Samstag, 19. September 2015

Der Einsiedlerkrebs

Ein Sommertag. Es ist heiß. Die Jalousien in meinem Zimmer sind zu. Sonst staut sich die Hitze. Von draußen höre ich einen Bewohner eines anderen Hauses schreien. Es klingt wie das Schreien eines Babys, nur mit der Stimme eines Erwachsenen. Ich weiß nicht, ob es ein Mann oder eine Frau ist. Draußen am Gang piepst es. Irgendjemand hat auf den Glockenknopf gedrückt, um eine Krankenschwester zu sich zu rufen. Vor dem Haus höre ich Arbeitsgeräusche und vereinzelt Stimmen. Ein Auto fährt vorbei, jetzt wird eine Autotür zugeschlagen. Das Klappern von Geschirr. Zehn vor halb zehn.
 
Es ist Dienstag. Juli 2015. Die Hausbesorgerin geht eiligen Schrittes vor meiner Tür vorbei. Jetzt fällt ihr etwas um. Auf dem Parkplatz lacht jemand. Am Gang piepst es. Geschirrgeklapper. Ich frage mich, was mir der Tag noch bringen wird. Physiotherapie. Anstrengend. Frustrierend. Ich komme nicht voran. Stecke im Rollstuhl fest. Nicht mit meinem Körper, aber mit meiner Seele. Der E-Rolli ist eine Falle. Gibt mir Sicherheit. Ich weiß, dass das ein Trugschluss ist. 
Habe ich schon erwähnt, dass draußen auf den Nussbäumen die Vögel zwitschern? Nein, ich glaube nicht. Draußen auf den Nussbäumen, vor den Häusern des Behindertendorfs Altenhof am Hausruck, das aussieht wie eine Feriensiedlung, nur ohne Luftmatratzen und Tennisplätze, zwitschern die Vögel.
Es ist eine warme Nacht. Auf der Wiese bei den Nussbäumen zirpen die Grillen. Das Geräusch erinnert mich an die Ferien in Kroatien, es fehlt nur das Rauschen des Meeres. Ich liebe den Gesang der Grillen, er gibt mir ein Gefühl der Geborgenheit. Wie gerne möchte ich jetzt aus dem Bett aufstehen und draußen ein bisschen spazieren gehen. Das habe ich als Kind mit Papa immer nach dem Abendessen gemacht. Wenn wir im Urlaub waren.
Im Süden. Damals erschien mir das Leben ewig. Alles Schlimme war weit entfernt, nicht wahrnehmbar. Keine Krankheit. Keine Lähmung. Keine Verluste. Es gab nur die Gedanken an das nächste Eis, das nächste Mal schnorcheln, das nächste Mal die Sternbilder anschauen. Die Kassiopeia, die aussieht wie ein großes, an den Himmel gezeichnetes W.
Alle Sommer meiner Kindheit und frühen Jugend waren so. Ich denke nicht oft und nicht gerne daran zurück. Meine Stimmungslage ist so schon genug getrübt. Die Erinnerung an die Sonnentage macht mich traurig. Besser nicht an all die schönen Dinge denken. 
Das ruhige Gleiten durch das warme Wasser der Adria. Das Abtauchen in das tiefe stille Blau. Wieder auftauchen und der Sonne immer näher kommen. Den Kopf aus dem Wasser strecken. Wieder atmen. Das ist fast wie eine Geburt. Eine Wiedergeburt. Und solange das Meer mich trägt, geht es immer zum Licht.
Ich tauche an einen Sardinenschwarm vorbei. Die kleinen Fische sind überall, verdecken die Sicht auf die türkisfarbene Stille vor mir. Ich höre ein hohes Summen. Der Gesang der Sardinen. Überall ist Musik. Selbst, wenn nur der sanfte Sommerwind über die Wellen streift.
Ich blicke auf den Meeresgrund. Eine Krabbe. Steckmuscheln. Und jede Menge Seeigel. Diese stacheligen Kugeln gehören zu meinen Lieblingstieren. Sie sind wunderschön. Im Wasser, aber auch an der Luft, wenn man sie auf die Handfläche legt und sie sich mit ihren dünnen Tentakeln festsaugen. Wenn die Sonne auf die schwarzen Stacheln scheint, schillern sie in den buntesten Regenbogenfarben. Und sie bewegen sich. Ich weiß nicht, warum Seeigel ihre Stacheln bewegen, aber sie tun es.
In der Sonne sieht alles anders aus. Lebendiger und fröhlicher. Ich setze den Seeigel zurück auf den sandigen Meeresgrund. Ein kleiner Einsiedlerkrebs krabbelt vorbei. Auch eines meiner Lieblingstiere. Und schlau. Sie bauen sich kein Haus, sondern suchen sich einfach eines, das leersteht. Ohne Miete zahlen zu müssen. Und wenn Gefahr im Verzug ist, verkriechen sie sich in ihre kleine Trutzburg.
Ich tauche wieder auf und sehe die Küste. Den Strand mit der Wiese. Die Zypressen und Pinien, die weißen Ferienhäuser mit den orangefarbenen Dächern. Ich sehe die Felsen und den Kieselweg, der zu dem kleinen Bistro führt. Gleich werde ich diesen Weg entlanggehen. Dabei wird mir nicht bewusst, wie wertvoll diese Gabe ist. 
Gehen.
Ich werde diesen Kieselstrand nicht für immer beschreiten, aber bestimmt einen anderen Weg finden. Alles ist vergänglich, nur die Vergänglichkeit bleibt bestehen.
Ich rieche das Meer und den Wind und den Sommer und denke an das Gedicht “Herbsttag” von Rainer Maria Rilke.
Und an den kleinen Einsiedlerkrebs.

Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren laß die Winde los.

Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben.

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