Samstag, 26. März 2016

Nastrovje mit Früchtetee

Die vergangenn zehn Tage waren sehr ereignisreich und ziemlich anstrengend. 
Ich hatte wieder Physiotherapie mit meinem Therapeuten Wolfgang. Ich bin mehrmals mit dem Gehbock von der Balkontür zur Zimmertür gegangen. Eine Trainingsübung, an die ich mich inzwischen zwar schon gewöhnt habe, die aber noch immer mit viel Unsicherheit verbunden ist. Einer Unsicherheit, die mich schon seit dem Beginn meiner Krankheit begleitet. Mit einem Sturz hat alles angefangen, und dieser Schreck sitzt mir immer noch in den Knochen. Dabei ist es nicht das Stürzen selbst, das mich beunruhigt, sondern die Vorstellung, danach nicht mehr aufstehen zu können.
Nie mehr.
Wer einmal total gelähmt war und nicht wusste, ob das ein Leben lang so bleiben würde, versteht diese Angst sicher gut. Im Laufe der letzten drei Jahre habe ich immer wieder gehört, alles, was geschehe sei doch in meinem Interessen, denn ich wolle ja schließlich wieder gesund werden.
Ja, wollte ich. Wollte ich nicht. Dann wieder doch. Lange Zeit war alles so ungewiss, dass mir der Gedanke, wieder gehen zu können und die Krankheit Guillain-Barré-Syndrom überwunden zu haben, bedrohlicher erschien als die Lähmung. Ich weiß heute selbst nicht mehr, warum das so war, aber damals war mir die Sicherheit des Krankenbettes, das ich nur mit Hilfe eines Hebelifters verlassen konnte, lieber als die Freiheit, gehen zu können, wohin ich wollte.
Erst jetzt, 34 Monate nach dem Ausbruch der Krankheit, beängstigt mich diese Vorstellung nicht mehr. Die Physiotherapie, die Ergotherapie, die Pflege, die medizinischen Untersuchungen, Therapien und Eingriffe, sowie eine Gesprächstherapie haben mir die Sicherheit gegeben, ein freies Leben bei freier Bewegung anzusteuern.
Anders sieht es bei den praktischen Trainingsübungen aus. Zwar gehe ich seit einer Woche zumindest einmal täglich die Strecke von der Balkontür meines Zimmers bis zu Eingangstür, aber der Gedanke daran, drückt schon nach dem Aufwachen meine Stimmung ziemlich runter. Ich weiß zwar, dass das unsinnig ist, weil ich kräftig genug bin, um diese geschätzten sieben Meter zu gehen, aber die gute alte Amygdala, das tierische Stammhirn, sieht das leider anders. Boden + Gehen = Fallen. Gehen und hinfallen sind für das Reptilienhirn noch immer zwei Synonyme für sterben.
Bei jedem Schritt, den ich mache, begleitet mich die Angst zu stürzen. Mein linker Fuß knickt immer leicht nach außen, und meine Muskelkraft ist zwar in den letzten Wochen und Monaten viel größer geworden, aber immer noch zu schwach, um mir ein Gefühl der Sicherheit zu geben. Ich denke mir oft, dass mir nichts passieren würde, wenn ich hinfiele. Erstens falle ich aufgrund meiner Körperfülle auf jeden Fall weich, und zweitens ist ja Wolfgang da, um das Schlimmste zu verhindern und mir zu helfen. Der Gehbock, mit dem ich mich fortbewege, ist zwar wacklig, aber stabil. Wenn ich mich nach vorne beuge, habe ich ein sicheres Gefühl. Bei Bewegungen nach links oder rechts sieht es aber ganz anders aus.
Wir haben vor ein paar Tagen zum ersten Mal den Transfer vom E-Rolli ins Bett gemacht. Auch mit dem Gehbock. Beides war anstrengend, und meine Füße können mich noch immer nicht tragen, ohne dass ich mich festhalten muss. Aber jetzt kann ich endlich alleine ins Bett gehen, obwohl zur Sicherheit immer jemand dabei sein soll. Ich werde nicht auf eigene Faust experimentieren, aber ich bin froh, dass ich es jetzt kann. Auch der Rücktransfer vom Bett in den E-Rolli hat problemlos geklappt.
Den Transfer vom Bett in den Rollstuhl werde ich zwar beibehalten, aber direkt vom Bett aus in den E-Rolli. Ich habe es einmal versucht, aus dem Bett aufzustehen und die paar Schritte bis zum Schreibtisch an der gegenüberliegenden Wand zu gehen, aber das war mir zu unsicher. Ich musste zwischendurch Pausen von etwa einer halben Minute einlegen. Diese Pausen im Stehen waren anstrengender als das Gehen selbst, und darum habe ich mich dazu entschlossen, in der Früh nach der Morgenpflege mich wieder zuerst querbett aufzusetzen, mit dem Gehbock aufzustehen, eine wacklige Drehung nach links zu machen und mich dann in den Rollstuhl zu setzen.
Das funktioniert, ist aber mit sehr großer Unsicherheit verbunden. Ich glaube, diese Angst kommt daher, dass vor drei Jahren mit einem Sturz vor meinem Bett in meinem damaligen Zuhause alles angefangen hat. Die Angst vor dem Fallen ist schlimmer als das Fallen selbst. Und ich mag es nicht besonders, wenn ein Tag mit Angst beginnt. Das wirkt bei mir nach und legt sich erst nach ein paar Stunden.
Insgesamt läuft alles sehr gut, sogar viel besser, als ich jemals gedacht hätte. Vor zweieinhalb Jahren konnte ich nicht einmal querbett sitzen, ohne am Rücken gestützt zu werden. Ich konnte keine Wasserflaschen oder Kaffeebecher heben. Jetzt hebe ich mich selbst in die Höhe und mache ein paar Schritte auf eigenen Beinen. Das alleine ist die Mühe und die Fallangst wert.
Es ist alles sehr ungewohnt und ein bisschen beängstigend für mich. Trotzdem glaube ich, dass es nicht mehr lange dauern wird, bis ich normal werde gehen können. Oder zumindest fast normal. Jedenfalls ohne Gehbock oder anderen Hilfsmitteln. Zuerst werden wir zwar noch Krücken ausprobieren, und Wolfgang hat gesagt, das werde dann wieder eine Phase der Unsicherheit werden, aber ich glaube, ich werde auch das schaffen und die Krücken nicht mehr lange brauchen, wenn ich erst einmal damit gehen kann.
Während ich den letzten Absatz lese, frage ich mich, ob ich da nicht vielleicht ein bisschen zu hoffnungsfroh bin. Das ist eine Art von Optimismus, wie ich ihn schon lange nicht mehr empfunden habe. Allein die Vorstellung, jemals derart zuversichtlich zu sein, war für mich vor nur einem Jahr noch vollkommen undenkbar. Damals habe ich damit gerechnet, den Rest meines Lebens bestenfalls auf Krücken und mit Metallschienen an den Beinen zu verbringen.
Diese Einstellung hat sich drastisch geändert. Insbesondere die klientenzentrierte Gesprächstherapie hat mir dabei sehr geholfen. Einmal pro Woche dieses Ventil zu haben, um Dampf abzulassen, ist ausgesprochen wohltuend. Alleine durch das ausführliche Reden über meine Ängste und Zweifel wurden diese kleiner und sind mittlerweile kaum noch sichtbar. Nicht einmal für mich, der sich all seine Probleme wirklich übergenau ansieht. Mein neuer Optimismus scheint mich voranzubringen, also werde ich ihn beibehalten.
Schief gehen kann alles von allein, aber zu einer positiven Entwicklung muss ich selbst beitragen. Pessimismus und Hoffnungslosigkeit haben mich bisher keinen einzigen Schritt weitergebracht. Optimismus und Zuversicht bringen mich inzwischen von der Balkontür bis zur Zimmertür.
Mir fehlt nur noch das letzte bisschen Mut, um mich wieder als gesunden und gehenden Menschen zu sehen.
Vor sechs Tagen, am 20. 3. 2016, um 18:22 Uhr, habe ich mich zum ersten Mal alleine ins Bett gelegt. Der Verwalter meiner Wohnebene hier bei Assista in Altenhof und eine junge Pflegerin waren zwar dabei, aber ich habe alles selbst geschafft. Zuerst bin ich mit dem E-Rolli zur Wand hinter meinem Bett gefahren, dann mit dem Gehbock aufgestanden, habe eine Drehung nach links gemacht und mich auf das Bett gesetzt. Auch die Beine habe ich selber ins Bett gehoben. Ich war ganz überrascht, wie leicht das war. Wenn ich an die Physiotherapie am Gmundnerberg zurückdenke. Damals habe ich das mit Christina schon ausprobiert, aber ich schaffte es nur mit Müh und Not. Jetzt ist es ganz leicht.
Ich kann zwar noch keinen Can-Can tanzen, aber ein Kazachok im Querbett ist kein Problem mehr. Nastrovje mit Früchtetee.
Es müssen jetzt wirklich nur noch meine Füße mitspielen, dann kann ich auch wieder sicher stehen und gehen. Mein Physiotherapeut Wolfgang hat mich mehrmals gelobt, weil ich bei den Gehübungen den linken Fuß schon besser aufheben kann. Er knickt jetzt auch nicht mehr ein. 
Es ist wirklich unglaublich, wie schnell jetzt alles geht. Das ist für mich immer noch ein bisschen beängstigend, aber nicht mehr so, wie noch vor ein- oder zwei Monaten. Inzwischen gewöhne ich mich schon an den Gedanken, wieder gesund zu sein. Normal gehen zu können.
Nur mit den Füßen klappt es noch nicht. Die sind immer noch fast unbeweglich, und ich kann keine Ausgleichsbewegungen machen, wenn ich frei stehen will. Ich kippe noch immer sofort nach hinten um. Ich glaube zwar, dass sich das bessern wird, aber allmählich werde ich ungeduldig.
Für mich ist es typisch, dass ich jetzt befürchte, dass die Unbeweglichkeit meiner Füße ein bleibender Schaden des Guillain-Barré-Syndroms ist. Meine Fußmuskulatur ist nicht so schwach, dass ich sie gar nicht bewegen kann, aber ich kann die Vorfüße nicht anheben. Dadurch kann ich nicht sicher stehen. Wenn es aber nicht die Muskeln sind, die hier ihren Dienst verweigern, müssen es die Nerven sein.
Der Gedanke, alles, was bisher geschehen ist, so gut überstanden zu haben, aber nie wieder normal gehen zu können, macht mich mehr als nur nervös. Aber auch da ist die Angst nicht mehr so, wie sie noch vor einem Jahr, vor zwei Jahren und zu Beginn meiner Krankheit vor drei Jahren war. Also auch hier tut sich eine Menge.
Angst ist letztlich immer die Befürchtung, einer Situation nicht gewachsen zu sein und sie nicht handhaben zu können. Der Verlust der Kontrolle ist die eigentliche Wurzel jeder Angst. Hilflosigkeit und das Gefühl, auf allen Ebenen versagt zu haben, machen einen Menschen zu einem Schatten, der sich hinter dem Licht versteckt.
Ich spüre in mir fast schon einen richtigen Tatendrang. Ich will auf einmal so viel machen, so viel unternehmen. Ich kann es gar nicht mehr erwarten, über die Straße zum Hauptgebäude zu gehen. Ohne Krücken, einfach so. Per pedes. Auch der Gedanke, dass ich dann nicht weiß, wohin ich sonst in meinem Leben noch gehen soll, erschreckt mich nicht mehr sosehr. Der Weg ist ja da, das wusste ich schon von Anfang an.
Der Weg ist nicht beschwerlich, aber den Mut zu finden, ihn zu begehen, ist es.





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