Samstag, 5. September 2015

Sorry Sorgenfresser

Manchmal flüstert das Kind in die Dunkelheit seines Zimmers, dass es sich nicht immer so fürchten soll. Das Kind will einfach nicht erwachsen werden. Es will schon, aber es kann nicht. Es findet die Welt der Erwachsenen bedrohlich und fremd. Es verkriecht sich lieber in seine Phantasie. Dort kann es all seine Sorgen und Ängste vergessen.
Es kann sie hinter sich lassen und sich die Welt so gestalten, wie es sie gerne hätte. Sich jede beliebige Situation vorzustellen, die es aus dem Alltag herausholt und in eine andere Wirklichkeit versetzt, fällt ihm leicht. Es hat ein gutes bildhaftes Vorstellungsvermögen. Es kann sogar Wochentage und Zahlen sehen. Und andere Dinge.
Der Samstag ist weiß. Die Zwei ist blau. Der Dienstag ist gelb. Die Vier auch. Der Freitag ist rot.  Genauso wie der August, der Monat, in dem fast alle Mitglieder seiner Familie geboren wurden und gestorben sind. Das Kind ist auch im August geboren, sein Vater und seine Mutter ebenfalls. Mama und Oma sind im August gestorben, am gleichen Tag. Sein Onkel hatte im August Geburtstag, genau wie Mama und Oma. Sein Cousin hat am gleichen Tag Geburtstag wie sein Vater. Schwer, dabei nicht abergläubisch zu werden.
Das Kind sieht diese Farben nicht wirklich, aber in seinen Gedanken. Wenn jemand das Wort September ausspricht, sieht es vor seinem inneren Auge sofort einen angenehmen und warmen Farbton aus hellbraun und orange. 
Diese Form der Wahrnehmung hat das Kind aber auch negativ geprägt. Der Oktober und der Sonntag waren in seiner Vorstellung immer schwarz. Darum mag das Kind den Oktober und den Sonntag nicht besonders. Es denkt dann an den Juni und Juli, zwei wunderschöne sonnengelbe Monate. Außerdem freut es sich auf den sanften lindgrünen Montag, wenn das Leben wieder aus dem schwarzweißen Wochenende erwacht.
Das Kind liest viel. Damit es erkennt, was die Welt im Innersten zusammenhält. Es weiß, dass diese Wahrnehmung einen Namen hat. Man bezeichnet sie als Synästhesie. Diagnostiziert wurde das bei ihm zwar nie, aber das ist auch nicht notwendig. Es ist ja keine Krankheit, sondern eine Gabe, ähnlich dem absoluten Gehör. Menschen mit dem absoluten Gehör sind auch Synästheten. Sie hören einen Klang und sehen in ihren Gedanken eine Farbe. Jedesmal. Immer. Das ganze Leben lang. So mag der Kammerton A in deren Vorstellung vielleicht rot sein, so wie der Buchstabe A bei dem Kind. Und der August. Jeder Klang hat eine Farbe und kann dadurch jederzeit erkannt werden.
Merkwürdig, daran zu denken, dass es Farben gar nicht gibt. Sie sind nur die elektromagnetische Schwingung, die durch das Licht auf unsere Augen und von den Augen ans Hirn übertragen werden. Darum sind die Blätter der Linde im Frühling grün. Montagsgrün. Wie die Natur wirklich aussieht, können wir nicht sagen. Genaugenommen können wir die wahre Beschaffenheit der Natur nicht einmal erahnen. Das Ding an sich ist unsichtbar, hat der Philosoph Immanuel Kant gesagt. Und Paul Watzlawick stellte die Frage "Wie wirklich ist die Wirklichkeit?"
Die bunte Blumenwiese sieht für die Honigbiene ganz anders aus als für uns. Sie sieht alles im Frequenzbereich des ultravioletten Lichts. Wie mag für die Biene Maja der Lindenbaum am Brunnen vor dem Tore erscheinen? Jedenfalls nicht so wie für uns.
Ist die Natur also wirklich schön, wie wir Menschen uns das gerne einreden?
Für das Kind schon. Das Kind lebt in einer sicheren Welt, in der es alle schönen Erinnerungen jederzeit wieder erleben kann. Es kann sich aber auch ganz neue Welten erschaffen, Abenteuer erleben und ein glückliches Leben führen. In dieser Welt, weiß das Kind, wer es ist. Es ist selbstbewusst, stark und beliebt. Es kann durch die verschiedenen Alter wechseln. Meistens ist es ein Erwachsener. Aber innerlich bleibt es das Kind und hat jetzt sogar die Micky Maus als Hintergrundbild auf dem iPad. An dem Galgen über seinem Bett hängt ein Sorgenfresser. Der Sorgenfresser ist ein blaugelb gestreiftes kleines Monster mit einem breiten Gebiss, das wie ein Reißverschluss aussieht. Es hat große Augen mit roten Rändern und schwarzen Pupillen.
Ziemlich gruslig sieht der Sorgenfresser aus, und das Kind fragt sich manchmal, ob er vielleicht Unglück bringt. Immerhin ist er ja ein Monster. Aber immer, wenn das kluge Kind solche Gedanken hat, mischt sich ein blöder Erwachsener ein und erklärt ihm, dass das unsinniger Aberglaube sei. Der Sorgenfresser bringt kein Unglück, im Gegenteil, er frisst alle Sorgen auf, die das Kind hat.
Eigentlich habe ich gar nicht mehr so viele Sorgen, denkt sich das Kind. Der Sorgenfresser, dem es den originellen Namen Sorry gegeben hat, ist sehr fleißig. Frisst sehr fleißig, müsste man eigentlich sagen. Das Kind mag den blöden Erwachsenen zwar nicht besonders, aber er versucht zumindest, es mit seinem sogenannten Verstand zu trösten. Wie absurd der Erwachsene dabei klingt, merkt er nicht. Aber das Kind schon. Der Sorgenfresser bringt kein Unglück, denn das wäre ein Aberglaube. Dafür frisst er alle Sorgen auf. Und das soll kein Aberglaube sein? Sehr logisch, denkt sich das Kind. Die spinnen, die Erwachsenen.
Hoffentlich werde ich nie erwachsen, wünscht sich das Kind. Kind sein ist schön. Es ist lustig. Als Kind bin ich behütet, und mir kann nichts passieren. Ich kann mit meinen Freunden in der Sandkiste Autobahnen bauen und dann zu Hause barfuß über den orientalischen Teppich in der Bauernstube laufen, während der Sand von meiner Kleidung rieselt. Seine Mama findet das nicht so gut und steckt das Kind sofort unter die Dusche. Dabei passt sie aber auf, dass das Wasser schön warm ist. Und dann verwandelt sich der Sand in Schlamm und verstopft den Abfluss der Dusche. Das ist ja noch besser als in der Sandkiste spielen, denkt sich das Kind. Schlamm ist super! Und wünscht sich, es würde immer alles so bleiben. So unbeschwert. So frei. Wunderschön stellt sich das Kind solch ein Leben vor, aber es ahnt bereits, was der blöde Erwachsene gleich wieder sagen wird. Wenn du nicht erwachsen werden willst, musst du sterben. Du kannst nicht ein Kind bleiben ohne zu sterben. Du musst sterben, wenn du für immer ein Kind bleiben willst.
Diese Gedanken kreisen im Kopf des Kindes herum. Sterben will das Kind nicht. Es will viel lieber fröhlich sein, viele Freunde haben und glücklich weiterleben. Das Kind hat noch keine Ahnung davon, dass ihm das nicht gelingen wird. Nichts davon. Es beschließt, nicht länger darüber nachzudenken und sich statt dessen mit der Frage zu beschäftigen, ob es heute Nachmittag im Gastgarten des Kaffeehauses ein gemischtes Eis mit Schlag oder doch lieber einen Eisbecher Dänemark essen soll. 
Es denkt an die hübsche Physiotherapeutin Danila. Sie war eine Schnupperschülerin aus Dänemark, obwohl ihre Wurzeln in Sri Lanka liegen. Das Kind hat selten so ein hübsches Mädchen gesehen. Sie konnte kein Deutsch und hat nur Englisch gesprochen. Immer, wenn das Kind in der Physiotherapie am Gmundnerberg schief auf der Therapieliege saß, machte Danila eine Bewegung mit einer hochkant gestellten Hand, als würde sie den Segen erteilen wollen und sagte: "A little bit ummi!" Die oberösterreichische Mundart hat ihr gefallen.
Zum Glück ist das Kind erwachsen genug, um aus der Traumwelt wieder zu erwachen. Willentlich. Soviel Kontrolle hat es über seinen Geist. Den Verstand und die Hoffnung verliert es nur, wenn die Sorgen überhand nehmen. Wenn die Last der Probleme so schwer wird, dass das Kind Angst hat, darunter für alle Zeiten lebendig begraben zu werden. Nicht erschlagen, das wäre ja eine Erlösung. Nein, gefangen in einem trüben Gefäß der Angst.
Aber diese Zeit hat es überwunden. Es hat jetzt keine Angst mehr. Es ist ja jetzt erwachsen. Das hat es zwar nicht gewollt, aber es ist besser als zu sterben.
Danke, Sorry!

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