Samstag, 26. Dezember 2015

Schlechte Luft

Um zehn habe ich Physiotherapie. Ich weiß nicht, was sie heute machen werden. Entweder meine Arme und Beine im Bett durchbewegen, oder wir fahren in den Trainingsraum im Erdgeschoß, und ich mache auf einer Bobath-Liege Rumpfstabilisationsübungen. Ich kann mich sogar schon ein bisschen aus der Seitenlage hochstemmen, weil allmählich die Kraft in den Armen zurückkommt.
Manchmal schaffe ich es mit Hilfe des Therapeuten sogar bis in die aufrechte Sitzposition. Nur sitzen kann ich nicht, ohne gleich wieder umzukippen. Darum werde ich immer gestützt.
Ein bisschen stolz bin ich schon immer auf mich, wenn mir so etwas gelingt wie einen Arm auszustrecken und einen Plastikkegel zu berühren oder mit nach vorne ausgestreckten Armen auf einer Liege zu sitzen. Gleichzeitig ist es für mich aber auch jedesmal wieder ein Schock zu sehen, was ich alles nicht kann und auf welche Kleinigkeiten ich stolz bin. Eigentlich sollten mich die Therapiestunden ja aufbauen, aber für mich sind sie eher ein Fiasko als ein Fortschritt.
Ich versuche, noch ein bisschen zu schlafen, kann aber nicht. Mein Dauerkatheter verursacht ein sich andauernd wiederholendes Sticheln in der Blase. Ich zähle mit. 36 Atemzüge. Knapp über eine Minute. Ich warte, bis es wieder aufhört. 34, 35, 36. Es hört nicht auf. Irgendwann döse ich dann doch vor mich hin und zähle dabei weiter. Dann zucke ich zusammen und schrecke aus dem Halbschlaf auf. Ich schreie aber nicht, also merkt niemand etwas. Einige Minuten später dasselbe nochmal. Müde. Einnicken. Hochschrecken. Das ist jedesmal so, egal wie müde und erschöpft ich bin. Ich weiß nicht, wie lange ich geschlafen habe. Ich drehe meinen Kopf nach rechts. Auf dem Nachttisch liegt meine G-Shock. 9:53. Gleich werden sie da sein. Wolfgang und Alfred, meine Physiotherapeuten.
Ein bisschen freue ich mich immer auf die beiden. Sie haben mir schon sehr viel geholfen und sind immer gut gelaunt. Ich weiß nicht, ob Therapeuten und Pflegekräfte eigens Kurse in guter Laune absolvieren müssen. Es wirkt jedenfalls immer überzeugend. Manchmal fällt ein Witz sogar bei mir auf fruchtbaren Boden. Dabei war ich früher so lustig. Ich verdränge den Gedanken, sonst fange ich noch an zu weinen, und das kann ich jetzt nicht brauchen. 
Früher, früher...Ein bisschen Humor und Lebensfreude sind mir ja geblieben. Ich vertraue darauf, dass sie mit der Zeit wieder stärker werden, aber ich glaube nicht wirklich daran.
Wolfgang und Alfred betreten das Krankenzimmer. Beide sind schlank, weiß gekleidet. Wolfgang heute mit dunklem Dreitagebart. So sieht er besser aus, finde ich. Rasiert wirkt er wie ein junger Bankangestellter.
"Morgen!" sagt er. Auf seinem Gesicht liegt ein spitzbübisches Lächeln, dem man den spitzen Zynismus nicht anmerkt, der dahintersteckt. Aber er ist ein sympathischer Mensch. Ich wünsche mir immer, ich könnte so eine lockere Art haben wie er. Früher. Da schon. Alfred wünscht mir auch einen guten Morgen. Er ist einen Kopf größer als Wolfgang und sieht ein bisschen aus wie George W. Bush. Nur viel freundlicher und intelligenter.
"Heute gehen wir auf die Bobath-Liege", sagt Wolfgang.
Ich erspare mir Bemerkungen und blöde Witze zum Thema Gehen. Ich höre das Wort ja oft. Umgangssprache. Ich glaube nicht mehr daran, jemals wieder gehen zu können. Soetwas wird nicht mehr gut. "Gut", sage ich. Ich will nicht. Bin müde. Meine Hüfte wird wieder weh tun. Es nutzt doch sowieso nichts. Ich werde für den Rest meines Lebens in Betten liegen und in Kränen hängen. Gefüttert werden, und das verdaute Essen wird mir aus dem Bauch rinnen.
"Ich hole den Kran." Wolfgang geht ins Bad. Wenige Augenblicke später schiebt er den Hebelifter ins Zimmer und die tägliche Prozedur beginnt von vorne. Ich werde zur Seite gedreht, damit man mir die Matte, in der ich gleich hängen werde, unter den Rücken schieben kann. Dann auf die andere Seite. Zwei breite Ausläufer der Matte kommen unter meine Kniekehlen und werden in die Befestigung gehängt, die aussieht wie ein Kleiderbügel. Es fängt an zu summen, und ich schwebe über dem Bett wie Linda Blair in "Der Exorzist". Alfred schiebt den Kran zwischen Bett und Kasten vorbei, ich wackle hin- und her. Jetzt werden sie mich gleich in den Pflegesessel setzen. Warum werfen sie mich nicht gleich in einen Haufen glühende Kohlen, frage ich mich. Das wäre sicher angenehmer. Ich bin unfair, denke ich. Die zwei helfen mir so sehr. Ich habe wirklich keinen Grund, mich zu beklagen. Aber das tue ich auch nicht.
Auch darauf bin ich ein bisschen stolz. Während der gesamten Zeit mit dem Guillain-Barré-Syndrom, von der Intensivstation angefangen, habe ich mich nie über etwas beklagt oder beschwert. Nicht ein einziges Mal. Aber weder aus Demut noch aus Heldentum, ich hatte einfach nur Angst, dass sie mich rausschmeissen oder ich sonst irgendwelchen Ärger kriege. Und Fatalismus ist es auch. Warum soll ich mich noch über irgendetwas ärgern? Meine Zukunft ist eine Schabeltasse. Mein ganzes restliches Leben wird aus einem Leintuch und einer Bettdecke bestehen. Dazwischen Schläuche, Säcke und Verbände. 
Das einzige worüber ich mich wirklich ärgere, ist, dass ich damals bei der Operation meiner Darmsepsis nicht gestorben bin. Nach der Schilderung eines Krankenpflegers bin ich in meinem Blut geschwommen. Warum haben sie mich nicht einfach wegschwimmen lassen? Die Ärzte und Schwestern hätten nur zehn Minuten aus dem OP gehen müssen, und die Sache wäre erledigt gewesen. Aber nein, sie haben mich gerettet.
Ich schäme mich für das, was ich gerade denke. Aber ich weiß nicht, ob ich meinen Lebensrettern dankbar sein soll.
Der Pflegesessel sieht aus wie ein wirklich unbequemer Friseurstuhl mit kleinen Rädern. Gepflegt bin ich da drin noch nie worden. Den brauchen Wolfgang und Alf nur, um mich zu den Trainingsräumen im Parterre zu schieben. Ich werde noch zugedeckt, weil mein Kleidungsstil entspricht nicht den guten Manieren. Ein am Rücken offenes kurzärmeliges Krankenhausnachthemd, hüftlang. Darunter nichts außer einem Harnsackerl. Mir ist das mittlerweile egal, ich bin es gewöhnt. Außerdem bin ich hier weder bei einer Modenschau, noch bei einem Schönheitswettbewerb.
Und los geht’ s. Wolfgang schiebt mich, Alfred den Hebelifter. Durch den Gang der Neurostation. Krankenschwestern und Ärzte grüßen. Zum Lift. Wolfgang drückt auf den Knopf und zuckt zurück.
"Ah! Nicht schon wieder!" sagt er und lacht. "Hier kriege ich jedesmal einen gewischt."
Aus irgendeinem Grund ist mir das peinlich. Ich fühle mich schuldig, weil Wolfgang einen elektrischen Schlag bekommen hat, wenn auch keinen gefährlichen. Alles nur wegen mir. Weil ich Arsch krank geworden bin. Und gelähmt. Und wieder gesund werden will. Aber nicht dran glaube. Und keine Hoffnung mehr in die Zukunft habe. Ich kann mich selbst nicht mehr leiden. Ich bin ein weinerlicher Feigling geworden. Und jetzt, in diesem Moment, wo ich eingepfercht in einem Stuhl der Inquisition im Lift des Krankenhauses sitze, hoffe ich doch tatsächlich, dass ich die heutige Therapiestunde überleben werde. Wenn ich von der Liege falle und mir den Hals breche, bin ich tot. Wär’ vielleicht eh das Beste. Aber was, wenn ich dann den Rest meines Lebens endgültig gelähmt bin, ohne die Chance auf Heilung?
Wir fahren weiter, durch die langen Gänge und Hallen des Krankenhauses, das aussieht wie ein Flughafen. Schwenken nach links ein, zu den Physioräumen. Dann nach rechts und fahren schließlich über eine dunkelblaue Matte in den Raum mit den Trainingsparzellen, die durch Vorhänge voneinander abgegrenzt sind.
"Jetzt musst du dir das Mittagessen verdienen", sagt Alfred und lacht.
Ich schaffe es wenigstens zu schmunzeln.
Raus aus dem Pflegesessel, rein in den Hängekran. Ich werde neben die Liege geschoben, dann beginnt Wolfgang, mich so zu drehen, dass ich mich hinsetzen kann. Wenn der Kran jetzt umkippt, bin ich tot, denke ich mir. Oder völlig gelähmt. Für immer.
Der Kran kippt nicht um, sage ich mir innerlich. Denk' nicht immer so negativ. Er ist noch nie umgekippt, und das wird er auch jetzt nicht tun, stimmt' s?
Stimmt nicht.
Der Kran kippt.
Er neigt sich nach rechts und fällt dann mit einem Schwung in Alfreds Arme, der ihn sofort wieder hochstemmt. Wolfgang hilft ihm. "Der Boden ist zu weich", sagt er.
Der Hebelifter steht wieder. Mein Herz rast. Ich schwitze. Ganz ruhig. Ich klammere mich an dem Bügel für den Gurt fest, meine Augen fest zusammengekniffen. Aber ich beruhige mich schnell. Ich möchte die Beiden anbrüllen, tue es aber nicht. Es war nur ein kleines Missgeschick. Kann passieren. Weiter geht' s.
Alfred setzt mich ab, und die beiden beginnen, mich von dem Gurt zu befreien. Wenn er jetzt zu fest an den Laschen für die Beine zieht, falle ich auf den Boden, denke ich. Er zieht nicht zu fest an den Laschen. Dann fängt das Training an. Alfred steigt mit einem schwungvollen Schritt auf die Liege und setzt sich hinter mich. Das konnte ich auch einmal, denke ich. Ich soll mich zurücklehnen. Das tue ich, aber nur zögerlich. Meine Rumpfstabilität ist noch fast nicht vorhanden, ich habe Angst umzufallen. Wenn nicht nach hinten, dann zur Seite.
"Und jetzt nach vorne", sagt Wolfgang. "Die Hände ausgestreckt und die Handflächen auf meine Schultern."
Ich tue, was er sagt und denke mir, wenn ich nach vorne kippe und auf ihn drauffalle, wird das bestimmt schmerzhaft. Für Wolfgang. Ich beuge mich nach vor, so weit ich irgendwie kann und verziehe das Gesicht vor Schmerz.
"Hüfte?" fragt Wolfgang.
"Ja." Ich nicke. Jetzt habe ich Schwierigkeiten durchzuatmen. Ich tue nichts anderes, als einfach nur querbett auf einer Trainingsliege zu sitzen, aber das ist für mich so anstrengend wie ein Dauerlauf. "Ich bekomme fast keine Luft", sage ich leise und mit schwacher Stimme.
"Besser als gar keine." Wolfgang lächelt. Ich auch. Ich muss zugeben, das war witzig.
Noch ein paarmal nach vorne beugen und zurücklehnen, dann machen wir etwas anderes. Seitliches Aufstützen. 
"Den linken Arm ausstrecken und so weit wie möglich zum Rand der Liege greifen", sagt Wolfgang. Ich versuche es. Mir fällt bereits das Ausstrecken des Armes schwer, und ich sehe schon, dass ich keine Chance habe, bis zum Fußende der Bobathliege zu kommen. Das sind vielleicht dreißig Zentimeter. Eine Lineallänge. Ungefähr die Höhe eines DIN-A-4-Zeichenblattes. Zeichnen, denke ich. Das werde ich nie wieder können.
Aber früher war nicht alles besser. In ein derartig dummes Lamentieren will ich nicht verfallen. Früher war gar nichts besser als es jetzt ist.
Früher, als ich noch ein Kind war, bin ich aufgewacht und habe mich auf den Tag gefreut. Das Leben war noch neu, und der Tod war weit entfernt.
Obwohl es mir schwer fällt, strecke ich mich weiter und habe wieder Angst umzukippen. Diesmal zur Seite. Aber ich kippe nicht. Alfred hält mich fest. Ich schaffe es fast. Mit den Fingerspitzen komme ich nicht bis zum Rand der Liege. Ich kann sie nicht ausstrecken. Wegen der Kontrakturen sind sie noch immer nach innen verkrümmt. Nur der Zeigefinger läßt sich strecken, aber auch nicht in dieser Stellung.
"Sehr gut, das reicht. Und jetzt langsam wieder aufsetzen." Was Wolfgang da sagt, klingt so einfach. War es ja auch früher einmal. Aber jetzt kommt mir die Vorstellung, mich aus der Seitenlage wieder in die normale Sitzposition zu begeben geradezu lächerlich vor. Trotzdem versuche ich es. Mit dem Ellbogen stütze ich mich ab und stemme mich hoch. Irgendwie. Ich glaube, dass mein Arm einknickt, aber ich konzentriere mich und beschließe, mich durchzubeissen.
Und dann, auf einmal, geht es ganz leicht. Nur das erste Stück war schwer, aber jetzt setze ich mich auf, als wäre nichts gewesen.
"Bravo!" ruft Alfred hinter mir.
"Ja, super", sagt Wolfgang.
Wir machen noch ein paar Übungen und beschließen dann, für heute aufzuhören. Gleich gibt es das Mittagessen. Ich hätte es mir verdient, meint Alfred. Luft kriege ich immer noch fast keine, aber das ist besser als gar keine, denke ich.

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