Samstag, 30. Januar 2016

Aufstand!

Wie macht man einen Aufstand, wenn man sich vor dem Fall fürchtet? Reicht es, die Angst einfach zu ignorieren? Oder schlägt sie dann umso härter zu? Und wie schlägt man zurück? Welche Waffe braucht man? 
Hier sind die Antworten:
Am vergangenen Mittwoch ist es mir endlich gelungen, alleine und aus eigener Kraft aus meinem elektrischen Rollstuhl aufzustehen. Vor mir stand ein Rollator, an dessen Griffe ich meine Hände gelegt hatte. Ich nahm ein bisschen Schwung und stand auf. 
Einfach so.
Seit Anfang Oktober 2015 haben mein Physiotherapeut Wolfgang und ich daran gearbeitet. Er hat mich jede Woche motiviert, während ich jeden Tag weniger daran glaubte, es jemals zu schaffen. Aufstehen konnte ich ja schon davor, aber nur entweder mit fixierten Haltestangen, an denen ich mich eher hochgezogen habe, oder mit Wolfgangs Hilfe, der mir ein bisschen Schwung gab oder mich anschob. Das hat er schließlich nur noch sehr leicht gemacht, aber trotzdem gelang es mir nie, aus dem E-Rolli hochzukommen, ohne seine Unterstützung zu haben.
Warum nicht? Ich hatte ganz einfach Angst hinzufallen. Mit einem Sturz vor dem Bett hat im Juni 2013 alles angefangen. Ich wollte das nicht noch einmal erleben. Das hätte mir wohl den letzten Rest meiner Motivation auch noch genommen und mich wieder um Monate zurückgeworfen.
Zuerst hat es nicht funktioniert, aber dann fragte ich Wolfgang, ob ich die Sitzfläche meines Rollstuhles ein bisschen höher stellen könne. Er hatte nichts dagegen. In der nur geringfügig erhöhten Position fühlte ich mich dem Rollator nicht mehr unterlegen. Also versuchte ich es. Ich ließ mich ein Stück nach vorne gleiten, so als würde ich springen wollen, nahm die Kraft in meinen Armen und Beinen zusammen.
Und stand.
Wolfgang applaudierte, rief "Bravo!" und mir wurde in diesem Moment klar, dass ich jetzt die letzte Fessel meiner Lähmung abgelegt hatte. Langsam setzte ich mich wieder hin. Auch das lobte mein Therapeut. Ich wiederholte das noch ein paarmal und senkte die Sitzfläche dann wieder ab. Kurze Pause.
"Warum geht das auf einmal so leicht?" fragte ich Wolfgang.
"Weil du jetzt weißt, wie es geht", meinte er.
"Aber das weiß ich schon lange." Ich wischte mein Gesicht mit einem hellblauen Handtuch ab.
"Aber du warst unsicher." Wolfgang sah mich an. Heute wieder ohne Kaiser-Franz-Joseph-Bart. Er saß auf einem Holzstuhl neben mir. "Bei dir war das reine Kopfsache."
Ich stimmte ihm zu. Jetzt, wo die Angst weg war, ging alles ganz einfach.
Also startete ich den nächsten Versuch. Aufstehen aus normaler Sitzhöhe. Ich konzentriert mich, stellte mir vor, ich wäre ein Schispringer, ließ mich ein Stück fallen und stand aus dem E-Rolli auf, als hätte ich das schon immer so gemacht. Noch einige Wiederholungen. Problemlos und auch gar nicht einmal so anstrengend.
Seit Beginn unserer Physiotherapie sagt Wolfgang zu mir, wenn ich aufstehen will, muss ich meinen Schwerpunkt über die Unterstützungsfläche bringen. Mit anderen Worten: so weit nach vorne beugen, damit der Arsch in die Höhe kommt. Klingt ganz einfach, oder? Ist es auch. Wenn man sich traut. Vor drei Tagen habe ich mich getraut, habe wieder einmal festgestellt, wie leicht alles doch sein kann und wie schwer ich es mir oft mache. Durch grübeln und zweifeln. Demnächst werden wir mit den ersten Gehübungen am Rollator anfangen.
So rückt die Freiheit immer näher. Sie ist sogar schon zum Greifen nah. Jetzt traue ich mich, danach zu greifen. Das war vor einem Jahr noch anders, sogar vor einem halben, obwohl es mir da schon ziemlich gut ging. Aber inzwischen kann ich fast ganz normal Gegenstände greifen und seit Mittwoch aus dem Rollstuhl aufstehen, ohne dass ein Therapeut an meiner Hose zerren muss, damit ich mich sicherer fühle.
Die innere Einstellung ist von größter Bedeutung. Der Kampfgeist, der Siegeswille. Das klingt zwar etwas kriegerisch, aber schließlich heisse ich Markus. Mein Name bedeutet Sohn des Kriegsgottes Mars. Bisher hatte ich noch nie den Eindruck, dieser Bedeutung gerecht zu werden. Will ich ja auch nicht. Ich bin eher ein friedlicher Zeitgenosse. Aber der Krieg gegen die Krankheit ist lohnenswert.
Und was ist die Waffe? Der Geist!
Die körperliche Kraft ist nur ein Teil des Getriebes, ohne innere Stärke nutzt sie gar nichts. Selbst die stärkste wiederaufgebaute Muskulatur mit all ihren Nerven, Synapsen und Faszien ist machtlos, wenn man einfach sitzen bleibt. Gewusst habe ich das schon lange, nur mit der Umsetzung des Wissens hat es nicht geklappt. Bei meiner Rückkehr in ein gesundes Leben war mir sozusagen mein eigener Kopf im Weg. Der hat Vieles ganz anders gesehen, als es in Wirklichkeit war. Schlimmer, dramatischer, gefährlicher. Unmöglich und unmachbar.
Wenn man denkt, dass das Machbare unmöglich ist, muss man das Unmögliche denken.
Stellen Sie sich vor, Ihr Schicksal und Ihre Krankheit wären gar nicht so schlimm. Angenommen, Sie brauchen - so wie ich - zweieinhalb Jahre, um wieder ein fast normales Leben führen zu können, sowohl körperlich, als auch psychisch. Oder seelisch. Sie wissen ja, dass ich dieses Wort lieber mag. Wie werden Sie dann Ihre momentane Situation einschätzen? Werden dann immer noch die kaputten Nerven, die verhärteten Muskeln und Ihre zitterne Seele im Vordergrund stehen? Wenn Sie vielleicht sogar wieder in der Lage sein werden, im Supermarkt in der Schlange zu stehen und sich darüber zu ärgern? Dann werden Sie sich daran erinnern, dass Sie vor ein paar Jahren nirgendwo stehen konnten. Sogar in einer hochkant gestellten Therapieliege, an der Brust und den Beinen festgeschnallt, war es unerträglich. Und jetzt? Jetzt stehen Sie in einer Schlange, zu der Sie wenige Minuten davor auf eigenen Beinen gegangen sind. Nicht mit dem E-Rolli gefahren. Gegangen. Das ist doch was, oder?
Ich kann das zwar noch nicht, aber es fällt mir nicht mehr schwer, es mir vorzustellen. Zwei Jahre und acht Monate ist es her, dass ein einfaches blödes Jucken an meiner Nase stundenlang ungestört sein dämonisches Werk verrichten konnte, weil ich nicht in der Lage war, mich zu kratzen. Oder auf die Notrufglocke zu drücken.
Können Sie sich mit dem geradezu ketzerischen Gedanken anfreunden, dass Ihr Zustand, vom Kopf bis zu den Füßen gelähmt, mit Infusionsschläuchen und Dauerkatheter in Ihrem Körper, vielleicht in Wirklichkeit gar nicht so schlimm ist? Dass Sie ihn sich einfach selbst schlimmer machen, als er ist, weil Sie alles überdramatisieren und jeder Kleinigkeit gleich eine Bedeutung von biblischem Ausmaß geben?
Bei mir war es so. Ich dachte eine Zeit lang wirklich, das Schicksal hätte sich gegen mich verschworen und wäre hinter mir her wie der Weiße Hai hinter Chief Brody. Aber was noch schlimmer war, ich habe den Respekt vor mir selbst verloren. Die einfachsten Dinge wurden für mich zu einem Stratosphärensprung.
Trotzdem wollte ich nie aufgeben, wie das viele Patienten mit Guillain-Barré-Syndrom tun. Sie fügen sich in ihr Schicksal ein und akzeptieren lieber ein von Hilfe und Pflege abhängiges Leben im Rollstuhl, als daran zu arbeiten, sich selbst zu motivieren, um Hilfe zu bitten und den Krieg gegen dieses Monster GBS weiterzuführen.
Hier in Altenhof habe ich mich zwei Jahre lang immer wieder dem Kampf mit dem Idiotenschlitz gestellt. Vielleicht kennen Sie ja meinen Blogartikel dazu. Es handelt sich dabei um die Öffnung zum Einwerfen von Geldmünzen in einen Kaffeeautomaten. Ich war letztes Jahr im Sommer das vorerst letzte Mal dort. Es ist mir selbst nach langen und mühsamen Versuchen nicht gelungen, eine 2-Euro-Münze einzuwerfen. Also habe ich nach etwa fünfzehn Minuten aufgegeben und mir vorgenommen, stattdessen meine Finger effektiver zu trainieren.
Vorgestern war ich wieder bei dem Kaffeeautomaten, und das Einwerfen der Münze funktionierte problemlos. Im E-Rolli sitzend, leicht nach vorne gebeugt, Geldstück zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand. Die Ergotherapeuten nennen das den Pinzettengriff. Es ging! Die Münze landete im Schacht und der Kaffee im Becher.
Ich erzähle Ihnen das nicht, weil in dem Automaten ein begnadeter Barista sitzt und den köstlichsten Kaffee der Welt zaubert, sondern weil ich vor zwei Jahren und acht Monaten noch auf der Intensivstation lag, meinen Kopf ein bisschen hin- und herdrehen konnte und dachte, das würde den Rest meines Lebens so bleiben.
Und jetzt? Was ist aus meiner Zukunftsprognose geworden? Nun, Nostramarkus hat sich geirrt. Wie hätte ich auch richtig liegen können, wo ich doch noch nie in meinem Leben etwas von dieser Krankheit gehört hatte und die Ärzte mir auch keine klaren Prognosen stellen konnten? Hätte ich damals über das Guillain-Barré-Syndrom gewusst, was ich heute weiß, wäre mir viel von dem Schrecken dieser Krankheit erspart geblieben. Mit Eifer hab’ ich mich der Studien beflissen, zwar weiß ich viel, doch möcht’ ich alles wissen, wie der gute Doktor Faust sagte. 
Darum mein Aufruf an Sie, lieber GBS-Kollege: Informieren Sie sich! Finden Sie so schnell wie möglich soviel wie möglich über das Guillain-Barré-Syndrom heraus! Es wird wesentlich dazu beitragen, Ihre Verzagtheit in Tatendrang zu verwandeln.
Das ist einer der Gründe, warum ich diesen Blog betreibe. Nicht, um medizinische Aufklärung zu bieten, sondern um den Verlauf dieser Krankheit am Beispiel meines eigenen Körpers und Geistes zu schildern. Hier bekommen Sie - fast live on the air - einen Einblick in das Leben eines Menschen mit dem Guillain-Barré-Syndrom. Vom ersten Sturz vor dem Bett, über die totale Lähmung, bis hin zum selbstständigen Aufstehen aus dem Rollstuhl. Nach zwei Jahren und acht Monaten. Fortsetzung folgt.
Trotzdem, bei jedem weiteren Fortschritt habe ich den Eindruck, dass ich noch ganz am Anfang stehe. So versuche ich, jeden Tag zu leben, als wäre er mein erster. Nicht mein letzter. Den hätte ich schon ein paarmal fast erlebt. Von den letzten Tagen habe ich die Nase wirklich voll.
Ich stehe vielleicht immer noch am Anfang. 
Aber ich stehe.




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