Samstag, 22. August 2015

Der Idiotenschlitz

Stellen Sie sich einmal vor, Sie sitzen in einem E-Rolli vor einem Kaffeeautomaten. Sie möchten sich einen Becher Kaffee vergönnen und haben sich sogar extra dafür eine hübsche Tasse mit lila Blümchen gekauft, im Fair-Trade-Laden gleich da drüben, weil die Automatenbecher so dünn sind und der Kaffee so heiß ist. Also stellen Sie die Tasse in den Automaten, der Becher fällt hinein, der Kaffe wird vom Automaten eingefüllt. Alles ist o.k., bis auf eine Kleinigkeit: 
Das alles findet nur in Ihrer Fantasie statt. 
In der Realität sitzen Sie vor dem Automaten und versuchen, eine Euromünze einzuwerfen. Von der Körperhaltung her kein Problem. Sie können die Münze auch halten, sogar im Pinzettengriff, aber sicherheitshalber verwenden Sie eine Grillzange aus Holz. Das klingt theoretisch super, aber theopraktisch wird die Münze beim Versuch, sie in den schräg nach oben gerichteten Schlitz des Automaten zu werfen, von dem Widerstand, den der neidige Automar bietet, weil er den ganzen Kaffee für sich alleine haben will, in die Zange zurückgeschoben. Aber Sie geben nicht auf! Was würden Sie jetzt machen? 
Also, ich sage Ihnen was ich gemacht habe. Zuerst habe ich es noch ein paarmal mit der Zange versucht. Sinnlos. Geht nicht. Dann mit den Fingern. Geht fast, aber der Vollidiot, der diesen Automaten konstruiert hat, ist wohl nicht auf die Idee gekommen, dass Rollstuhlpiloten auch gerne zwischendurch mal einen schnellen Kaffee trinken, aber ein klitzekleines Problem damit haben, wenn der Einwurfschlitz zu hoch angebracht ist und außerdem noch schräg nach oben zeigt. Das war früher bei den Kaugummiautomaten und dem Wurliwurm viel einfacher. Was Sie wollen, ist Kaffee. Was Sie nicht wollen, ist eine Euromünze aus dem Rollstuhl heraus vom Boden aufheben. Wollte ich auch nicht, musste ich aber, weil mir das Geldstück, das wahrscheinlich derselbe Idiot entworfen hat, der auch für Kaffeeautomaten zuständig ist, aus der Hand fällt. 
Kein Problem, finde ich, und weil ich vom Sternzeichen Jungfrau bin, denke ich immer an alles, auch an sowas, und habe vorsichtshalber meine Greifzange mitgenommen. Die lange mit dem grauen Griff. Habe ich ja schon ein paarmal geschafft. Münzen und so weiter damit aufzuheben. Heute nicht. Nach dem gefühlten zwanzigtausendsten Versuch beschließe ich, meine Münzhebetechnik zu optimieren und denke nach, was ich tun könnte. Klingt das nach aufgeben? Na gut, ich geb' s ja zu. Aber ich habe nur die Art und Weise, wie ich die Münze aufheben kann, verändert. Ich denke und denke und denke und spüre dabei wie es in meinem Bauch rumort. Genau genommen im Stoma, aber das ist kein Problem, weil ich bin ja Jungfrau und immer bestens organisiert und mit allen möglichen Gimmicks und Gadgets ausgestattet. Mein E-Rolli kann übrigens fliegen, aber das ist eine andere Geschichte und soll ein anderes Mal erzählt werden. In diesem Fall ist meine streng geheime 007-Superwaffe ein weißer Mullklebestreifen, den die Krankenschwestern auf die Stomaplatte über dem Loch in meinem Bauch kleben, damit es keinen Shitstorm gibt. 
Also denke ich mir, ich klebe die Platte vorsichtshaalber zu und da, plötzlich, unerwartet und unverhofft kommt oft, wie aus dem Nichts, einfach so aus heiterm Himmel, trifft mich mit voller Wucht ein Geistesblitz, wie ihn davor nur Leute vom Schlage eines Thomas Edison oder Daniel Düsentrieb hatten. Ich beginne mit freier Assoziation, und mein kreatives Hirn hat innerhalb einer Millisekunde eine Lösung für das Bodenmünzhebeproblem. Klebestreifen sind klebrig, denke ich mir. An denen bleibt alles mögliche kleben, vielleicht auch eine Münze. Ja genau! Ich müsste eigentlich nur die Sitzfläche meines E-Rollis in die Liegeposition bringen, mich ein bisschen hin- und her wälzen, einen Arm nach unten ausstrecken, weil da befinden sich Boden und Münze, und den Klebestreifen mit der Klebeseite auf die Münze legen und sie so aufheben. Genialer Plan, tausendmal raffinierter als in Oceans 11, aber was ist der Haken? Keiner. Es gibt keinen. 
Es funktioniert! 
Ich kann es nicht glauben, in meinem Leben geht etwas ganz leicht, vollkommen problemlos. Als typische Jungfrau glaube ich sowieso nichts und schon gar nicht diesen astrologischen Horoskopbullshit. Ich hebe die Euromünze auf und sehe mir das Wunder an. Und jetzt stellen Sie sich das einmal bildlich vor: Ein dicklicher Mitvierziger in einer schwarzen Trainingshose und einem blauweiß karierten kurzärmeligen Hemd liegt in einem elektrischen Rollstuhl und betrachtet mit staunenden Augen und einem breiten Grinsen eine Euromünze, die vor seinem Gesicht an einem weißen Klebestreifen baumelt. Wenn Sie sich das vorstellen können, vergessen Sie es am besten gleich wieder, denn letztlich ist das alles nur unglaublich peinlich, aber ich habe nicht aufgegeben. Ich fühle mich wie Tom Hanks in Castaway. Ich habe ein Feuer gemacht! Ich habe ein Feuer gemacht! Leider kann ich nicht um das Lagerfeuer tanzen, aber ich kann meinen E-Rolli wieder in eine normale Position bringen und mich ordentlich hinsetzen. Und dann gibt es noch einen Punkt, den ich erledigen muss, damit ich mich fühlen kann wie Rocky Balboa. 
Ich muss den Apollo Creed unter den Kaffeeautomaten bezwingen und mir meinen Pulvercappuccino holen. Also fahre ich zurück zum Automaten, konzentriere mich und werfe mit meinen Fingern, die so schön im Pinzettengriff geformt sind, dass mein Ergotherapeut Johannes in einen Freudentaumel ausbrechen würde, die Euromünze in den Idiotenschlitz. Einfach so. Ohne Pauken und Trompeten oder Donner und Doria. Problemlos. Ein Wort, das ich selten verwende. Ich fühle mich tatsächlich wie Rocky.
"Adrian! Ich hab' gewonnen!"
Wie es mir gelungen ist, mit der Münze so genau in den Schlitz zu treffen?
Ich bin Aszendent Schütze.

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