Samstag, 19. Dezember 2015

Vormittag auf der Neuro

Ich liege im Bett, auf dem Rücken, und trommle leise mit meinen Fingern auf die Matratze. Gerne würde ich mit etwas mehr Kraft auf das Leintuch unter mir schlagen, aber ich will die anderen fünf Patienten in meinem Zimmer nicht aufwecken. Es ist früher Morgen, kurz vor sechs Uhr. Meine Augen habe ich noch geschlossen, aber ich sehe durch die Lider den matten Glanz, der durch das Krankenhausfenster fällt.
Gleich kommt der Pfleger Christoph und bringt die Morgentabletten und die Spritze zur Thrombosevorbeugung. Er wird wieder seinen üblichen Witz machen, lachen und mit fröhlicher Stimme sagen, hier kommt die Guten-Morgen-Biene-Maja. Dann wird er mich fragen, ob ich die Spritze in den Oberschenkel oder in den Bauch bekommen möchte. In den Oberschenkel, werde ich sagen.
Vorsichtig hebe ich meinen rechten Arm unter der Bettdecke an. Es fällt mir nicht schwer. Dann den linken. Auch kein Problem. Ich lege beide Arme wieder ab und trommle wieder ein bisschen. Dabei kann ich nicht aufhören zu lächeln. Ich freue mich. Es geht bergauf. Ich kann meine Hände wieder bewegen! Bald bin ich gesund. Bald bin ich zu Hause. Jetzt kann mir nichts mehr passieren. Ich habe den schlimmsten Teil meiner Krankheit überlebt, und jetzt folgt die Rückkehr in ein normales Leben. Was könnte jetzt meine Freude noch zerstören?
Ich wache auf.
Über mir sehe ich die weiße Zimmerdecke mit der langen rechteckigen Lampenreihe. Ich drehe meinen Kopf nach links. Das trübe Licht scheint ins Zimmer, aber ich liege im Halbdunkeln. Neben mir steht ein ausgebreiteter grauer Paravent. Mein Zimmernachbar mit dem Schlaganfall schnarcht und spuckt im Schlaf. Manchmal, nachts, hustet er so laut und kräftig, dass ich glaube, er würde über den Paravent spucken und mich treffen. Ich weiß nicht, ob ich lachen oder verrückt werden soll. Gleichzeitig schäme ich mich. Er tut mir leid. Aber nicht so sehr, wie ich mir selbst.
Ich lege meine Hände auf die Brust. Nein, ich versuche, sie auf die Brust zu legen. Aber sie bewegen sich nicht. Keinen Millimeter. Den rechten Arm kann ich ein wenig heben, aber er wird mir schnell zu schwer, und so lege ich ihn wieder ab. Jetzt weiß ich wieder, was meine Freude zerstören kann. Es geht nicht bergauf. Ich werde nicht wieder gesund. Nie. Ich werde nie wieder einen Bleistift in der Hand halten und die Zypressen am Meer zeichnen. Und ich werde nie wieder aufstehen und am Ufer des Attersees in Litzlberg spazierengehen können. Niemals wieder werde an einem frühen Sommerabend die Promenade von Portoroz entlangschlendern und ein Eis mit vier Kugeln essen, das mir der Eisverkäufer Kenon gemacht hat. So wie früher mit Papa. Als er noch gelebt hat. Als ich noch gelebt habe.
"Hier kommt die Guten-Morgen-Biene-Maja!" Höre ich Christoph vergnügt rufen. Meine Augen brennen. Ich bin mir nicht sicher, ob es Tränen sind oder die Nebenwirkung des Antibiotikums, das ich wegen eines Harnweginfekts nehmen muss.
"Was ist denn mit deinen Augen?" fragt mich Christoph. "Die sind ja genz rot und verklebt."
"Das ist immer so, wenn ich aufwache", sage ich. "Kann das eine Nebenwirkung des Antibiotikums sein?"
"Kann schon sein", meint Christoph. "Ich wische sie dir mit einem feuchten Tupfer aus. Sag das später bei der Visite."
"Ja", sage ich. Er kommt mit einem befeuchteten Tupfer aus Mull oder Vlies oder was weiß ich was und wischt über meine Augenlider. Es tut gut. Sie brennen zwar immer noch, aber ich sehe jetzt wieder besser. Das Brennen ist auch nicht so schlimm, ich habe mich inzwischen schon daran gewöhnt.
"Möchtest du die Spritze in den Bauch oder in den Oberschenkel", fragt der Pfleger, kennt meine Antwort aber schon.
"In den Oberschenkel"
"Vorsicht, nicht schrecken"
Pieks.
Dann werde ich gewaschen. Morgenpflege. Früher konnte ich selber duschen. Ich bin zu Hause ins Bad gegangen und habe mich unter die Dusche gestellt. Einfach so. Jetzt nicht mehr. Und wahrscheinlich nie wieder. Christoph wird mich gleich fragen, ob ich mich zum Rückenwaschen zum Kasten oder zum Fenster drehen möchte.
"Willst du dich zum Rückenwaschen zum Kasten oder zum Fenster drehen?" fragt er. Auch diese Antwort kennt er bereits, und er wird gleich sagen, dass er sich das gedacht hätte.
"Zum Fenster", sage ich.
"Das habe ich mir gedacht. Du willst ja immer zum Fenster." Er zieht am Leintuch und wuchtet mich irgendwie auf die Seite.
So werde ich gewaschen. Gründlich und vorsichtig. Ich spüre nichts. Weder den Waschlappen auf meinem Rücken, noch die Wärme des Wassers. Nur die rechte Hüfte. Ich versuche, die Oberschenkel zu bewegen, aber es gelingt mir nicht. Die Morgenpflege dauert zum Glück nicht lange, und schon bald liege ich wieder zugedeckt auf dem Rücken und starre an die Zimmerdecke. Ich überlege mir, was mir der heutige Tag bringen wird. Es wird ein Routinetag sein. Keine schmerzhaften Untersuchungen oder erschreckenden Diagnosen, zumindest hoffe ich das. 
Jetzt kommt Schwester Carina mit dem Frühstück. Sie ist blond. Macht nichts. Sieht gut aus. Sie hat einen lustigen Mund und ist immer gut gelaunt. Nicht gespielt, sondern echt.
"Guten Morgen!" sagt sie zu mir und lächelt mich an. Ihre Augen stehen ziemlich nahe beieinander, das unterstreicht ihre fröhliche Natur noch. "Jetzt gibt' s Happi-Happi!" Ich überlege mir, ob ich bellen und mit dem Schwanz wedeln soll, unterlasse aber beides. Happi-Happi klingt immer noch besser als "beim Essen unterstützen", der Neusprechausdruck für füttern, weil die Krankenschwestern sich nicht trauen, dieses Wort auszusprechen. Genauso wie Windel oder Galgen.
Carina betätigt die Fernsteuerung des Krankenbettes, um mich aufzusetzen. Hüfte. Wirbelsäule. Schmerzen. Aber die angenehmen Dinge wie das Eincremen der Beine spüre ich nicht. Ich sitze in einer Art 45-Grad-Winkel, und Carina, deren Spitzname Carrie ist, beginnt, das Marmeladebrot in kleine Stücke zu schneiden und mir mit ihren latexbehandschuhten schlanken Fingern einzugeben. Essen eingeben. Auch so ein Ausdruck.
Ich blicke in die Runde. Mir gegenüber sitzt der Patient mit dem Knochenkrebs. Mitte vierzig. Einmal ist ihm bei der Visite der Oberschenkelknochen gebrochen. Das war in Linz.
"Die Ärzte haben es mir nicht geglaubt", hat er einmal erzählt. "Sie haben gedacht, das sei nur ein Knacken im Kniegelenk gewesen. Aber das war es nicht. Es war der Krebs, der sich durch den Knochen gefressen hat. Da ist er zerbrochen." Bei einem Röntgen hatte sich dann herausgestellt, dass es wirklich so gewesen war. Jetzt sitzt der Mann in seinem Bett und liest Zeitung.
In dem mittleren Bett liegt der alte Mann mit dem kurzen weißen Haar, der den ganzen Tag immer "Himmel hilf!" sagt. Schlaganfall. Er hängt an einer Infusion. Im Bett hält er es nicht lange aus. Er muss wohl irgendwie hyperaktiv sein oder sowas ähnliches. Er schlägt die Decke zurück und will aus dem Bett klettern. Das macht er oft. Dann irrt er im Zimmer herum. Vor ein paar Tagen hat er sich dabei versehentlich den Infusionsschlauch aus der Kanüle In seinem Arm gerissen und den Boden mit Blut überschwemmt. Er ging einfach weiter, durch die Blutzpfütze hindurch, bis eine Krankenschwester den Raum betrat und aufschrie.
All das zieht unbemerkt an dem älteren Herrn auf meiner Seite des Zimmers vorbei. Er ist Geschäftsmann. Rotes Gesicht und immer sehr nervös. Er hat ein Hobby. Oder eher einen Zwang. Den ganzen Tag und den ganzen Abend ordnet er irgendwelche Papiere in Schnellheftern aus Plastik. Bei den Krankenschwestern bestellt er Fotokopien der Speisepläne und korrigiert sie. Einerseits die Rechtschreibfehler und andererseits die Menüabfolge. Vieles schmeckt ihm nicht, also schreibt er neue Gerichte auf die Pläne. Er kritzelt so lange mit einem Kugelschreiber auf dem Papier herum, bis fast nichts mehr zu sehen ist vor lauter blauer Tinte. Manchmal versucht er aufzustehen und fällt aus dem Bett. Dann bleibt er am Boden sitzen, und wenn eine Schwester ihm sagt, es würde gleich Hilfe kommen, sagte er, er möchte lieber am Boden bleiben. Dann ordnet er weiter Papiere und fragt nach neuen Speiseplänen.
Mit meiner Zunge drehe ich das kleine Stück Schwarzbrot mit Butter und Erdbeermarmelade im Mund um, damit ich den süßen Geschmack auf der Zungenspitze spüre. Das mache ich bei jedem Bissen, schon seit der Intensivstation vor drei Monaten. Oft, wenn ich abends nicht einschlafen kann, denke ich an die Marmelade zum Frühstück und freue mich darauf. Wenn man gelähmt ist, wird man bescheiden.
Kauen. Schlucken. Nächster Bissen. Zunge. Kauen. Irgendwann sind beide Brote gegessen und Carrie reicht mir den Schnabelbecher mit Milchkaffee. Köstlich. Früher war ich kein Kaffeetrinker, höchstens ab und zu einen Cappuccino im Urlaub in Kroatien am Meer. Jetzt ist der Kaffee für mich flüssiges Glück. Ich mochte auch Süßigkeiten nie besonders. Fettes scharfes Fleisch. Aber jetzt bringt mich der Zucker durch den Tag, ohne dabei den Verstand zu verlieren. Katheter. Sediment. Spülen. Wechseln. Passiert immer wieder, und ich leide jedesmal wie ein Hund.
Aber jetzt gibts den letzten Rest Happi-Happi. Dann die Tabletten. Carrie wünscht mir einen schönen Tag. Nett, finde ich, erwidere den Wunsch und möchte ihr am liebsten ins Gesicht brüllen, dass es für mich keine schönen Tage mehr gibt, seit ich nur noch ein Kopf bin. Ich tue es aber nicht. Carina ist super, sie hat das nicht verdient.
Ich muss noch ein bisschen sitzen bleiben, damit der Magen das Essen besser verdauen kann. Das kann er im Liegen zwar genauso, aber ich habe ja keine Wahl, will auch keinen Streit und sitze mit geschlossenen Augen da, bis die nächste Krankenschwester ins Zimmer tänzelt, damit ich sie mit soviel Menschenwürde, wie mir noch geblieben ist, anflehen kann, mich wieder hinzulegen.
Sie kommt rein, tänzelt aber nicht. Dazu ist sie zu klein. Aber freundlich. Sie heißt Marlene, hat kurzes brünettes Haar und die hellsten blauen Augen, die man sich nur vorstellen kann. Noch blauer als ihre Krankenschwesternschülerinnenuniform. Heute erscheint es mir wie ein Wunder, dass ich das Wort Krankenschwesternschülerinnenuniform tippen kann, ohne dabei abzusetzen. Damals konnte ich nur schlucken und ein bisschen hin- und herschauen.
Aber beim Guillain-Barré-Syndrom dauert alles ja bekanntlich sehr lange. Man muss Geduld haben. Ich muss Geduld haben, egal, ob ich will oder nicht. Geduld kann man nämlich nicht erzwingen. Zwang ist ein kämpferischer Akt, Geduld ein ausgesprochen friedlicher.
Jetzt liege ich also wieder am Rücken und schaue nach oben. Ich habe in der weißen Farbe der Zimmerdecke einige Strukturen entdeckt, die ich immer wieder suche, wenn ich nach oben schaue. Es sind kleine Erhebungen der Farbschicht. Eine sieht aus wie ein Revolver. Eine andere ähnelt einem verzerrten schreienden Gesicht. Manchmal frage ich mich, ob ich verrückt geworden bin, aber wenn ich die Augen zumache und dann wieder hinsehe, sind der Revolver und das Gesicht immer noch da.
Es ist noch nicht einmal acht. In diesem Krankenzimmer gibt es keine Uhr an der Wand. Der Arzt mit der kurzen hellblonden Stoppelfrisur hat mir einmal gesagt, die Leute hier brauchen keine Uhr, weil sie geistig nicht mehr in der Verfassung sind, die Zeit abzulesen. Ich glaube, er wollte damit eigentlich sagen, weil sie sich sowieso schon lange aufgegeben haben und sterben wollen.
Ich will das nicht. Ich gebe auch nicht auf. Ich suche mir weiter Strukturen an der Decke und zähle bei Langeweile meine Atemzüge. Fünfundzwanzig mal ruhiges atmen sind eine Minute. Für eine Stunde brauche ich knapp 1000 Atemzüge. Glauben Sie mir. Ich habe es ausprobiert. Öfter als einmal. Es reinigt die Gedanken und hält die Angst in Schach. Wenn Sie einmal irgendwo fünf Minuten warten müssen, atmen Sie langsam und zählen dabei bis 125. Klingt nach einem super abenteuerlichen Leben, nicht? Aber es ist immer noch tausendmal besser als die Gedanken an ein langes Leben als Kopf.
Julia.
        Wie soll ich sie beschreiben? Vielleicht mit Shakespeares Worten? Vergleiche ich dich einem Sommertag? Viel schöner noch ist deine Lieblichkeit...Sie ist zierlich, hat das Gesicht eines Engels mit den Augen eines Rehs und der Kraft eines Grizzlybären. Sie wird mir weh tun. Das tut sie immer. Muskeln durchbewegen. Selbst kann ich das nicht, also macht es die Ergotherapeutin. Jeden Tag um neun. Anfangs war sie ganz vorsichtig, aber seit ein paar Tagen geht es ans Eingemachte. Das bin in diesem Fall ich. Aber ich weiß, dass es weh tun muss, obwohl die Ergotherapeuten immer sagen, es dürfe nicht weh tun. Egal. Wenn meine Hände wieder gesund werden, soll es ruhig schmerzhaft sein. Das hört ja wieder auf. Ich glaube, es ist typisch für diese Krankheit, dass ich an der Hautoberfläche nichts spüre, aber in tieferen Schichten und im Muskelgewebe. Da gibt es viele Faszien und Kontrakturen und Verklebungen. Einmal sagte eine Therapeutin im Beisein eines Arztes zu einem anderen Patienten, das feste Massieren und Kneten löse die Verklebungen in den Muskeln.
"Ja", sagte der Arzt. "Und der Glaube versetzt Berge."
Mir ist schon öfter aufgefallen, dass die Theorien der Ergotherapeuten nicht immer mit dennen der Ärzte übereinstimmen. Ärzte glauben offenbar nicht an Muskelverklebungen. Mir ist es egal, Hauptsache, sie verschwinden wieder. Ich meine die Verklebungen, nicht die Ärzte oder Therapeuten.
Julia fängt an.
Sie beginnt mit den Fingern meiner linken Hand. Ich sitze halb aufrecht im Bett und sehe ihr zu. Mit mäßiger Kraft zieht sie Muskeln nach unten, was sie da genau macht, weiß ich nicht. Jedenfalls wendet sie immer mehr Kraft an und massiert dann auch den Handrücken und die Handfläche. Ich weiß nicht, wie lange die Prozedur dauert, aber mir treibt es die Tränen in die Augen. Nicht vor Traurigkeit, sondern vor Schmerz. Gleichzeitig weiß ich nicht, ob ich mich nicht vielleicht freuen sollte. Immerhin spüre ich etwas. Auch den ziehenden Druck an der Haut. Eigentlich ein gutes Zeichen.
"Das ist sicher nicht einmal annähernd die ganze Kraft, die Sie haben", sage ich zu Julia.
Sie grinst und lacht. "Oh, nein!" sagt sie und geht um das Bett herum, zu meinem rechten Arm. Dort dasselbe nochmal. Ich versuche, den Schmerz zu verdrängen?
"Ist es zu stark?" fragt Julia.
"Geht schon", sage ich. Den Helden spielen. Na ja, irgendwann wird sie es sowieso bemerken, dass es nicht mehr geht und dass ich kein Held bin. Aber sie läßt sich Zeit. Wieder zehn Minuten die Hand in der Hobelbank. Ich atme schwer und schwitze. 
Dann hört Julia auf. Sie lächelt mich an. "Das geht jetzt schon viel besser", sagt sie.
"Ja." Ich stimme ihr zu.
"Also, dann bis morgen. Schönen Tag!"
Und schon ist die blonde Elfe mit der Kraft von Bud Spencer wieder weg.
Ich drücke meinen rechten Ellbogen gegen die Steuerung des Bettes. Langsam senkt sich der Rückenteil. Und stockt. Ich taste weiter, finde den Knopf nicht mehr. Egal. So bleibe ich liegen und versuche, mich zu entspannen. Ich bin erschöpft, verschwitzt und desillusioniert. Mein Katheter verwechselt meine Blase mit einem Dartbrett.
Und es ist noch nicht einmal Mittag. 

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