Samstag, 6. Februar 2016

Bärenschritte

"I’ m walking, yes indeed!"
Fats Domino

Anfang Juni 2013 bin ich in meinem damaligen Zuhause in Seewalchen am Attersee vor meinem Bett gestolpert und gestürzt und konnte danach nicht mehr aufstehen. Das war gegen Mitternacht. Irgendwie schaffte ich es, mich mit den Unterarmen am Fußende des Bettes hochzuziehen, die Beine nachzuheben und mich auf den Rücken zu legen. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, wie sehr und wie schmerzhaft diese kleine Unachtsamkeit mit dem darauf folgenden Sturz mein Leben verändern würde. Ich konnte noch nicht ahnen, dass mit meinem Fall auf den Boden auch meine ganze Welt einstürzen würde.
Als Kind habe ich auf diesem grauen Linoleumboden mit meinen Freunden mit Matchboxautos und Playmobilfiguren gespielt. Fünfunddreißig Jahre später stürzte ich an derselben Stelle fast in den Tod. Was auf diesen Sturz folgte, waren zwei Monate Intensivstation, vier Monate Neuro, vier Monate Reha und schließlich mein Einzug in ein kleines Zimmer in einem Dorf für Behinderte. Dort lebe ich jetzt noch und tippe diese Zeilen mit meinen Zeigefingern auf die Bildschirmtastatur meines iPads.
Dass ich den Sturz überlebt habe, sehe ich nicht als Wunder. Ich bin ja nicht hart aufgeprallt, sondern eher in einer Art Blutgrätsche in die Knie gegangen. Aber danach wäre ich mehrere Male fast gestorben. Man kann wirklich sagen, dass mein Sargdeckel bereits weit offen war. Der Totengräber hockte in den schlammigen Startlöchern, und der Pfarrer hat wohl schon die Löcher im Aspergill poliert. Der Weihrauch war ganz schön am Dampfen, glauben Sie mir.
Zugegeben, diese Geschichte bietet nicht viel Spannung, da ich diesen Beitrag ja selber schreibe und nicht aus dem Jenseits mittels Channeling oder flackernden Kerzen per Morsealphabet diktiere. Ich bin also kein Ghostwriter, sondern ein quicklebendiger Überlebender einer Krankheit namens Guillain-Barré-Syndrom. Wenn Sie meinen Blog schon längere Zeit verfolgen, kennen Sie meine Geschichte ja. Ich schreibe diese kurze Einleitung nur deshalb, um einen kleinen Überblick über den Verlauf meiner Krankengeschichte zu bieten, damit das, was ich Ihnen heute erzählen werde den entsprechenden dramatischen Unterbau hat.
Mein Erlebnis vom vergangenen Mittwoch könnte sonst wie eine bedeutungslose Kleinigkeit dastehen. Aber nach einem guten halben Jahr Tetraparese, der vollständigen Lähmung des gesamten Körpers vom Hals bis in die Zehenspitzen, einem Nierenversagen, einer Darmsepsis, der Entfernung von zwei Metern Dünndarm, massiven Leberblutungen, einem Herzstillstand und der ärztlichen Prognose, dass sich mein Zustand aller Voraussicht nach zwar bessern wird, es aber auch sein kann, dass ich den Rest meines Lebens gelähmt bleibe und nur den Kopf werde bewegen können, ist der 3. Februar 2015 für mich ein ganz besonderer Tag. Ganz schön langer Satz, oder?
An diesem Tag, gegen 15:40, habe ich meine ersten vier freien Schritte ohne jede Sicherung gemacht. Ich bin zwar schon an einem physiotherapeutischen Trainingsgerät namens Laufkatze mehrere Meter gegangen, aber die beiden Holzbarren links und rechts von mir waren dabei mit einem stabilen Gerüst an zwei Schienen an der Zimmerdecke gesichert.
Am Mittwoch habe ich meine Hände an die Griffe eines Rollators gelegt, bin mit ein wenig Schwung aus meinem elektrischen Rollstuhl aufgestanden und habe einen Schritt vorwärts gemacht. Mein Therapeut Wolfgang hat mich dabei nicht gestützt, und auch sonst hatte ich keine Hilfe. Der Schritt war klein, zittrig und zögerlich, aber er war ein Schritt, den ich ganz alleine machte. Nach zwei Jahren und acht Monaten.
Das war das erste richtige freie Gehen ohne Sicherung. Im Dezember 2014 habe ich zwar schon die ersten drei zögerlichen Schritte gemacht, aber da habe ich die Füße noch nicht richtig angehoben und bin eher dahingeschlurft. Außerdem lagen einige große Hantelscheiben im Korb des Rollators. Trotzdem war das das erste Mal, dass ich seit Ausbruch meiner Krankheit wieder gegangen bin. Jetzt aber bin ich selbstständig aus dem E-Rolli aufgestanden und habe dann einen Schritt vor den anderen gesetzt. Dann noch einen. Und dann noch zwei.
Vier Schritte waren das äußerste, was ich geschafft habe. Ich war sehr unsicher und wackelig. Außerdem war es sehr anstrengend, und ich hatte keine Standsicherheit. Meine Füße sind noch weit davon entfernt, in Ordnung zu sein, auch wenn die Kraft in den Beinen doch schon erstaunlich groß ist. Aber richtig ausbalancieren kann ich noch immer nicht. Genaugenommen kann ich es überhaupt nicht. Wenn ich die Griffe des Rollators loslassen würde, könnte ich mich bestimmt nicht auf den Beinen halten und würde umkippen. Aber ein bisschen besser kann ich die Füße schon bewegen, und so wird das wohl auch nur noch eine Frage der Zeit sein. 
Ich bin also deutlich zuversichtlicher geworden. Ich spüre jetzt schon, dass ich nur noch einen kleinen Schritt von der Heilung entfernt bin. Besser und weiter zu gehen hat auch nur deshalb nicht geklappt, weil ich ganz einfach Angst hatte hinzufallen. Mehr Beinkraft und ein sicheres Standvermögen sind jetzt gefragt. Daran werde ich als nächstes mit Wolfgang arbeiten. Er sagt ja immer, dass die Sicherheit mit dem Training kommt. Wenn ich diese Sicherheit habe, werde ich bald sehr schnell wieder richtig und normal auf die Beine kommen. 
Ich kann es nicht richtig begründen, aber ich spüre irgendwie, dass die Zeit der Behinderung bald vorbei sein wird. Ich habe immer öfter das Verlangen aufzustehen oder etwas anderes auszuprobieren.
Wie so oft, werde ich wohl auch dieses Mal einige Zeit brauchen, um zu verstehen, über welches Hindernis ich am Mittwoch gesprungen bin und welchen Meilenstein ich da erreicht habe. Aus irgendeinem mir unverständlichen Grund, will die Freude nicht so recht aufkommen. Wahrscheinlich, weil in der Zeit seit dem Beginn meiner Krankheit so viele schreckliche Dinge geschehen sind, die ich nicht so einfach abschütteln kann. Ich habe meine Mutter und mein Zuhause verloren, habe entdeckt, dass ich ein ganz besonderes Talent habe, aus gesundheitlichen Kleinigkeiten riesige Dramen zu machen und mich derartig hineinzusteigern, dass es mir die Lebensfreude zerstört und ich alles nur noch durch einen grauen Schleier der Desillusioniertheit sehe. Shades of Shit.
Zu begreifen, dass ich nicht mehr der gelähmte und bedauernswerte Mensch bin, der ich vor wenigen Jahren noch war, ist viel schwerer, als ich es mir vorgestellt habe. Es kommt mir oft so vor, als würde ich mir das Glück und die Freude der Gesundheit selber nicht gönnen. Früher war ich gesund, habe aber aus meinem Leben nichts gemacht. Ich habe nichts erreicht und bin in jeder Hinsicht gescheitert. Jetzt stehe ich vor völlig neuen Möglichkeiten, überall tun sich Türen auf, aber ich glaube nicht, dass ich all das verdient habe. Trotzdem werde ich nach allem greifen, was ich mit den Kontrakturen in meinen Fingern fassen kann. 
Normalerweise neige ich zu Übertreibungen und mache in meiner Phantasie alles schlimmer, als es wirklich ist, aber dieses Mal ist es genau umgekehrt. Auf der Intensivstation hat mich der Gedanke, ob ich mich jemals wieder würde bewegen können, viele Wochen lang gequält, auf der Neuro sogar vier Monate. Ich habe die Physiotherapeuten immer wieder gefragt, wie lange es noch dauern wird, bis ich wieder gehen kann. Sie konnten mir die Frage nicht beantworten und wollten keine unseriöse Prognose stellen. Dafür, und für noch viel mehr, bin ich ihnen sehr dankbar, aber damals konnte mir alles gar nicht schnell genug gehen.
Jetzt geht mir alles zu schnell. Ich habe schon einmal einen Blogartikel über das Thema Angst vor der Gesundheit geschrieben. Ich war selbst sehr überrascht und entsetzt, diese Angst in mir zu entdecken. Ich habe mehr oder weniger unbewusst den Zustand geduldet, im Rollstuhl zu sitzen und alle möglichen Dinge zu ertragen, die meine Nerven extrem belastet haben. Nerven, die ja eigentlich heilen sollen.
Warum? Warum habe ich nicht vom ersten Tag meines neuen Lebens, von der Intensivstation bis Altenhof, alles getan, um so schnell wie möglich wieder gesund, mobil und aktiv zu werden?
Die Antwort auf diese Frage zu geben ist eigentlich ganz einfach. Sie besteht aus einer weiteren Frage.
Wohin?
Wenn ich wieder gehen kann, wohin gehe ich dann? Ich werde wohl in Altenhof bleiben können, aber ich meine mit dem Wohin gar nicht sosehr das Dach über meinem Kopf, sondern ein Ziel, das ich ansteuern kann. Was mache ich mit meinem wiedergeborenen Leben, und wohin gehe ich auf meinen wiedererwachten Füßen?
Vielleicht ist Ihnen schon aufgefallen, dass ich ganz gerne schreibe. In meinem Kopf befinden sich hunderte von Ideen für Romane, Kurzgeschichten, Novellen, Filmtreatments- und Drehbücher, Sachbücher und Blogposts. Vorsichtshalber habe ich diese Ideen alle notiert und mehrfach in verschiedenen Quellen gesichert. Meine Hände kommen immer mehr in Bewegung, und so kann ich inzwischen auch schon wieder ganz gut per Hand schreiben und zeichnen. Ich dachte schon, meine geliebte Welt aus Notizbüchern, Bleistiften, Skizzenbüchern und Fülldedern hätte ich für immer verloren, aber jetzt kann ich nach und nach in diese Welt zurückkehren.
Alles ganz phantastisch, aber auch da will keine rechte Freude aufkommen. Ich arbeite noch immer daran, meinen Kopf von all den Erlebnissen und Gedanken, Befürchtungen und Abschieden der vergangenen Jahre freizukriegen. Das gelingt mir zwar zunehmend besser, aber das ganz große Ziel, auf das ich zusteuern kann, habe ich noch immer nicht gefunden.
Polaris. Meinen Nordstern.
Der erste Stern des Kleinen Wagens, oder, wie man ihn auch nennt, des Kleinen Bären. Nach einem indianischen Horoskop bin ich das Sternzeichen Braunbär. Nach dem chinesischen ein Hahn und nach dem keltischen Baumhoroskop eine Kiefer. Was das bedeuten soll und ob es überhaupt etwas bedeutet, weiß ich nicht, aber als Jungfrau glaube ich sowieso nicht an sowas.
Ob mein Nordstern ein Buch sein wird oder ein Film, ein Gemälde, ein Comic oder von allem etwas und dann noch mehr, weiß ich auch nicht. Auf jeden Fall wird es etwas Kreatives sein, da bin ich mir ganz sicher. Genug Phantasie habe ich ja. Sogar mehr als genug. Besonders meine medizinische Phantasie ist einzigartig.
Immerhin bedeutet die Unsicherheit darüber, was man mit seinem Leben anfangen soll, dass man überhaupt wieder etwas damit anfangen kann. Das ist doch ein enormer Fortschritt, mein lieber GBS-Kollege. Falls Sie einer sind, wenn Sie dies hier lesen. Aber auch, wenn Sie diese Krankheit nicht haben, was ich sehr für Sie hoffe, können Sie vielleicht meine sensationelle Erkenntnis an Menschen weitergeben, die etwas damit anfangen können:
Der Sinn des Lebens ist es, seine Möglichkeiten zu erkennen und zu nutzen. Selbst, wenn man dabei im Dunkeln tappt und die eigenen gelähmten Hände vor den Augen nicht sieht. Letztlich läuft es auf solche Banalitäten hinaus. Denken Sie bitte immer daran, falls Sie auch diese Krankheit haben und vielleicht noch immer total gelähmt sind und nicht mehr an die Möglichkeit eines schönen Lebens glauben. Aber machen Sie sich auch darauf gefasst, ein paar Jahre Geduld haben zu müssen. Aber was sind schon ein paar Jahre Fegefeuer, wenn sich nach dem Brand und den sich verziehenden Rauchschwaden der Blick auf ein neues Leben auf grünen Fluren auftut? Und auf Strände. Und Städte. Das Meer. Menschen, die nicht daran denken, dass jeder Schritt, den sie machen, ihr letzter sein könnte.
Meine Gesprächstherapeutin sagte vor einigen Tagen zu mir, ein Buch über meine Krankheit Guillain-Barré-Syndrom könnte vielen Menschen Hoffnung geben, auch, wenn sie diese Krankheit nicht haben. Der Gedanke gefällt mir. Daumen! Vielleicht gelingt mir das ja schon mit meinem Blog. Falls ja, schreiben Sie mir doch bitte Ihre Meinung oder hinterlassen Sie einen Kommentar.
Früher dachte ich noch, selbst die längste Reise beginnt mit dem ersten Stolperstein. Aber jetzt spüre ich meine ersten Schritte, ohne dabei irgendwo befestigt oder gestützt zu sein. Es hat lange gedauert, um von jenem Linoleumboden in meinem damaligen Zimmer wieder aufzustehen. Aber das Warten hat sich gelohnt. Jetzt muss ich aus meiner neuen Bewegungsfreiheit etwas machen.
Vor Freude tanzen kann ich zwar noch nicht, aber die Musik kann ich schon hören.

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