Samstag, 12. Dezember 2015

Übungen in Achtsamkeit

Um das Beste aus Ihrem Leben machen zu können, müssen Sie Ihren Aufenthaltsort kennen. Ich empfehle Ihnen, als Übung herauszufinden, wo Sie sind. Viele Menschen - so wie ich - sind auf der Suche nach sich selbst und finden sich doch nie. Das liegt daran, dass man nichts finden kann, wenn man nicht weiß, wo man suchen soll.
Vielleicht kennen Sie den Witz von dem Mann, der unter einer Straßenlaterne herumkrabbelt. Nein?
Also: Ein Mann in einem teuren Anzug krabbelt unter einer Straßenlaterne herum, als würde er etwas suchen. Eine Frau kommt vorbei und sieht ihm eine Zeit lang zu.
"Was machen Sie da?" fragt sie ihn.
"Ich suche meine Autoschlüssel", antwortet der Mann.
"Wissen Sie ungefähr, wo Sie die verloren haben?"
Der Mann hält kurz inne, blickt zu der Frau empor und deutet auf die gegenüberliegende Straßenseite. "Dort drüben."
Die Frau runzelt ihre Stirn. "Und warum suchen Sie dann hier und nicht dort drüben?"
Der Mann steht auf, richtet seinen Anzug, sieht die Frau an und sagt: "Dort drüben ist es zu dunkel."
Wenn man an der falschen Stelle sucht, kann es dort noch so hell erleuchtet sein, finden wird man dort nichts. Natürlich ist es bequemer, im Licht zu suchen als in der Finsternis. Man wird das Gesuchte niemals finden, aber dafür ist es dort nicht so bedrohlich, man lernt Leute kennen und kann sich ja auf später vertrösten, wenn es dort drüben einmal nicht mehr dunkel ist.
Ich habe im Laufe meiner Krankengeschichte herausgefunden, dass es viel lohnenswerter ist, im Dunklen zu suchen. In meinem Fall aber waren es keine Schlüssel, sondern eine Suche nach mir selbst. Keine Angst, lieber Leser, ich zünde jetzt keine Räucherstäbchen an. Ich werde auch nicht "If You're Going to San Francisco" singen, und ich habe auch keine Blume im Haar. Für Flower-Power bin ich dann doch zu jung. Ich will damit nur sagen, dass einem beim Guillain-Barré-Syndrom die Suche nach sich selbst nicht erspart bleibt. Und sie führt in die tiefsten und dunkelsten Schichten des eigenen Selbst.
Dabei war es für mich nicht so schwer herauszufinden, wer ich bin, sondern wo. Nach dem Ausbruch der Krankheit fühlte ich mich, als hätte man mir den Boden unter den Füßen weggezogen. Der Boden war zwar noch da, aber er führte mich nirgendwo hin, weil meine Füße nicht mehr darauf gehen konnten. Heute, nach zweieinhalb Jahren, können sie es noch immer nicht richtig. Dann stolperte ich durch den zähen Genesungsprozess und verbrachte über ein Jahr in einem Zwischenland aus Hoffnung und Verzweiflung. Das war ein sehr schwindelerregender Weg, denn er war sehr steil und extrem kurvig. Ich erinnere mich noch gut an meine praktisch minütlich stattfindenden Stimmungsschwankungen. Es war ein Zustand zwischen "Wird schon werden" und "Ich bin tot". Ich atmete noch, sah, hörte, roch, schmeckte, aber ich fühlte nichts mehr. Damals ahnte ich noch nicht, in welchem Paradies ich mich auf der Intensivstation und danach auf der Neuro befand. Auch während meiner Reha erkannte ich in meiner Verzagtheit und meinem Selbstmitleid nicht, wie bequem und wohltuend das kurvenreiche Schlingern meiner Gedanken doch war. Ich fühlte mich zwar total verloren, war aber noch auf Kurs, ohne es zu bemerken.
Nach dem Tod meiner Mutter befand ich mich im freien Fall. Ich hatte damals, im August 2014, das Gefühl, nicht mehr zu wissen, wer ich bin. Ich wusste nicht mehr, wer "ich" ist. Zuerst hatte ich nur den Boden unter meinen Füßen verloren, aber jetzt war mein gesamtes Leben mit einem Schwerthieb abgeschnitten worden. Ich fühlte mich vollkommen orientierungslos. Zwar funktionierte ich irgendwie, machte meine Therapien hier in Altenhof und versuchte, nach außen hin ruhig zu bleiben, aber innerlich verbrannte ich. Mein Vater war schon dreizehn Jahre davor verstorben, und schon damals fühlte ich mich, als sei meine halbe Welt in Trümmer geschlagen worden, aber Mamas Tod zerstörte nicht nur den Rest meiner Welt, sondern auch mich.
Obwohl ich hier in Altenhof von vielen wunderbaren Menschen umgeben war, fühlte ich mich vollkommen allein. Ich hatte jetzt niemanden mehr, mit dem ich gemeinsame Erinnerungen teilen konnte. Das ist bis heute so geblieben. All diese Momente werden verloren sein in der Zeit, wie Tränen im Regen. Ich dachte damals oft an dieses Zitat aus dem Film "Blade Runner". Diesen Film habe ich mit vierzehn Jahren zum ersten Mal gesehen, und er ist bis heute mein Lieblingsfilm geblieben. An einer Stelle stellt Harrison Ford die Frage: "Wie kann 'es' nicht wissen, was 'es' ist?". Auch dieser Satz ist mir immer in Erinnerung geblieben. Ich habe mir diese Frage selbst sehr oft gestellt und habe entdeckt, dass ein großer Trost in diesen Worten liegt.
Wenn ich nicht mehr weiß, wer ich bin, wer ist dann derjenige, der das vergessen hat? Irgendwo muss ein Bewusstsein existieren, das sich diese Frage stellen kann. Und das kann ja wohl nur ich sein. So wurde mir klar, dass ich doch ein eigener Mensch bin. Auch ohne die schönen Zeiten von früher. Ohne meine Eltern, ohne unsere Wohnung, in der ich über vierzig Jahre lang gelebt habe und auch ohne Menschen, mit denen ich all diese Erinnerungen teilen kann.
Und das wiederum brachte mich zu der Einsicht, dass derjenige, der ich bin, nur dort zu finden sein kann, wo er seine Umgebung und vor allem das Leben um sich herum wahrnimmt. Um Descartes Satz "Ich denke, also bin ich" etwas großzügig abzuwandeln, sage ich: Wenn ich wahrnehmen kann, wo ich mich befinde, weiß ich, wer ich bin.
Ich weiß, dass klingt alles etwas seltsam und ist für andere Menschen nur schwer nachzuvollziehen. Oder vielleicht auch nicht. Ich kann mir gut vorstellen, dass es sehr viele Menschen gibt, die genau so oder so ähnlich empfinden. Egal ob mit oder ohne Guillain-Barré-Syndrom.
Sie kennen doch sicher das Gefühl, vollkommen im Hier und Jetzt zu leben. Es kann ein sehr erfüllendes und beruhigendes Gefühl sein. Vielleicht haben Sie es als Kind erlebt, als Sie auf einer Wiese lagen und den Wolken zusahen und irgendwo in der Ferne einen Rasenmäher hörten. Oder Sie waren am Meer und hörten das Kreischen der Möwen und spürten den sanften warmen Wind auf Ihrer Haut. Wenn man fähig ist, solche Empfindungen zu haben und alles andere auszuschalten, insbesondere die eigenen lauten Gedanken, ist man schon sehr nahe dran, an der ewigen Glückseligkeit. Haben Sie eigentlich schon bemerkt, dass ich manchmal etwas sentimental bin?
Es gibt auch noch ein anderes Wort für diesen Zustand: Achtsamkeit.
Der Begriff stammt aus dem tibetischen Buddhismus und bezeichnet eine einfache Meditationsübung, die große innere Ruhe und Glücksgefühle hervorrufen kann. Auch im japanischen Zen wird die Achtsamkeit praktiziert. Dabei begibt man sich in eine entspannte Position. Als GBS-Patient hat man da keine große Auswahl. Entweder im Bett liegen oder im Rollstuhl sitzen. Also, mit Yoga und Tai Chi geht da nichts. Muss aber auch nicht sein. Letztlich ist es egal, welche Körperhaltung man annimmt, Hauptsache ist, man atmet tief und ruhig und entspannt sich.
Konzentrieren Sie sich dabei entweder auf die Wahrnehmungen außerhalb Ihres Körpers oder die in ihrem Körper. Lenken Sie Ihre Aufmerksamkeit zu einer Stelle, an der Sie irgendein unangenehmes Gefühl haben, wie ein Jucken oder Stechen. Das wird dadurch zwar nicht verschwinden, aber durch die bewusste Wahrnehmung der Empfindung können Sie dessen Qualität besser einordnen.
Die Frage "Wie schlimm ist das wirklich?" Bringt manchmal überraschende Ergebnisse hervor. Dadurch kann ein Schmerz seinen bedrohlichen Charakter verlieren oder zumindest abgeschwächt werden. Ich kenne es aus eigener Erfahrung, dass ein ziehender Nervenschmerz bei genauerer Betrachtung gar nicht so schrecklich ist.
Dann beginnen Sie, die Welt um sich herum einfach nur wahrzunehmen. Wertfrei. Versuchen Sie, nicht zu denken und das, was sie sehen, hören, riechen oder spüren nicht zu beurteilen. Sie können dabei Ihre Augen schließen, einen beliebigen Punkt fixieren oder einfach in der Gegend umherblicken. Und alles, was Sie tun, ist einfach nur zu hören, zu sehen, zu fühlen, zu riechen und zu atmen. Versuchen Sie dabei, einfach nur die Ereignisse um Sie herum wahrzunehmen. Tun Sie das, so lange Sie wollen oder können, aber zwingen Sie sich nicht dazu, sich zu entspannen. Das funktioniert sowieso nicht.
Irgendwann habe ich festgestellt, dass ich in solchen Momenten genau weiß, wo ich bin und wer ich bin. Fast ist, es als würde ich den in unserem Universum nicht existierenden Fixpunkt finden. Eine Art inneres Refugium, eine Dimension außerhalb von Materie, Energie, Raum und Zeit. Ziemlich abgehoben, was? Aber beruhigend. Entspannend. Angstlösend.
Einfach nur sein.
Die achtsame Beobachtung des Geschehens um einen herum steigert das Selbstvertrauen und hilft, selbst in den schlimmsten Augenblicken, wenn das Leben nichts mehr zu bieten scheint als Krankheit, Schmerzen und Tod, die Ruhe zu bewahren und jede Situation zu kontrollieren. Jede Angst ist letztlich eine Angst vor Kontrollverlust. Das Gefühl, von einem intelligenten, selbstbewussten und kreativen Menschen zu einem hilflosen Opfer degradiert zu werden, ist nicht schön. Das können Sie mir gerne glauben, ich habe es erlebt, wie es ist, sich nicht mehr wie ein Mensch zu fühlen, sondern wie ein angeschossenes Tier.
Aber irgendwie ist es mir gelungen, nicht die Beherrschung über meine Nerven zu verlieren und in Panikattacken zu verfallen. Und das Mittel zum Zweck war die Achtsamkeit. Ich habe mit großem Interesse festgestellt, dass ich sogar in einem Zustand der totalen Lähmung noch immer etwas tun kann. Nämlich die Ruhe zu bewahren und mich an einen Ort zu begeben, an dem nichts anderes existiert als die reine Wahrnehmung des Seins. Bewusst und mit voller Absicht nichts zu denken ist schwer, aber erlernbar. Die Gedanken kann man zwar nicht ganz ausschalten, aber durch Konzentration auf alles was ist, kann man sie zumindest auf Standby schalten und auf diese Art chaotische Gefühle wie Angst, Furcht, Panik und Verzweiflung vermeiden oder zumindest mildern.
Das Schöne dabei ist, dass man für die Übung in Achtsamkeit gar nicht mit einer Tetraparese gelähmt in einem Bett liegen muss. Das kann man auch als gesunder Mensch machen, wenn man zum Beispiel auf etwas warten muss. Beobachten ohne zu beurteilen. Am schönsten ist das natürlich im Frühling in der Natur. Mit ein bisschen Übung kann man die Sinneseindrücke abspeichern und an trüben und kalten Wintertagen wieder abspielen. Alles nur aus dem Gedächtnis der eigenen Wahrnehmung.
Eine spezielle, sehr wirkungsvolle Atemtechnik ist die folgende: Atmen Sie ruhig und tief ein und in einem Zug ebenso ruhig un tief wieder aus. Machen Sie keine Pause zwischen Ein- und Ausatmen. Wenn Sie nicht weiter ausatmen können, halten Sie Ihren Atem für fünf Sekunden an. Dann beginnen Sie wieder von vorn. Zusätzlich können Sie sich beim Einatmen denken "Ich bin..." und beim Ausatmen "...ganz ruhig." Es ist erstaunlich, wie schnell diese Atemtechnik in angespannten Situationen oder bei Aufregung hilft. Tun Sie das ein paar Minuten lang, aber zwingen Sie sich nicht dazu, wenn Sie nicht mehr wollen.
Sind Sie noch wach? Vielleicht denken Sie sich, da habe ich aber wirklich was besseres zu tun, als einfach nur herumzusitzen und irgendetwas wahrzunehmen. Was soll ich denn sagen, wenn mich einer fragt, was ich da mache? "Oh, ich nehme wahr. Macht Spaß." Vielleicht kommt Ihnen das anfangs sehr merkwürdig vor, und Sie haben ein komisches Gefühl dabei, besonders, wenn Sie alleine in einem stillen Raum sind, aber es lohnt sich. Der Lohn für das etwas merkwürdige Verhalten und die scheinbare Zeitverschwendung ist die innere Ruhe und Ausgeglichenheit, wenn rundherum die ganze Welt zerbricht. 
Ich hoffe, Sie denken jetzt nicht, das sei nur etwas für alte Menschen, wenn ihr Fernseher wieder einmal kaputt ist. Nein, ist es nicht. Gerade für junge Menschen ist es lohnenswert, früh mit diesen Übungen in Achtsamkeit zu beginnen. Ich mache das schon seit über zwanzig Jahren. Durch das Studium der Achtsamkeit habe ich gelernt, auch in brenzligen Situationen ruhig zu bleiben. Selbst in Momenten, als ich dachte, ich würde den Tag nicht überleben, half mir das lange Training in Achtsamkeit, nicht den Kopf und die Selbstbeherrschung zu verlieren. Früher oder später kommen im Leben solche Momente, ich glaube, das muss ich Ihnen nicht sagen. Wenn Sie dann in der Lage sind, bewusst ruhig zu atmen und sich auf nichts anderes zu konzentrieren, als auf den Ort, an dem Sie sich gerade befinden, werden Sie bemerken, dass sich die Unruhe legt, die Angst auch und Sie die Fähigkeit zurückgewinnen, klar zu denken.
Dann finden Sie auch den Boden unter Ihren Füßen wieder. Der ist nämlich genau dort, wo Sie sind. 
Ich gebe zu, dass ich beim Verfassen dieses Textes im Geiste "If You' re Going to San Francisco" gesungen habe. Wissen Sie, warum? Scott McKenzie, der Sänger dieses Liedes, hatte nicht so viel Glück wie ich. Er starb an den Folgen des Guillain-Barré-Syndroms.
Das soll uns nicht passieren. Und darum mein Tipp für Sie, egal ob mit oder ohne Guillain-Barré-Syndrom:
Erfahre, wo Du bist, und Du findest zu Dir selbst.

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