Samstag, 5. März 2016

Mein Heilungsweg, Teil 3 (von 5)

Manchmal ist es besser, in der Dunkelheit umherzuirren, als den Blick bei voller Beleuchtung auf das zu werfen, was man am meisten fürchtet.
Etwas, das dich so sehr erschaudern lässt, dass du keinen Schritt mehr tun willst. Etwas, vor dem du deine Augen lieber verschließt, als es auch nur eine Sekunde lang sehen zu müssen. Etwas, das dir die Kehle zuschnürt, lange bevor du schreien kannst.
Dieses Ding aus einer anderen Welt hat einen Namen.
Sie kennen diesen Namen.
Sehen Sie mal in Ihrem Reisepass nach, da steht er drin. Oder in Ihrem Führerschein. Fotos von diesem Wesen sind auch dabei.
"Gnothi seauton", sagten die altgriechischen Philosophen. Erkenne dich selbst. Ich dachte immer, ich wüsste, wer ich bin. Als Kind, als Jugendlicher, als Erwachsener. Ich dachte immer, ich hätte durch Selbstreflexion, künstlerische Arbeit und kreatives Schreiben alle meine Geheimnisse und Schattenseiten durchleuchtet. Als ich dann das Guillain-Barré-Syndrom bekam, wusste ich auf einmal, dass ich nichts weiß. Ich dachte auch, dass ich all die üblichen Phobien habe, die man als normaler Mensch eben so hat. Zahnarzt, Feuer, Kampfhunde. Aber ich hatte auch immer Angst davor, eines Tages am ganzen Körper gelähmt zu sein. Warum mich ausgerechnet dieses Schicksal dann getroffen hat, weiß ich nicht. Ich glaube aber nicht, dass da ein Zusammenhang besteht.
Jedenfalls passierte es, und ich stellte fest, dass ich nicht annähernd über soviel Selbsterkenntnis verfügte, wie ich immer geglaubt hatte. Ich lag in einem riesigen Krankenbett auf der Intensivstation und lernte dort einen Menschen kennen, der mich sehr verwirrte und mir Angst machte, wie ich sie noch nie davor in meinem Leben gehabt hatte. Sie können sich wahrscheinlich schon denken, wen ich meine. 
Mich selbst.
Im Laufe der vergangenen zwei Jahre und acht Monate habe ich mich so kennengelernt, wie ich wirklich bin. Nicht so, wie ich dachte zu sein. Ich bin einem Menschen begegnet, der feige, ängstlich, verzweifelt und hoffnungslos ist. Aber auch einem, der mehr überleben und ertragen kann, als er je für möglich gehalten hätte. Von beiden Seiten meiner selbst war ich überrascht, und beide Seiten haben mir letztlich nur Positives gebracht. Früher habe ich immer gesagt, ich wüsste nicht, wie ich mich in Extremsituationen verhalten würde oder wenn ich den Tod unmittelbar vor Augen hätte.
Heute weiß ich es. Und ich bin froh darüber. Ich will nicht so weit gehen zu sagen, dass mich nichts mehr erschüttern kann, aber ich habe gelernt, die mich betreffenden Ereignisse nicht allzu ernst zu nehmen. Letztlich geschehen die Dinge nie exakt so, wie man sie erwartet. Perfektionisten haben es da besonders schwer. Die Kontrolle über die Dinge zu verlieren oder zu erkennen, dass man sie überhaupt nie hatte, ist eine besonders harte Belastungsprobe für...
...Ja, für wen eigentlich?
Durch all die Erlebnisse meiner Krankheitszeit habe ich mehr und mehr den Kontakt zu mir selbst verloren. Ich habe festgestellt, dass ich offenbar nicht der Mensch war, der ich immer gedacht hatte zu sein. Aber wer war ich dann? Dieses Gefühl des Identitätsverlusts war mir nicht nur unbekannt, sondern auch so unheimlich wie das Gesicht eines Clowns im Mondschein.
Wenn Sie noch nie das Gesicht eines Menschen gesehen haben, der entschlossen ist, sein Leben in wenigen Augenblicken zu beenden, wünsche ich Ihnen, dass es dabei bleibt. Nicht, weil der Anblick so schrecklich ist, sondern weil die Erinnerung an die verzweifelte letzte Tat der alten Frau für immer in meinem Gedächtnis eingebrannt bleiben wird. Das Gesicht dieser Dame sah genauso aus wie die Gesichter der anderen Menschen in diesem Reha-Zentrum und genauso, wie alle Gesichter an jedem beliebigen Ort.
Das wahre Grauen liegt nicht in einem entsetzten Gesicht, sondern in der banalen Unausweichlichkeit des menschlichen Endes. Kein flammender Sonnenuntergang, keine dramatische Musik, nur die Stimme eines Mannes, der am offenen Fenster steht und der Frau zuruft, sie solle es nicht tun.
Und zehn Meter Distanz vom Leben bis zum Asphalt.
Ich will Ihnen ja nicht die Hoffnung auf ein gesundes und glückliches Leben zerstören, aber irgendwann landen wir alle auf dem Asphalt. Egal ob wir springen oder vom Schicksal gestoßen werden. Wir schweben nicht durch einen Tunnel ins Licht, sondern knallen einfach auf den harten Beton. Auch, wenn es unglaublich klingt, aber diese Tatsache ist ein starker Antrieb für mich. In den Momenten meiner Krankheit, als ich zwischen Hoffnungslosigkeit, Selbsthass, Trauer und Angst umhertaumelte wie ein besoffener Clown in einer öligen Manege, war es immer der Gedanke an den großen Lebensfeind am Ende der Zeit, der alle anderen Feinde zu Zwergen schrumpfen ließ.
Der Blick in das Gesicht eines sterbenden Menschen ist der Blick in die eigene Zukunft.
Irgendwo in meinem Hinterkopf saß Jiminy Grille, die mich in Augenblicken der Verzweiflung stets daran erinnerte, dass selbst die tiefsten Messerstiche nichts sind im Vergleich zum letzten Axtschwung des großen Lebensfeindes am Ende unserer Zeit.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt, und der uns hilft zu leben. So sagte es Hermann Hesse. Und die Band Blue Oyster Cult sang: "Don' t Fear the Reaper".
Es waren oft bedeutungslose Kleinigkeiten, wie mein Dauerkatheter, die mich daran hinderten, alles zu tun, um so schnell wie möglich wieder beweglich und gesund zu werden. Oft denke ich mir, was ich da schreibe, muss einem gesunden Menschen doch wie der blanke Wahnsinn erscheinen. Es wäre doch die natürliche Reaktion eines jeden Menschen mit einer solchen Krankheit, so schnell wie möglich aus diesem Zustand herauszufinden und wieder ein normales Leben zu führen.
Das war auch meine Meinung und letztlich der Grund, warum ich immer mehr den Respekt vor mir selbst verlor. Anstatt wie ein Löwe gegen die Lähmung anzukämpfen, hoffte ich insgeheim jeden Tag, dass die Therapiestunden ausfallen würden. All das, weil ich Bewegung, Training und Therapie mit Schmerzen in Verbindung brachte. Solch ein Denkmuster prägt sich ein, und die Neuroplastizität unseres Gehirns sorgt dafür, dass solche Assoziationen für uns so real sind wie die Wirklichkeit.
Leider spielt unser Hirn uns da einen Streich. Es will nicht, dass wir aus dem Rollstuhl wieder rauskommen. Es will auch nicht, dass die Lähmung wieder abheilt. Es will nicht trainieren, noch will es sich therapieren lassen. Die Hauptaufgabe, die allerhöchste Priorität des menschlichen Gehirns ist das Überleben. Wenn das Training mit Schmerzen, körperlichen Verletzungen und Angst in Verbindung gebracht wird, tut es alles, was in seiner Macht steht, um uns an der aktiven Selbstheilung zu hindern.
Obwohl der vernünftige Teil unseres Hirns uns sagt, dass das Training uns dem freien Gehen und dem freien Leben jeden Tag einen Schritt näher bringt, ist es oft machtlos gegen das unterbewusste Reptilienhirn in unseren Köpfen, das nicht von der Genesung, der Freiheit und der Lebensfreude spricht, sondern uns nur einen einzigen Befehl gibt: Überlebe!
Ich bin froh, dass all das durch Psychologie und Hirnforschung entdeckt und bewiesen wurde, sonst würde es nach der Ausrede eines unglaublich faulen Sacks klingen. Zugegeben, manchmal bin ich das wirklich, aber die Haupttriebfeder meiner Selbstsabotage war nicht Faulheit, sondern Angst. 
Ich befand mich zwei Jahre lang in einem Zustand ständiger Angst, die manchmal größer und manchmal kleiner wurde. Völlig sorgen- und angstfrei war ich aber nie. Selbst heute, im März 2016, bin ich es noch nicht. Allerdings kann ich heute dieses Ungeheuer klein halten. Ich habe die Angst zwar noch nicht gezähmt, aber es ist mir zumindest gelungen, ihr das Zaumzeug anzulegen und es zu satteln. Geholfen haben mir dabei unzählige wunderbare Menschen, mein Verstand, die Fortschritte, eine wöchentliche Gesprächstherapie und natürlich die Zeit.
Was den Selbstrespekt betrifft, die Achtung vor mir selbst schrumpfte immer weiter. Einerseits wollte ich keine Schmerzen und keine Angst, aber andererseits wollte ich so schnell wie möglich wieder zurück in ein Leben auf eigenen Beinen und Füßen. Meine Verachtung für das weinerliche Weichei, das mir aus dem Spiegel entgegensah, wurde immer größer. Am liebsten hätte ich diesem Angsthasen ins Gesicht geschlagen. Gut, dass ich kein Religionsgründer bin, sonst wäre ich aus meiner eigenen Kirche ausgetreten. Ich war die längste Zeit meiner Krankheit kein Fan von mir.
So ganz ist die Selbstachtung auch heute, zwei Jahre und acht Monate nach dem Ausbruch meiner Krankheit, noch nicht da, aber ich bespucke den Typen im Spiegel nicht mehr. Gelegentlich grüße ich ihn sogar.
Eine Erkenntnis, die ich aus meiner Krankheit gewonnen habe, ist die Tatsache, dass ein Mensch neben dem Vertrauen in den eigenen Körper auch das Vertrauen in die eigene Persönlichkeit verlieren kann. Sich eines Tages darüber klar zu werden, dass man nicht mehr weiß, wer man eigentlich ist, kann einen ganz schön aus der Bahn werfen. Meinen Namen, meine Lebensgeschichte und alles was ich gelernt und geliebt hatte, wusste ich zwar noch, auch das Gesicht im Spiegel habe ich wiedererkannt. Aber ich wusste nicht mehr, ob derjenige, der durch diese Augen in die Welt blickt, ein lebender Mensch war, oder ein Toter mit aktivem Verdauungssystem.
Shakespeare sagte, dass uns die Schwäche unseres Denkens die schweren Lasten des Lebens lieber tragen lässt, als die eigenen Grenzen hinter uns zu lassen und in eine unbekannte Zukunft aufzubrechen. So macht unser Bewusstsein Feiglinge aus uns. Von Natur aus sind wir wagemutig und fähig unsere eigenen Entscheidungen zu treffen. Es ist das viele Grübeln, das Zerdenken, das unsere Entscheidungen schwächt. Unser idealistischer Antrieb gerät durch das besorgte Zögern ins Schlingern. So ungefähr kann man es im berühmten Hamletmonolog nachlesen. 
Ein Mensch kann schon lange vor seinem Tod sterben. Glauben Sie mir. Ich war in diesem unentdeckten Land, aus des’ Bezirk kein Wand’ rer wiederkehrt. Es ist kein schöner Ort, obwohl die steinigen Straßen von Engeln gesäumt sind. Zurückgekommen bin ich, und ich habe meine Identität, meine Persönlichkeit und zumindest einen Flügelschlag meiner Unbeschwertheit wiedergefunden.




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