Samstag, 12. September 2015

Daumenschrauben

Als ich mit der Physiotherapie begann, hat es mich sehr überrascht, dass die Therapeuten von Anfang an zu mir gesagt haben "Es darf nicht weh tun." Leichte Schmerzen, wenn beispielsweise die Muskeln gedehnt und durchbewegt werden, dürfen zwar sein, aber richtig starke Schmerzen darf man bei der Therapie nie haben. In der Ergotherapie war es genauso, obwohl die oft wesentlich schmerzhafter war.
Als ich noch auf der Neuro lag und nur meinen Oberkörper und die Arme ein bisschen bewegen konnte, hat meine Therapeutin Julia (jung, hübsch, blond, verständnis- und humorvoll, geduldig und ehrlich optimistisch) damit begonnen, die verschiedenen Nervenbahnen an meinen Händen zu massieren. Sie hat darauf herumgedrückt, massiert, Muskeln gezogen und geschoben, und ich gebe gerne zu, dass mir die Tränen in den Augen standen.
So ähnlich müssen sich die Daumenschrauben im Mittelalter angefühlt haben. Daumenschraube war mein heimlicher Spitzname für Julia mit den großen Rehaugen, aber das habe ich ihr nie gesagt. Und sie hatte wirklich schlanke Finger und schöne Hände. Sie war überhaupt eine sehr zierliche Person, hat aber meine Vermutung bestätigt, dass die Kraft und die Griffe, die sie da an meinen Händen angewandt hat, noch lange nicht das stärkste ist, was sie draufhat. Mir hat es damals aber gereicht, und dank Thromboseprophylaxemittel waren am nächsten Tag meine Hände blau.
Aber das Beste daran war, dass sie nicht nur ein- oder zweimal über die Hände massiert hat, sondern, dass diese Prozedur gefühlte zehn Minuten andauerte. Für mich war das anstrengender als jede Physiotherapieübung. Schmerzen bringen einen ganz schön zum Schwitzen.
Übrigens war das gar nicht das Beste. Das Allerbeste, das Julia und alle anderen Ergotherapeutinnen und Ergotherapeuten geleistet haben, ist, dass ich meine Hände und Finger heute fast normal bewegen und damit greifen kann. Immer, wenn sie ihre schlanken Schraubenfinger ansetzte, dachte ich mir, das muss doch nicht sein, das bringt doch eh nix, meine Hände sind verkrümmt und gelähmt, und eine Besserung ist nicht in Sicht.
Bis dann irgendwann der linke Zeigefinger, der als einziger immer ausgestreckt war, zu zucken anfing. Es begann mit Träumen, kurz vor dem Aufwachen. Ich träumte immer davon, meine Hände wieder bewegen und damit nach Tassen oder Kugelschreibern greifen zu können. Da war ich im Halbschlaf und fest davon überzeugt, dass es die Wirklichkeit war. Dann wachte ich auf und stellte enttäuscht fest, dass sich gar nichts bewegte.
Aber eines Tages im September blickte ich nach dem Aufwachen auf meine linke Hand, die ich auf meiner Brust auf dem schicken weißen hinten offenen Krankenhausnachthemd liegen hatte und dachte mir, ich bewege jetzt einfach meinen linken Zeigefinger. Ein bisschen zweifelte ich dann an meinem Geisteszustand, weil das, was ich da sah, vollkommen unmöglich war. Zumindest nach meiner Überzeugung.
Der Finger bewegte sich ganz leicht hin- und her. Etwa einen Millimeter in jede Richtung. Und das auf meinen Befehl hin! Ich konnte gar nicht mehr aufhören, und musste das auch gar nicht. Der Finger bewegte sich jedesmal, wenn ich es wollte.
Danach empfand ich ein geradezu überwältigendes Gefühl der Freude. "Jetzt wird alles gut", dachte ich. Wenn das geht, dann geht auch noch mehr!
Aber so einfach war es natürlich nicht. Ich rechnete damit, dass sich jetzt jeden Tag, oder wenigstens jede Woche, ein weiterer Teil meiner Hände bewegen würde, aber nach diesem Erfolgserlebnis kam wieder ein monatelanger Stillstand. Erst Anfang des darauffolgenden Jahres konnte ich während meiner Reha am Gmundnerberg die Hände ein wenig mehr bewegen, die Finger aber noch immer nicht.
Die letzte Übung mit Julia machte ich Anfang Dezember 2013 im Landeskrankenhaus Vöcklabruck. Ich saß querbett an einen riesigen grauen Schaumstoffwürfel gelehnt, schickes Nachthemd an. Unterkörper FKK mit Katheter. Julia saß neben mir und befestigte mit zwei Klettbändern an meinen Händen eine Gabel und ein Messer. Sie wollte unbedingt, dass ich das Mittagessen selbst esse. Es gab Lachs mit Kartoffeln. Drei kleine Stücke Tiefkühllachs und vier- oder fünf Kartöffelchen. Ich musste alles selber machen. Lachs und Kartoffeln zerteilen und zum Mund führen.
Klingt leicht, war aber schwer. Ich hatte große Schwierigkeiten mit der Koordination meiner Hände und Arme, und die Gabel in den Mund zu bekommen war ein bisschen so wie Pfeile auf eine Zielscheibe zu schießen. Na ja, wenigstens habe ich das Mittagessen ohne Verletzungen überstanden. 
Insgeamt brauchte ich für die ganze Prozedur knapp 45 Minuten. Die Lachsstücke waren etwa so groß wie Streichholzschachteln, schmeckten aber besser, und die Kartoffeln hatten ungefähr die Größe von halben Tischtennisbällen. Normalerweise hätte ich solch eine Mahlzeit mit drei Bissen vertilgt, aber in meinem Zustand war es eine schweißtreibende Dreiviertelstunde. Und obwohl das durchaus eine gute Leistung war und Daumenjulia mich gelobt und mir gratuliert hat, wollte sich das Euphoriegefühl bei mir nicht so recht einstellen. Ich hatte das Gefühl, diese Übung nur gemacht zu haben, damit sie auf der To-Do-Liste der Ergotherapeuten abgehakt werden kann. Das habe ich Julia zwar nicht gesagt, aber ich glaube, sie hat gemerkt, dass sich meine Freude in Grenzen hielt.
Es hat mir wieder einmal gezeigt, dass Fortschritte nicht unbedingt ein Erfolgserlebnis sein müssen, sondern eher deprimierend wirken können. Ich dachte mir damals, das wird ja nie was. Jetzt bin ich schon seit einem halben Jahr im Krankenhaus, kann noch immer nicht frei sitzen, brauche einen unbequemen grauen Monsterwürfel und zwei Klettbänder um mein Besteck halten zu können. 
Früher konnte ich lebendige Kinderportraits mit Pastellkreiden zeichnen. Jetzt schaffe ich es nur noch unter größten Mühen, einen kalten Fisch in meinen Mund zu stopfen. Ich war frustriert. Ein Frust, der lange Zeit anhielt und nach und nach immer mehr in Depressionen umschlug. Das war auch während meiner Reha noch so, und einen Teil davon schleppe ich auch heute noch mit mir herum. Mehr als zwei Jahre nach dem Ausbruch meiner Krankheit Guillain-Barré-Syndrom.
Julia habe ich seitdem nicht mehr gesehen. Schade, sie war wenigstens ein hübscher Anblick, während ich das Gefühl hatte, sie tranchiert mich mit ihren Fingern. Aber ihr und meiner anderen Ergotherapeutin Martina habe ich es zu verdanken, dass meine Hände wieder in Gang kamen. Nur zögerlich, und es hat auch danach noch lange gedauert und viele Therapeutinnen und Therapeuten gebraucht. Viele Geschirrtücher habe ich gefaltet und gestreckt, Becher aufeinandergestapelt, Holzkugeln aufgespießt, Paraffinbäder genossen und an Therabändern gezogen.
Das Resultat heute: ich tippe dies zwar immer noch nur mit beiden Zeigefingern, aber ich kann meine Hände und Handgelenke problemlos in alle Richtungen schmerzfrei bewegen, und meien Kraft schätze ich auch als weitgehend normal ein. Zwar habe ich noch ein paar Kontrakturen an den Knöcheln, aber erst vor ein paar Tagen meinte meine Therapeutin Elisabeth, dass man sie wieder lösen könne. Es muss nicht so bleiben.
Gute Aussichten für mich.
Und für Sie auch, mein lieber GBS-Kollege!
Wenn Sie auch an der Sinnhaftigkeit solcher Therapien zweifeln, denken Sie immer daran, dass es Ihre Gedanken sind, die Ihre ganz persönliche Wirklichkeit erschaffen. In Zeiten der Krise und der Krankheit sind diese Gedanken aber vernebelt. Man sieht die eigenen Fortschritte nicht, insbesondere, wenn man derartig zum Grübeln und zum Zweifeln neigt, wie ich. Wenn Sie nicht so sind, Glückwunsch!
Falls aber doch, denken Sie bitte auch an dies: Ihre persönliche Wahrnehmung Ihrer Krankheit und die objektive Realität sind zwei vollkommen verschiedene Paar Stützstrümpfe!
Und wenn Sie wieder einmal verzweifeln wollen, habe ich noch einen superschlauen Rat für Sie:
Es ist keine Schande hinzufallen. Aber es ist eine Schande, nicht mehr aufzustehen.

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