzenvideos auf YouTube.
Aber meine Trudi ist ganz beliebt. Ich werde immer wieder auf sie angesprochen. Man wisse bis zum Schluss nicht, worum es geht. Und alle mussten sooo lachen. Trudi, sagt man mir, sei das Beste, was ich geschrieben habe. Weit habe ich es gebracht. Ein Artikel über einen Katheter ist beliebter als alles andere, was ich schreibe. Na ja, ich freue mich trotzdem. Das ist es doch letztlich, was ein Autor erreichen will. Er will die Menschen bewegen. Schließlich leben wir in einer Spaßgesellschaft, in der man alles schaffen kann, wenn man will, und aufgegeben wird nur ein Brief, und wenn man fest genug an etwas glaubt und es visualisiert und dabei motiviert und zwangsoptimistisch aus der Wäsche grinst wie ein Totenschädel mit roter Clownsnase, brät einem das Universum die Erfüllung aller Wünsche derart über, dass einem die Ohren klingeln vor lauter individueller Zukunftsplanung.
Genau vor diesem Fehler darf man sich, wenn man will, als postmoderner Facebookhippie hüten. An etwas nicht zu glauben. Der Glaube versetzt ja bekanntlich Berge, egal ob die Berge das wollen oder nicht. Man wird einfach an einen anderen Ort verfrachtet, an dem das aufblühende Wassermannzeitalter jede Vernunft verwelken lässt und die Menschen den größten Schwachsinn glauben, solange sie auf Innenschau gehen und sich selbst neu erfinden.
Ich höre schon auf. Mir wird selber schon schwindlig, wenn ich an unsere schöne neue Weltordnung denke, in der es selbst für die existenziellsten Probleme eines Menschen, für die quälendsten Krankheiten und die tiefste Verzweiflung ein E-Book mit "7 Tipps für ein erfülltes Leben" gibt.
Als ich gelähmt und ausgeblutet wie eine Schweinehälfte im Schlachthaus auf der Intensivstation lag und damit rechnete, den Rest meines Lebens an eine weiße Zimmerdecke zu glotzen und von Früher-als-alles-noch-gut-war zu träumen und davon zu halluzinieren, wie mir ein Wahnsinniger mit einer Machete in einem dreckigen Kohlekeller das Fleisch von den Knochen schält und ich dabei jede einzelne Liebkosung seiner Klinge spürte, hätte ich gar keine 7 Tipps für ein erfülltes Leben gebraucht.
Ein einziger Tipp hätte mir völlig gereicht: Wie man wieder aufwacht aus diesem ewigen Albtraum namens Leben.
Darauf bestelle ich mir jetzt beim Universum eine Pizza Tetra Parese.
Sicher sehe ich das wieder zu verbissen. Die Menschen wollen Spaß, dem Alltag entfliehen, all diesem Schmerz und den Tränen. Lachen macht das Leben erträglicher. ich kann das verstehen. Ich selbst habe nicht mehr viele Gründe zu lachen, seit meine Welt untergegangen ist. 
Aber eigentlich bin ich dabei, wieder aufzutauchen. Mein früheres Leben ist zwar versunken wie Atlantis, allerdings nicht im Meer, sondern in der Zeit, in meiner Erinnerung, in Schmerz, Leid, Verlust und anderen überhaupt nicht lustigen Dingen. Lustig war, barfuß über die spitzen, von Meer und Sonne dunkelbraun gefärbten Felsen einer kleinen Halbinsel in Kroatien zu gehen. Vollkommen sorglos. Sogar über den glitschigen grünen Tang, ohne dabei Angst zu haben hinzufallen und mich schwer zu verletzen.
Wobei, jetzt erinnere ich mich wieder. Ich habe mir bei solchen Abenteuern manchmal gedacht "Was ist, wenn ich ausrutsche, hinfalle und dann vom Hals abwärts vollständig gelähmt bin?" Damals bin ich bei dem Gedanken erschaudert, aber es war nicht mehr als ein unheimliches Gruseln. "Hoffentlich passiert mir das nie", dachte ich. Solche Überlegungen hatte ich schon mit fünfzehn und auch später noch. Jetzt, wo ich während des Schreibens darüber nachdenke, fällt mir ein, dass mich diese Furcht schon mein ganzes Leben lang begleitet hat.
Vielleicht bin ich ja ein Prophet. Nennt mich Nostramarkus. Das, wovor ich mich schon dreißig Jahre davor gefürchtet habe, ist dann tatsächlich passiert. Zwar mit Chance auf vollständige Genesung, aber daran denken Sie nicht, wenn sie hoffnungstot in einem Krankenhausbett liegen und versuchen, nicht den ganzen Tag zu schreien, während sich die verbogenen Gabeln Ihres Geistes in Ihre Augen bohren wie in dem Gemälde von Helnwein.
Doch inzwischen sehe ich die Zeichen der Genesung immer deutlicher. Sie sind jetzt so klar und gegenwärtig, dass nicht einmal ich daran zweifeln kann. Und das kann ich wirklich gut. Bei aller Bescheidenheit muss ich doch sagen, dass ich ein Meister des Selbstzweifels bin. Ich sehe ja sogar im Optimismus eine Form des Zweifelns, weil er letztlich nichts anderes ist als eine Gute-Laune-Version der Hoffnung. Hoffnung funktioniert nur mit Unheilsangst.
Der Optimismus ist nur ein Unheilswolf im Schafspelz.
Aber ich wollte eigentlich über die Zeichen der Genesung schreiben. Wieder einmal habe ich mich von meiner apokalyptischen Weltsicht mitreissen lassen. Bin ich nicht ein geheimnisvoller, tief denkender Prophetenclown?
Seit meiner letzten Stunde Physiotherapie kann ich mich problemlos aus dem freihändigen Stand in meinen E-Rolli setzen, ohne mich dabei festhalten zu müssen. Ich beuge meinen Oberkörper so weit es geht nach vorne und setze mich dann langsam hin. Ich lasse mich nicht in den Sitz fallen, obwohl das ab und zu auch passiert. Nein, ich setze mich vollkommen selbstverständlich so hin, wie ich es mein ganzes Leben getan habe. Nur mit dem Unterschied, dass es sehr anstrengend und schweißtreibend ist.
Es war die Idee meines Physiotherapeuten Wolfgang. Ich hatte mich eigentlich auf eine fade Stunde Aufstehübungen vorbereitet, als er plötzlich sagte: "So, und jetzt hätte ich gern, dass du dich langsam hinsetzt, ohne dich an den Stangen festzuhalten."
Ich lachte. Aber es war ein Lachen, das mir gleich im Hals steckengeblieben ist, weil ich genau weiß, dass Wolfgang sowas nicht nur zum Spaß sagt. Also probierte ich es aus. Beim ersten Versuch fiel ich in den Rollstuhl wie ein nasser Sack, aber beim zweiten Mal, mit vorgebeugtem Oberkörper, war es mir, als würden meine Bewegungen in Zeitlupe ablaufen.
Aber alles war echt. Es war ein neuer gewaltiger Fortschritt auf meinem Weg mit dem Guillain-Barré-Syndrom. Ich hoffe, wenn Sie auch GBS haben und dies lesen, ist es das auch für Sie.
Ich kann es nur mit Plattitüden ausdrücken: Wenn Sie an GBS leiden und wieder gesund werden wollen, müssen Sie an sich selbst glauben. Geben Sie nicht auf. Niemals, niemals, niemals! Sie wissen, dass der Weg da ist. Wenn Sie ihn erst einmal entdeckt haben, können Sie ihn auch beschreiten. Begehen. Glauben Sie mir, auch, wenn Sie jetzt gerade vielleicht nur Ihre Augen bewegen können. Und geben Sie sich Zeit.
Jetzt fallen mir doch tatsächlich sieben Tipps für ein erfülltes Leben ein. Sie umzusetzen ist sehr schwer. Das können Sie mir glauben, ich habe es selbst lange Zeit erfolglos versucht. Wie Sie diese sieben Tipps in Ihr tägliches Leben einbinden, kann ich Ihnen nicht sagen. Am besten ist, Sie denken nicht zu lange nach, sondern schreiten einfach zur Tat.

Meine 7 Tipps für ein erfülltes Leben (egal, ob Sie GBS haben oder nicht):

1) Vergessen Sie nicht, wer Sie sind.
2) Verzweifeln Sie nicht.
3) Folgen Sie immer dem Rat der Experten.
4) Fragen Sie nach Hilfe!
5) Umgeben Sie sich mit lebensfrohen Menschen.
6) Schämen Sie sich nicht für Ihre Lebensfreude.
7) JUST DO IT!

Ich weiß, wie platt das alles klingt. Aber es wirkt. Bei mir zumindest. Ich bin aber auch ein Schwarzseher. Sie sind sicher nicht so ausgiebig mit negativer Phantasie ausgestattet wie ich. Vielleicht gehören Sie sogar zu den Menschen, die sich selbst von einem schweren Schicksal die Lebensfreude nicht nehmen lassen. Solche Menschen gibt es. Ich begegne ihnen hier, im Behindertendorf von Assista in Altenhof am Hausruck, jeden Tag. Sie fahren völlig bewegungsunfähig mit ihren elektrischen Rollstühlen durch die Gegend, spielen in der Theatergruppe mit, gehen zu den Festen und Veranstaltungen, fliegen in den Urlaub oder machen ihren wöchentlichen Ausflug zu einem Fußballspiel.
Natürlich leiden diese Menschen auch. Sehr sogar. Und so manche sterben. Aber die Lebenden machen weiter und geben nicht auf.
Wenn Sie aus meinen Tipps nicht so recht schlau werden, hilft Ihnen vielleicht das hier weiter: Ich auch nicht. Ich habe die Weisheit weder mit Löffeln verspeist, noch bin ich besonders gut darin, meine eigenen Ratschläge zu befolgen. Ehrlich gesagt, kann ich mit dem Tipp, dass man sich nicht für seine Lebensfreude schämen soll, gar nichts anfangen.
Ausser vielleicht, dass es eine Art Genesungsangst gibt. Der Gedanke, nach einer vollkommenen Lähmung des ganzen Körpers, nach monatelangem gefüttert werden und eineinhalb Jahren im Rollstuhl wieder gehen zu können und ganz gesund zu werden, ist schwindelerregend. Als würde ich innerhalb eines Wimpernschlags aus der Tiefsee in eine Achterbahn umsteigen.
Diese Angst vor der Gesundheit verursacht eine seelische Lähmung. Man resigniert und findet sich mit seinem Schicksal ab. Aber das dürfen Sie auf keinen Fall tun! Setzen Sie sich in Ihrem Rollstuhl nicht zur Ruhe! Sie haben die Chance, da wieder rauszukommen. Wenn Sie mir nicht glauben und GBS für ein schweres Lebensschicksal halten, könnte folgende Information Ihre Meinung ändern:
Ich habe es geschafft!
Ich kann zwar noch nicht frei gehen, aber es bereitet mir keine Schwierigkeiten mehr, aus meinem E-Rolli aufzustehen.
Und die Katze kicken kann ich auch!
Vielleicht bin ich ja der einzige GBS-Patient mit einem stark ausgeprägten Hang zum Pessimismus. Vielleicht sind Sie da ganz anders und fragen sich, warum das ganze für mich seelisch qualvoller war als körperlich. Ich weiß es selber nicht. Ich weiß nur, dass es Menschen gibt, denen das Guillain-Barré-Syndrom psychisch extrem zusetzt. Woher? Aus eigener Erfahrung.
Und aus eigener Erfahrung weiß ich auch, dass der Sumpf, in dem man bis zum Hals steckt, austrocknet. Man muss nur ein bisschen strampeln, wie der Frosch in der flüssigen Sahne. So gewinnt man den Boden unter den Füßen wieder zurück.
Die lange Zeit der Krankheit, die Lähmung, die Hoffnungslosigkeit und die Schmerzen geraten allmählich in Vergessenheit. Wenn ich mich an die Intensivstation zurückerinnere, sehe ich vor meinem inneren Auge zwar alles in Farbe und 3D, aber dieses Grundgefühl der Angst ist nicht mehr da. Sollte Ihnen das Guillain-Barré-Syndrom auch mehr Angst als Schmerzen bereiten, kann ich Ihnen garantieren:
Die Angst vergeht. Sie fährt vorbei wie ein Geisterschiff in der Nacht.
Egal, ob Sie dafür Tabletten und Psychotherapie brauchen oder nicht, der Weg aus der Sackgasse der Beklemmung ist da. Gerade deshalb ist es so wichtig, sich von Anfang an, wenn man erst einmal verstanden hat, was diese Krankheit ist, eine Just Do It-Mentalität zuzulegen. Ich weiß, wie schwer das ist, aber ich kann Ihnen nur raten:
Egal wie schwach, klein und verängstigt Sie sich fühlen, tun Sie alles, was Sie zu erledigen müssen, trotzdem! Auch, wenn die Angst dadurch noch größer wird. Sie wird auch wieder vergehen. In sich zusammenfallen wie eine stinkende graue Seifenblase.
Jeder Schmerz ist ein Schritt voran.
Jedes plötzliche Angstgefühl, das Sie packt wie King Kong, ist von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Und auch die diffuse, nicht klar definierbare Angst vor einer ungewissen Zukunft, löst sich allmählich auf und verwandelt sich in die Aussicht auf einen klaren Horizont. Ohne Wolken. Ohne Sturm.
Der schnellste Weg hinaus ist der Weg hindurch.
Und der Weg ist ja bekanntlich da, egal ob Sie ihn jetzt schon sehen. Er ist zwar vollgeräumt mit Stolpersteinen, aber die überspringen Sie einfach wie das langweilige Geschwafel in einem Blog. An dieser Stelle würde ich gerne ein augenzwinkerndes Smiley einfügen, aber das wäre dann vielleicht doch ein bisschen zu kindisch.
Auf jeden Fall werde ich diese sieben Tipps in nächster Zeit noch genauer ausarbeiten und dann nach und nach hier posten.
Bitte, mein lieber GBS-Freund: Geben Sie nicht auf!
Yoda hat recht:
"Niemals zweifeln du darfst, junger Jedi!
Tu' es oder tu' es nicht.
Kein Versuchen es gibt!"
                         

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