Samstag, 1. August 2015

Mehr Licht!

Als ich im Oktober 2014 damit begann, meine Erlebnisse mit der Krankheit Guillain-Barré-Syndrom aufzuschreiben und auf einem eigenen Blog zu veröffentlichen, hätte ich nicht gedacht, dass ich über die 100 Seitenklicks hinauskommen würde. GBS ist nunmal kein Straßenfeger, und ich glaube nicht, dass jemand daran interessiert ist, der nicht selbst Erfahrung damit hat.
Ich scheine mich geirrt zu haben.
        Inzwischen sind es 10.000.
Ich möchte Ihnen heute dafür danken, dass Sie meinen Blog so zahlreich besuchen. Ihr Geschmack für Literatur ist wirklich...na, ich sag' lieber nichts. Wenn ich mit dem, was ich schreibe, Menschen informieren, unterhalten und bewegen kann, hat es sich gelohnt. Vielen Dank, und wenn Sie mögen, können Sie gerne Kommentare zu meinen Beiträgen schreiben oder mich kontaktieren. Ich würde mich freuen, einmal von meinen Lesern zu hören. Besonders, wenn Sie auch ein GBS-Patient sind. Bei Facebook, Google+ und Twitter gebe ich auch meinen Senf zum Thema dazu. Und manchmal ein paar Glassplitter. Ich habe in den letzten zwei Jahren selbst die Erfahrung gemacht, dass es bei einem Menschen mit gesundheitlichen Problemen nicht immer ausreicht, ihm lediglich zu informieren oder ihm gut zuzureden.
Manchmal muss man die Leute am Kragen packen und ihnen die Wahrheit ins Gesicht brüllen. In meinem Fall war es ein Ultraschallbild mit der Diagnose Tiefenvenenthrombose. Das war im Februar 2014. Ich trage schicke weiße Stützstrümpfe und nehme ein starkes Blutverdünnungsmittel. Fast wäre ich zu Winnetou und Old Shatterhand in die ewigen Jagdgründe eingegangen. Ein Blutsbruder mit Gerinnungshemmer.
Sicher waren es knallige Titel wie "Zufriedenheit tötet!, "Die Engel am Galgen" und "Kick' die Katz!", die mir diesen Erfolg von 10.000 Blogbesuchen ermöglicht haben. Aber auch von mir bewusst schlicht gehaltene Beiträge wie "Krankheit und Heilung" oder "Faktencheck GBS" werden viel gelesen.
Aber letztlich ist es Trudi, auf die ich am öftesten angesprochen werde. Für alle, die "Trudi liebt mich!" nicht gelesen haben: Trudi ist mein Spitzname für den transurethralen Dauerkatheter, den ich seit über zwei Jahren in einem Organ stecken habe, das dafür eigentlich nicht gedacht ist. Sie wissen sicher, was ich meine...Richtig! Es handelt sich um ein sogenanntes Hohlorgan.
Nein, nicht mein Kopf!
Es ist die vesica urinaria. Auch bekannt als Blase. Aber genug davon, es ist ja nicht unbedingt ein appetitliches Thema. Aber es handelt sich bei GBS um eine Erkrankung, die sehr schwer und in der Anfangsphase auch tödlich verlaufen kann. Von den nachfolgenden tödlichen Nebenerscheinungen wie einer Tiefenvenenthrombose, einer Darmsepsis, nicht enden wollender Leberblutungen und einem Herzstillstand ganz zu schweigen. Habe ich etwas vergessen?
Ach ja! Die Tetraparese. Keine Angst, ich mache jetzt nicht wieder meinen Witz über die Pizza, aber nur, falls Sie das Wort zum ersten Mal hören: Eine Tetraparese ist die Lähmung aller vier Gliedmaßen. Bei mir verlief die Lähmung vom Hals bis zu den Zehen. Begonnen hat es im Juni 2013, jetzt haben wir August 2015, und ich kann meine Füße und Zehen noch immer nicht richtig bewegen. Die Zehen gar nicht.
Na ja, und darüber und viele andere Dinge, die mit mir und meinem Leben zusammenhängen, schreibe ich in diesem Blog. Vor zwei Jahren hätte ich nicht gedacht, dass ich das jemals schaffen würde. Damals konnte ich nur meinen Kopf und die Augen bewegen. Ich konnte sprechen, und mein Hirn war nicht betroffen. Das ist bei GBS sehr selten. Ich habe viel Verzweiflung, Angst, Schmerzen, Trauer und Hoffnungslosigkeit erlebt, dachte oft, ich wäre nur noch ein wertloses Vieh, aber kein Mensch mehr. Der einzige Teil meines Körpers, der für mich noch lebte, war mein Kopf.
Ich habe wunderbare Menschen kennengelernt, zum einen aus dem medizinischen Bereich, aber auch andere Patienten und die Bewohner in dem kleinen Behindertendorf, in dem ich jetzt lebe. Ich fragte mich immer wieder, wie Menschen mit einem derart extremen Schicksal trotzdem immer noch Lebensfreude empfinden und dabei auch noch Ruhe und die Freiheit von Angst ausstrahlen können. Aber vielleicht ist das nur meine Interpretation. Ein sorgenfreies Leben hat wohl niemand, der in einem Rollstuhl sitzt oder an einem Rollator geht.
Welchen Grund habe ich, mich zu beschweren? Selbst wenn man monatelang wie eine tiefgekühlte Mumie bewegungslos ins Nichts starrt, gibt es noch viel schlimmeres.
Im Krankenhaus, auf der Abteilung für Neurologie, hatte ich einen Zimmerkollegen, der an Knochenkrebs erkrankt war. Einmal erzählte er, wie bei einer Ärztevisite in einem anderen Krankenhaus auf einmal ein lautes krachendes Geräusch an einem seiner Unterschenkel zu hören war. "Ich glaube, der Krebs hat sich gerade durch den Knochen gefressen", sagte er. Die Ärzte glaubten ihm nicht, veranlassten aber eine Röntgenuntersuchung. Mein Zimmerkollege hatte recht. Während der Visite ist einer seiner Unterschenkelknochen in der Mitte komplett durchgebrochen. Dieser Mann erzählte dieses Erlebnis in einem Tonfall neutraler Schicksalsergebenheit, als hätte er von einem Ausgebissenen Zahn berichtet. Er wurde später in ein anderes Spital verlegt. Ich weiß nicht, wie es ihm seitdem ergangen ist.
Irgendwann habe ich festgestellt, dass man nicht tot ist, solange man noch lachen kann. Oder wenigstens schmunzeln. Selbst in Zeiten der schweren Krisen gibt es sie noch, die heiteren Momente.
In dem Bett mir gegenüber lag ein Mann, Mitte sechzig. Ich nenne ihn jetzt Herr Berger. Nach einem Schlaganfall war er von der Hüfte abwärts gelähmt. Er war ein kleiner, dicklicher Herr mit einem freundlichen runden Gesicht, roten Wangen und einem Hobby, das er mit allergrößter Leidenschaft ausübte.
Krankenschwestern.
Her Berger hatte die Angewohnheit, ununterbrochen auf den Notrufknopf zu drücken. Die sogenannte "Glocke". Ich weiß nicht, ob das mit seiner Krankheit zu tun hatte, denn er verhielt sich geistig vollkommen unauffällig, war auch nicht verwirrt. Aber etwa alle fünf- bis zehn Minuten drückte er auf die Glocke. Die Krankenschwestern müssen ja zu den Patienten gehen, wenn sie nach ihnen rufen, ob sie wollen oder nicht. Und so vergingen über einen Zeitraum von mehreren Wochen keine zehn Minuten, in der nicht eine leicht entnervte Schwester ins Zimmer kam und fagte: "Was hat' s denn, Herr Berger?"
Und jetzt raten Sie mal, was seine Antwort war.
Mit einem dankbaren Lächeln in seinem Gesicht sagte er: "Nix. Ich wollte Ihnen nur sagen, dass es mir gut geht."
Na ja, man hat ihm wohl gesagt, er solle auf den Glockenknopf drücken, wenn er etwas braucht. Und das hat er sich zu Herzen genommen. Einmal hatte er eine Frage an eine junge Krankenschwesternblondine. Sie reagierte auf das, was er dann tat, deutlich gestresst, versuchte aber, ruhig zu bleiben. Es muss ihr wirklich schwer gefallen sein. Sie drehte sich um, sah ihn an und sagte:
"Herr Berger...Sie müssen nicht läuten, wenn ich neben Ihnen stehe." Sie hatte sich nur kurz von ihm abgewandt, um eine Nierenschale auszuwaschen.
Mein Zimmernachbar hat sich ihre Worte zu Herzen genommen. Er hat nie wieder geläutet, wenn eine Krankenschwester direkt neben ihm stand. Nur, wenn er mitteilen wollte, dass es ihm gut geht.
Wenige Monate später war ich auf Reha am Gmundnerberg. Dort gab es ganz ähnliche Vorfälle. Offenbar gibt es in jeder Gesundheitseinrichtung so einen Glockenpatienten, der seinen Daumen nicht unter Kontrolle hat.
Ich lag gerade in meinem Therapiebett, bekam für die Nachtruhe meine Füße zur Spitzfußprophylaxe in weiße Handtücher eingewickelt.
"Wir haben eine Patienten, der dauernd läutet", sagte eine meiner Krankenschwestern zu ihrer Kollegin. Sie war etwa in meinem Alter, hatte Rückenprobleme wie fast alle Krankenschwester und sah an diesem Tag sehr müde aus in ihrer dunkelblauen Schwesternkluft, die ihre Pfunde nicht ganz kaschieren konnte. "Ununterbrochen. Den ganzen Tag und die ganze Nacht. Je-de-Mi-nu-te! ich glaub' ich werd noch wahnsinnig mit dem."
Ich hatte wieder einmal eine meiner Vorahnungen, aber die war doch ein wenig absurd und viel zu unwahrscheinlich.
"Wie heißt er denn?" fragte die andere Schwester. Jung, brünett, hübsch, mit schwarzer Nerdbrille."
"Berger."
Meine Vorahnung hat sich erfüllt. Nennt mich Nostramarkus. Am nächsten Tag traf ich Herrn Berger im Speisesaal. Er kam mir entgegen. An einem Stock. Den Rollstuhl brauchte er nicht mehr. Er erkannte mich wieder, lächelte so freundlich wie immer, begrüßte mich und plauderte ein bisschen mit mir. Ich erfuhr, dass er sich sehr gut erholt hatte, sowohl körperlich, als auch psychisch. Er war sehr optimistisch, scherzte mit den Krankenschwestern und sagte, dass es ihm hier sehr gut gefiel.
Das stärkte meinen Optimismus. Zum ersten Mal sah ich jemanden, der schwer krank war, den ich kannte und der auf dem Weg der Besserung war.
Auf eigenen Beinen und mit eigenen Daumen.
Ich habe dadurch, und durch viele andere Beobachtungen von Patienten, gelernt, dass diese Menschen, so unterschiedlich sie in ihren persönlichen Eigenschaften auch sein mögen, so schwer und erschütternd ihre Schicksale oft sind, alle eines miteinander gemeinsam haben.
Sie sind unglaublich liebenswert.
Der ältere Geschäftsmann, der bei dem Versuch, aus dem Bett aufzustehen mehrmals auf den Boden fiel und die Gelegenheit nutzte, dort seine Papiere und Unterlagen zu ordnen. Ein sympathisch schrulliger Zwangsneurotiker, der sich jeden Tag mehrere Speisepläne ausdrucken ließ und dann damit begonnen hat, sie unermüdlich zu korrigieren. Nicht, weil da Schreibfehler drin waren, sondern weil ihm das Essen nicht schmeckte.
Da war ein alter Mann, weit über achtzig, der mehrere Schlaganfälle hinter sich hatte, nur sehr leise und mit schwacher Stimme sprechen konnte, Schluckschwierigkeiten hatte und sich deshalb vorwiegend von Pudding und Himbeermarmelade ernähren ließ. Stundenlang saß er in seinem Bett, blickte einfach so in die Gegend und strahlte eine schwer zu beschreibende Schicksalsergebenheit aus. Fast so, als wäre er zufrieden und dankbar für das Leben, das er früher einmal gehabt hatte. Er wurde nach zwei Wochen ins Alterheim zurückverlegt und ist einige Wochen später dort gestorben.
Dieser schwache alte Herr war der Liebling aller Krankenschwestern.
Vielleicht sollte ich in meinem Blog mehr von solchen Menschen erzählen, als immer nur über mein eigenes, ach so schweres Schicksal zu lamentieren. Vor drei Wochen hat beim Mittagessen bei mir ein Backenzahn rechts oben geknirscht, und ich sah mich schon auf einem Zahnarztstuhl liegen, das grelle Licht in den Augen, während ich, traurig, von dieser grausamen Welt Abschied nehmen zu müssen, langsam verblute. Antikouagulationsmedikament. Gerinnungshemmer. Blutverdünner. Ich drifte sanft ins Jenseits ab, den brutalen Strahl der Lampe über meinen zur ewigen Ruh' geschlossenen Augen, und sage, wie Goethe in seinem letzten Moment auf Erden:
"Mehr Licht!"
        Habe ich einen Hang zum Drama?
Am besten, ich sage jetzt nichts mehr. Es ist wahrscheinlich schon Nacht, wenn Sie dies lesen. Tagsüber ist sowas ja nicht zu ertragen.
Moment...Eines sage ich Ihnen heute doch noch: Wenn Sie wollen, lesen wir uns nächste Woche wieder.
        Wollen Sie?
Ich bin erschüttert über Ihren Literaturgeschmack.

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