Samstag, 27. Februar 2016

Mein Heilungsweg, Teil 2 (von 5)

Es war Anfang Dezember 2013. Der Ausblick vom Aufenthaltsraum des Neurologischen Therapiezentrums Gmundnerberg auf den Traunsee und den Traunstein war zwar schön, aber irgendwie auch bedrückend. Dazu kam noch, dass mindestens einmal pro Woche beim Mittagessen darüber geredet wurde, dass "wieder einer abgestürzt" sei. Trotzdem herrschte im Aufenthaltsraum nie eine gedrückte Stimmung. Nicht einmal, als die alte Frau mit dem rosa Schlafanzug in den Tod gesprungen ist. Ich habe es gesehen, und ich bewunderte die Krankenschwestern und die Krankenpfleger dafür, wie ruhig und professionell sie mit diesem Horror umgegangen sind.
Ich kam zur Reha auf den Gmundnerberg am Traunsee in Oberösterreich. Warum der Gmundnerberg Gmundnerberg heisst, weiß ich nicht, er steht nämlich auf dem Ortsgebiet von Altmünster. Es ist eine schöne Gegend dort, wenn man die Berge liebt. Auf mich wirken sie deprimierend. Sie scheinen uns Menschen sagen zu wollen, was für kleine bedeutungslose Wesen wir doch sind. Berge vermitteln mir nicht das Gefühl von Freiheit. Das kann nur das Meer.
Aber ich war ja auch nicht auf Badeurlaub, sondern auf Reha. Dort ging es dann richtig zur Sache, was meinen Therapieplan betraf. Ich hatte jeden Tag zwei oder drei Therapieeinheiten, am Samstag zumindest eine. Schon im Krankenhaus Vöcklabruck hatten mich die Krankenschwestern augenzwinkernd gewarnt, dass es dort ein ganz anderes Leben sei als auf der Neuro. Dort würde ich ordentlich ins Schwitzen kommen. Dort sei Leistung gefragt. Ich fragte mich, wie ich Leistung erbringen soll, wenn ich nur die Arme anheben und notdürftig greifen kann. 
Teil des Angebots waren eine Elektrotherapie, um die Nerven und Muskeln meiner Unterarme und Oberschenkel zu aktivieren, eine Form der Physiotherapie mit langen roten Seilschlingen, genannt Redcord, in die ich meine Arme und Beine steckte, um in einer Art simulierten Schwerelosigkeit trainieren zu können, Ergotherapie in Form von ADL, was Aufgaben des Lebens bedeutet. Dazu gehörte Zähne putzen und Frühstücken. In dieser Reihenfolge. Ich habe zwar nie den Sinn verstanden, warum man sich die Zähne vor dem Essen putzen soll, aber so war es eben.
Die übliche Form der Ergotherapie war am Gmundnerberg auch dabei, also Beine durchbewegen, querbettsitzen und mich nach vor, zurück und zu den Seiten beugen. In der Physiotherapie habe ich das auch gemacht. Das Aufeinanderstapeln von Kegeln und Bechern, Aufstehübungen am Stehtisch und später mit einem Holzstuhl, an dem ich mich abstützte, während die Liege unter mir per Motor immer wieder ein Stück höher gestellt wurde. Ich saß auf einer riesigen blauen Schaumstoffrolle und neigte mich hin- und her, während meine Therapeutin Christina meine drohenden Stürze mit ein paar eleganten Gegenbewegungen ihres schlanken Körpers verhinderte. Ich habe keine Ahnung, wie sie das gemacht hat. Ich wiege mindests dreimal soviel wie sie, aber sie hatte über mich die volle Kontrolle.
Als ich zum Gmundnerberg kam, hatte ich noch nicht einmal die Kraft, meine Zahnpastatube aufzuschrauben. Meine Therapeutin Johanna hat den Verschluss gelockert, und ich machte dann den Rest. Dafür, inklusive Zähneputzen, brauchte ich etwa fünfzehn Minuten. Das Wasser spuckte ich aus der Sitzposition im Rollstuhl aus und versuchte dabei, ins Waschbecken zu treffen und nicht den Spiegel. Ich konnte mich ja nicht nach vorne beugen, weil ich weder die Kraft, noch die Rumpfstabilität dazu hatte. Einmal ist es mir sogar gelungen, den Spiegel nicht zu treffen. In vier Monaten Reha! Stellen Sie sich das einmal vor!
Vielleicht hat mir ja mein Unterbewusstsein einen Streich gespielt und mich dazu gebracht, dem Arsch, der mir aus dem Spiegel entgegensah ins Gesicht zu spucken. Dafür, dass er solch eine verweichlichte Memme war, vor lächerlichen Kleinigkeiten Angst hatte und seine Einschränkungen deutlicher zur Kenntnis nahm, als seine Fortschritte. Der in der Früh aufwachte und sich dachte, jetzt geht das alles wieder von vorne los. Gewaschen werden, Beine verbiegen, kleine Brotstückchen essen, die Kaffeetasse selber halten und daraus trinken. Das gelang mir nur mit Hilfe der Therapeutin. Mit dem Hebelifter aus dem Bett in den Rollstuhl gesetzt zu werden. Wieder Beine verbiegen. Zurechtgerückt werden. Zwischen die Knie und die Fußstützen des Rollstuhls wurden mir Waschlappen gelegt, damit sich die Haut nicht aufreibt.
Ich will jetzt aber nicht zu sehr in die therapeutischen Details gehen, sondern meine Fortschritte schildern. Einige Tage nach meiner Ankunft konnte ich zumindest schon einen Löffel halten und notdürftig Spinat und Stampfkartoffeln essen. Am Teller war ein Plastikrand befestigt, damit nichts danebengehen konnte. Es ging daneben. Spinat ist für jemanden, der seine Hände nicht kontrollieren kann, eindeutig nicht zu empfehlen. Eine Pizza Tetra Parese wäre mir lieber gewesen. So, da war er wieder, der alte Pizzawitz. Erinnern Sie sich noch?
Im Laufe der Wochen ging es mit dem Essen immer besser. Ich nahm meine Mahlzeiten dann nicht mehr in meinem Zimmer zu mir, sondern im Aufenthaltsraum. Fisch konnte ich alleine nicht essen, wegen der Gräten. Dabei hat mich eine Krankenschwester unterstützt. Die hatte dann die undankbare Aufgabe, alle Gräten einzeln aus der Forelle zu entfernen. Die Schwestern haben das mit unendlicher Geduld gemacht. Ich musste dabei immer an den Sketch von Didi Hallervorden denken, wo er ins Kaffeehaus geht und dort einen Apfelkuchen bestellt, aber ohne Gräten. Der Ober serviert ihm den Kuchen, und Didi findet darin eine Maus. Na ja, sagt der Kellner, Gräten wollten Sie ja nicht.
Meine Finger waren noch immer fast vollständig verkrümmt. Ich konnte sie nicht strecken und auch nichts festhalten. Getrunken habe ich nur mit Strohhalmen. Aber ich merkte, dass ich schnell Spaß dabei hatte, mir irgendwelche Behelfsmittel auszudenken und zu basteln. Immer wieder habe ich versucht, mit einem Messer einen Strohhalm einzuschneiden und mit einem anderen Strohhalm zusammenzustecken, damit ich besser trinken konnte. Einmal war ich fast zwei Stunden nonstop damit beschäftigt. Gelungen ist mir das erst vier Monate später in Altenhof. Aber aufgegeben habe ich nicht. Cool, was?
Eines Morgens schaffte ich es, im Bett mein linkes Bein ausgestreckt ein paar Zentimeter über die Matratze anzuheben. In diesem Augenblick hatte ich einen der größten Glücksmomente meiner gesamten Krankenzeit. Ich hatte zum ersten Mal das Gefühl, dass ich wirklich wieder gesund werden konnte. Es war auch deshalb besonders schön, weil mir das in der Früh, gleich nach dem Aufwachen gelungen ist. Und weil ich es ganz alleine geschafft hatte, ohne Hilfe eines Therapeuten. Niemand musste mich anfeuern oder mir gut zureden. Ich schaffte es nur durch meinen Willen. Ich wollte es einfach, und ich schaffte es. Obwohl es am Abend davor noch nicht möglich war.
Schon nach wenigen Wochen war meine Rumpfstabilität so gut, dass ich ohne Hilfe querbettsitzen konnte. Ich konnte mich zwar nicht alleine aufsetzen, aber wenn meine Beine einmal über den Bettrand hingen, konnte ich frei sitzen und verschiedene Übungen durchführen. Nach Kegeln und Bechern greifen, die meine Therapeutin hoch und weit von mir weg hielt, damit ich mich strecken musste und andere Klassiker der Physiotherapie.
Ärzte und Krankenschwesten sagten mir, dass ich im Rollstuhl schon einen viel besseren Eindruck mache und eine gute Haltung hätte. Ich sei nicht mehr so eingesunken und würde auch nicht mehr so schief sitzen. Das schiefe, nach rechts geneigte Sitzen hatte ich von der Schwäche meiner rechten Körperhälfte, die stärker von den Lähmungen betroffen war als die linke.
Vier Monate verbrachte ich also auf Reha am Gmundnerberg. Körperlich ging es mir immer besser und besser, wobei das den Ärzten und Pflegekräften schneller auffiel, als mir selbst. Nach zwei Monaten konnte ich die rechte Hand schon ein paar Millimeter anheben. Es funktionierte aber nicht immer und war abhängig von meiner Sitzposition im Rollstuhl. Trotzdem bereitete es mir große Freude, die rechte Hand am senkrecht aufgestellten Unterarm schlaff hängen zu lassen, mich dann zu konzentrieren und zu sehen, wie sich mein Handgelenk einige Millimeter hob.
Ich fühlte mich wie Luke Skywalker, der einen X-Wing-Raumgleiter mit Hilfe seiner Gedanken und der Macht aus einem Sumpf aufsteigen lässt. 
Während der Reha am Gmundnerberg wurde meine Rumpfstabilität besser, ich konnte wieder stehen, allerdinhgs nur angegurtet, konnte einfache Übungen durchführen, wie mit einem Tuch über eine schräge Tischplatte nach oben zu wischen. Ich konnte problemlos mit dem Rollstuhl fahren. Meine Finger wurden zumindest ein bisschen lockerer, wenngleich auch noch nicht beweglich. Aber meinen linken Zeigefinger konnte ich sehr gut zum Tippen auf dem iPad benutzen. Das war zehn Monate nach dem Ausbruch meiner Krankheit.
Kaum hatte ich genug Kraft und Energie, fing ich wieder an zu schreiben. Lange Zeit hatte ich befürchtet, es nie wieder zu können. Aber jetzt konnte ich meine Gedanken und Erlebnisse wieder notieren. Seit dem 27. Januar 2014 habe ich jeden Tag meines Lebens dokumentiert. Die PDF-Version meines Tagebuchs umfasst mittlerweile satte 3000 Seiten.
Also glauben Sie ja nicht, dass ich aufhöre zu bloggen!
Nächste Woche erzähle ich Ihnen von der seelischen Seite der Reha. Dieser Teil von mir heilte nicht so schnell und problemfrei wie mein Körper. Fast würde ich mein Seelenleben als die eigentliche Krankheit bezeichnen. Fachleute und Patienten bestätigen dies. Das Guillain-Barré-Syndrom ist nach dem Anfangsstadium körperlich nicht mehr gefährlich, aber das Innenleben des betroffenen Menschen leidet dafür umso mehr.
Das Guillain-Barré-Syndrom ist ein Spiegel. Es zwingt einen zur Selbstbetrachtung. Die Erleuchtung der inneren Dunkelheit ist die Voraussetzung dafür, über den eigenen Schatten springen zu können. Die Dunkelheit existiert zwar nicht, und der Schatten ist nur dort, wo kein Licht ist, aber manchmal scheint sie unbewältigbar zu sein.
Wer ein halbes Jahr gelähmt im Bett liegt, fängt an nachzudenken. Tiefer und intensiver als zuvor. Er beschreitet den inneren Pfad, folgt dem Labyrinth bis zum Zentrum. Zwar stehen Fackeln am Wegesrand, aber manchmal ist es besser, in der Dunkelheit umherzuirren, als den Blick bei voller Beleuchtung auf das zu werfen, was man am meisten fürchtet.
Etwas, das man sosehr fürchtet, dass man keinen Schritt mehr tun will. Etwas, vor dem man seine Augen lieber verschließt. Etwas, das einem die Kehle zuschnürt bevor man schreien kann.
Was das ist?
Das steht nächste Woche in meinem Blog.



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