Samstag, 12. März 2016

Mein Heilungsweg, Teil 4 (von 5)

Mit dem Rollstuhl kam die Freiheit. Ich war zwar unsicher und fuhr nur dann im Gebäude des Reha-Zentrums umher, wenn ich zu einer Therapie musste, aber ich konnte das selbstständig machen. Das war für mich die Hauptsache. Ich nicht mehr von meiner Krankheit ans Bett gefesselt. Ich konnte mir kleine Colaflaschen aus dem Automaten holen und in der Caféteria Schokolade kaufen.
Das Fahren mit dem Rollstuhl fiel mir von Anfang an leicht. Ich war zwar nicht schnell, hatte aber keine Probleme, die Räder in Bewegung zu bringen. Von aufgeschürften Handflächen abgesehen. Die verheilten aber schnell, und bald wurde ich weniger empfindlich.
Aber die seelischen Qualen waren immer noch da. Manchmal mehr, manchmal weniger. Ausgelöst wurden sie hauptsächlich von meinem Dauerkatheter und die ständigen Gedanken an meine Situation und wie es nur soweit hatte kommen können. Ich konnte mich einfach nie damit abfinden, dass ein Schlauch im Inneren meines Körpers war. Ich konnte ihn nicht sehen, spürte ihn aber.
Wenn ich heute an die Zeit am Gmundnerberg zurückdenke, ärgere ich mich über mich selbst. Dass ich mich so sehr von dem Schlauch in meinem Körper habe beherrschen lassen. Jede Bewegung, die ich machte, war immer mit der Frage verbunden, ob sie irgendetwas in der Blase auslösen könnte. Schmerzen, ein Ziehen, ein Stechen oder ein Brennen. Würde zuviel Training am Seilzug mit den Gewichten vielleicht dazu führen, dass Sediment den Katheter verstopfen und ich wieder stundenlang Krämpfe haben würde?
Diese Fragen nagten den ganzen Tag an mir. Ich teilte die Tage nur noch in gute Kathetertage und schlechte Kathetertage ein. Das Verheerende dabei war, dass ich eine Scheu davor entwickelte, mich zu bewegen. Gerade beim Guillain-Barré-Syndrom ist das eine fatale Einstellung, schließlich soll sich der Patient so viel wie möglich bewegen. Darum fährt er ja auf Reha.
Ich hätte gerne mehr Freude an der Bewegung gehabt und einen starken Drang zum Trainieren entwickelt, aber letztlich siegte meistens die Feigheit. Und mein Selbstrespekt sank in ungeahnte Tiefen. Einerseits wollte ich gesund werden, und andererseits trainierte ich nur, wenn ich musste. So wurde ich immer weinerlicher und verweichlichter. Irgendwie war das bei Rocky alles ganz anders.
Von allen Begleiterscheinungen meiner Krankheit, war für mich der Katheter die allerschlimmste. Ich hatte auch immer, schon auf der Intensivstation, den Eindruck, dass niemand meine seelischen Nöte so richtig verstand. Man nahm mich zwar ernst und half mir, so gut es eben möglich war, aber ich glaube, richtig nachvollziehen konnte meine Katheterneurose niemand. Das war jetzt eine Selbstdiagnose. Ich habe Stunden damit verbracht, im Internet nach Blogs, Diskussionsforen und so weiter zu suchen, immer in der Hoffnung, dass es irgendwo auf der Welt einen Leidensgenossen gibt, der auch solche Probleme hat wie ich. Ich habe nichts gefunden. Niemanden. Zwar gibt es genügende Menschen, die ihre Probleme mit den verschiedenen Katheterarten schildern, aber einen, der sich so sehr darauf spezialisiert hat wie ich, fand ich nirgendwo.
Und so geschah etwas, das meinen Genesungsprozess um Monate verzögerte, ich glaube, ich kann sogar sagen, Jahre. Ich entwickelte eine übervorsichtige Scheu vor jeder Bewegung. Der Gedanke, dass dadurch der Silikonschlauch an der Blaseninnenwand anstoßen könnte, verhinderte, dass ich mich voll auf die Therapie und das Training konzentrieren konnte. Jede Therapiestunde war mir zu lang. Ich hoffte immer, dass sie schnell vorbeigehen würde. Ich glaube, in der ganzen Zeit meiner Krankheit habe ich mich nie auf eine Therapiestunde gefreut. Heute schäme ich mich dafür. Schließlich trugen sie dazu bei, dass ich wieder gesund werden konnte.
Aber ich war mit meinem ganzen Denken so sehr auf den Katheter fixiert, dass ich mich nicht einmal über meine Erfolge freuen konnte. Ich nahm meine Fortschritte zwar wahr, aber die aufkeimende Freude darüber, dass ich am Stehtisch nach Plastikkegeln greifen oder mich auf der Therapieliege zur Seite und wieder zurück neigen konnte, wurde immer wieder von der Erwartung auf einen Tag und eine Nacht voller Harndrang im Keim erstickt. Warum ich davor solche Angst hatte, wird mir wohl immer ein Rätsel bleiben.
Es passierte zwar nie etwas, es ging kaum jemals etwas daneben, aber jedesmal, wenn der Katheter ein bisschen verbogen oder abgeknickt war, spürte ich sofort, wie die Panik in mir aufstieg. Sie kennen sicher das Gefühl, wenn Sie in einem Lokal sitzen, in einem Kino oder bei einem Konzert sind, und plötzlich geht hinter Ihnen jemand vorbei, den Sie nicht gehört haben. Vielleicht streift er sogar versehentlich Ihre Schulter oder Ihren Kopf.
Erschaudern Sie?
Dieser Fremde will Ihnen nichts antun, aber Ihnen stellen sich die Nackenhaare auf, Sie bekommen Gänsehaut, Ihr Herz setzt einen Schlag aus und beginnt dann zu rasen. Sie erschrecken, und obwohl Sie erkennen, dass keine Gefahr droht, setzt bei Ihnen sofort der Fluchtreflex ein. Sie wollen aufspringen, wegrennen, sich so schnell wie möglich in Sicherheit begeben, während sich Ihre Muskeln anspannen, der Magen zusammenkrampft und ein eisfkalter Hauch über Ihre Kopfhaut zieht.
So fühlte ich mich mehr als zwei Jahre lang jeden Tag und jede Stunde. Kaum spürte ich die kleinste Empfindung im Becken, dachte ich, jetzt geht es wieder los. Vielleicht muss ich ins Krankenhaus, und der Katheter muss gewechselt werden. Das wird mir nicht weh tun, aber für mich schlimmer sein als Schmerzen. Möglicherweise werde ich dabei verletzt und sterbe. Ich übertreibe nicht. Meine Empfindungen waren wirklich genauso, wie ich sie hier schildere. Ich wurde zwar gleichzeitig jede Woche etwas zuversichtlicher, weil nicht einmal ich meine Fortschritte übersehen konnte, aber trotzdem war jeder Tag vom Juni 2013 bis zum Oktober 2015 von diesem ziehenden und drängenden Gefühl der Katheterangst getränkt.
Falls Sie gerade den Kopf schütteln, habe ich Verständnis dafür. Ich verstehe mich ja selber nicht. Warum ausgerechnet etwas so gleichermaßen Wichtiges wie Bedeutungsloses wie ein Katheter mein Leben derart bestimmen und meine Heilung überschatten konnte, werde ich wohl nie erfahren. Um ehrlich zu sein, will ich das auch gar nicht.
Jedenfalls gab ich mir viele Monate lang viel zu wenig Mühe mit dem Training. Ich hätte den ganzen Tag mit meinem Rollstuhl auf der Etage des Therapiezentrums herumfahren können, die Gänge waren für ein gutes Training lang genug. Im Erdgeschoß bei den Therapieräumen war auch genug Platz. Auch dort hätte ich meine Arme mit dem Rollstuhl trainieren können. Aber die Angst vor dem Katheter und seinen Sticheleien hielt mich davon ab.
Heute könnte ich mich dafür ohrfeigen. Um wie viel schneller wäre ich wieder auf die Beine gekommen, wenn ich nicht diese blödsinnige Angst vor dem Katheter entwickelt hätte. Aber ich kann das nicht rückgängig machen. Der Katheter ist schon seit fünf Monaten Geschichte, aber die Hemmung, mich frei und schnell zu bewegen, habe ich immer noch.
Zwar bin ich inzwischen nicht mehr so sehr auf dieses Thema fixiert, und die furchtbaren Angstanfälle von früher habe ich auch schon lange nicht mehr, aber der Gedanke, öfter als alle zwei Stunden Harndrang zu bekommen und zur Flasche zu müssen, beunruhigt mich noch immer weit mehr, als es normal wäre.
Ich erzähle Ihnen dies übrigens alles, weil es Ihnen vielleicht ähnlich ergehen könnte, egal ob mit oder ohne Guillain-Barré-Syndrom. Das Thema ist unangenehm und nicht gerade appetitlich, ich weiß, aber ich habe mir vorgenommen, in meinem Blog alles zu erzählen, was es zu erzählen gibt und was für mich von Bedeutung war oder noch immer ist. Sicher werde ich auf dieses Thema auch in der Zukunft wieder eingehen, aber mittlerweile befinde ich mich in einem Stadium meiner Genesung, in dem es viel mehr Positives als Negatives zu berichten gibt.
Als ich auf der Intensivstation aufwachte und der erste Tag meines neuen Lebens begann, hätte ich es nicht für möglich gehalten, dass ich jemals einen Satz wie den vorherigen schreiben würde. Dass es mehr Positives als Negatives gibt war auch vor meiner Erkrankung nicht gerade meine Lebensphilosophie. Der Unterschied zwischen der negativen Weltsicht meines früheren Lebens und meinem jetzigen Zustand war, dass der Pessimismus mich früher beschützt hat.
Ich war immer der Ansicht, dass es besser ist, mit dem Schlimmsten zu rechnen, als sich falschen Hoffnungen hinzugeben. Genaugenommen denke ich auch heute noch so. Seit fast drei Jahren habe ich fast nur kranke und sterbende Menschen kennengelernt. Ich habe den menschlichen Körper immer schon als unzureichend betrachtet, aber erst durch meine eigene Krankheit und die vielen Schicksale, die ich gesehen habe, bin ich zu der Überzeugung gekommen, dass der menschliche Körper nur ein schlechter Witz ist.
Viele gläubige Menschen sehen in ihrem Körper einen Tempel, den sie ehren müssen. Für mich ist der Körper mit seinem Fleisch, seinen Knochen und dem unzulänglichen Hirn ein zwar gut gemeintes, aber leider fehlgeschlagenes Experiment einer leichgültigen Natur. Ich würde viel lieber etwas anderes glauben, aber die Hinfälligkeit und das Siechtum, das ich gesehen habe, machen es mir unmöglich.
Mein negatives Denken war letztlich das Spiegelbild meiner Beobachtungen. Viele Jahre lang habe ich mich damit wohlgefühlt, weil ich von meiner negativen Sicht der Dinge immer enttäuscht wurde. Die Katastrophenszenarien in meinem Kopf haben sich nie zugetragen. Nichts von den schlimmen Dingen ist jemals geschehen. So hat sich in mir die Ansicht gebildet, dass negative Erwartungen positive Ergebnisse hervorbringen. Ich weiß, dass diese Denkweise alles andere ist als rational. Ich neige ein wenig zu einer Art des magischen Denkens, auch wenn ich nicht an Magie, Hexerei und dergleichen glaube. Mich hat einfach die Erfahrung gelehrt, dass nie etwas so schlimm sein kann, wie ich es mir vorstelle.
Ich habe gelernt, dass nichts Schreckliches passiert, wenn man das Beste als Selbstverständlichkeit betrachtet. Das hat nichts mit Selbstgefälligkeit oder Hochmut zu tun. Ich habe mich lange Zeit nicht getraut zu glauben, dass letztlich doch alles gut ausgehen wird. Dass die Unmöglichkeit, auf die Uhr zu blicken, weil man seine Arme nicht anheben kann, nicht von langer Dauer sein wird.
Mit meiner Ergotherapeutin Julia übte ich meine Handkoordination. Sie zeichnete ein paar Punkte auf eine Serviette, und ich sollte diese Punkte mit einer Zeigefingerspitze treffen. Es war anstrengend und mit der Überzeugung verbunden, dass ich das unmöglich schaffen würde. Von den etwa zehn Punkten traf ich vielleicht drei oder vier, dann wurde es mir zu anstrengend. Später versuchte ich, auf einer Computertastatur den Namen Julia zu tippen. Es dauerte eine Ewigkeit. Und ich zweifelte. Es hat keinen Sinn, dachte ich. Es ist vorbei. Ich bin gelähmt, und ich bleibe gelähmt. Diese Spielereien sind vollkommener Schwachsinn.
Während ich dies schreibe, zeigt mein Word Count 1691 Wörter an. Danke, Julia!
Also, wenn auch Sie ein Zweifelmensch mit Guillain-Barré-Syndrom sind, helfen Ihnen meine Erlebnisse vielleicht weiter. Wenn auch nicht körperlich, dann zumindest moralisch. Verlieren Sie den Mut nicht, und wenn Sie gar keinen Mut haben, vertrauen Sie darauf, dass er da sein wird, wenn Sie ihn wirklich brauchen.
Das Vertrauen auf eine bunte Zukunft zieht die Farben an.




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